Salman Rushdie: "Überschreiten Sie diese Grenze!"

Schriften 1992-2002


Gesammelte Kommentare zum Weltgeschehen neben höchstpersönlichen Betrachtungen - zum Teil erstmals auf Deutsch

Um Salman Rushdie ist es stiller geworden; der Schriftsteller selbst hat freilich nichts von seinem Eifer und Engagement verloren, wovon "Überschreiten Sie diese Grenze" unzweifelhaft Zeugnis ablegt. Das Buch spiegelt mit bislang verstreut vorwiegend in us-amerikanischen Zeitungen publizierten Essays und Kolumnen sowie abgedruckten Reden ein Stück Zeitgeschichte, nämlich die auf der weltpolitischen Bühne und für Rushdie persönlich ereignisreichen Jahre 1992 bis 2002.

Der am 19. Juni 1947 in Bombay geborene Rushdie studierte in Cambridge Geschichte. Seine erste Buchveröffentlichung war der Roman "Grimus" (1975), und bereits sein zweites Werk, "Midnight's Children" (1981; dt. "Mitternachtskinder"), ausgezeichnet mit dem "Booker Prize", brachte ihm leseweltweite Anerkennung. Die Lesergemeinde schätzt Rushdies magischen Realismus wie auch seinen Schreibstil, der Einflüsse mündlicher Erzähltraditionen aufweist.
Am 14. Februar 1989 rief der iranische Religionsführer Ayatollah Khomeini die muslimischen Gläubigen dazu auf, Salman Rushdie (sowie alle, die mit dieser Veröffentlichung zu tun haben) umzubringen und setzte ein Kopfgeld aus. Der Grund für das Fatwa (islamisches Rechtsgutachten) war Rushdies als die religiösen Gefühle zutiefst verletzend empfundener Roman "Die satanischen Verse".
Für Salman Rushdie bedeutete dies nach seiner seitens des Ayatollah Khomeini abgelehnten Entschuldigung, fortan zehn Jahre lang weitgehend "im Untergrund" zu leben, Polizeischutz sowie häufige Wechsel der Aufenthaltsorte. Gelegentliche Überraschungsauftritte in der Öffentlichkeit ließ er sich freilich nicht nehmen. In "Überschreiten Sie diese Grenze!" schildert Rushdie in erschütternden Worten die Erfahrungen jener Jahre und äußert sich u.a. zum nicht immer nachvollziehbaren Verhältnis von Kultur und Politik/Politikern.
Information aus einer Anfragebeantwortung des Schweizer Bundesrates vom 25.08.1999: "Im September 1998 hat die iranische Regierung öffentlich erklärt, dass sie nicht die Absicht habe, das Leben von Salman Rushdie oder anderer Personen in seinem Umfeld zu bedrohen, und dass sie keinerlei entsprechende Maßnahmen ergreifen werden. Die Sicherheit des Schriftstellers erscheint allerdings nicht gewährleistet, da die politisch-religiöse Stiftung des '15. Chordad' das Kopfgeld im Nachgang zur Erklärung der iranischen Regierung von 2,5 auf 2,8 Millionen US-Dollar erhöht hat und die Fatwa von Ajatollah Khomeini als solche nicht widerrufen werden kann."
Kein singuläres Ereignis! Die Schriftstellerin und Ärztin Taslima Nasrin, die in ihren Werken feministische sowie religionskritische Töne anschlägt, lebt aufgrund eines wegen ihres Romans "Lajja" (dt. "Schande") verhängten Fatwa seit 1994 im Exil. Und auch Nagib Machfus wurde 1989 mit einem Fatwa belegt.

"Ich habe mein Leben lang Grenzen überschritten - physische, soziale, künstlerische Grenzen." (Salman Rushdie)

In "Überschreiten Sie diese Grenze!" (etwa ein kategorischer Imperativ?) äußert sich Rushdie zu politischen und gesellschaftlichen Themen, wobei die Globalisierungsproblematik selbstverständlich ebensowenig fehlt wie Abhandlungen zum 11. September 2001 und den Folgen.
Es geht um das Überschreiten innerer wie äußerer Grenzen: Rushdie plädiert für einen respektvollen Umgang mit anderen Kulturen, Wahrung der Menschenrechte, Toleranz, Solidarität mit den Unterdrückten sowie unbeirrbaren Einsatz für Freiheiten (Pressefreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung, der Rede, der Gedanken, ...) - nicht als Lippenbekenntnis. Sein Schreiben richtet sich gegen Bigotterie und Heuchelei in jedweder Erscheinungsform.
Thematisiert werden weiters der Widerstand gegen religiöse und politische Fanatiker, patriotische Eiferer, Vorurteile, die Stellung und Bedeutung der Kunst (insbesondere der Literatur) sowie die Bausteine und Bezugssysteme des momentanen Weltgefüges und deren Sollbruchstellen (z.B. soziale Ungerechtigkeiten). Auch Pop- und Trivialkultur sowie deren Produkte und Medien müssen Federn lassen, und hierbei ist keineswegs von Straußenzucht die Rede.
Rushdie: "Berühmt und reich sind heute die beiden wichtigsten Begriffe des westlichen Weges, ihre Anziehungskraft ist so groß, dass ethische Fragen schlichtweg ausgelöscht werden." Neben autobiografischen Skizzen finden sich auch Texte, welche indische Politik und Politiker sowie Literatur zum Thema haben, wobei Rushdies Artikel durchaus als Korrektiv zum in zahlreichen Romanen indischstämmiger Autoren kolportierten Indienbild zu lesen sind. Gegen den Nobelpreisträger V.S. Naipaul erhebt Rushdie gelegentlich die Feder (natürlich nur auf dem Papier), wohingegen er Arthur Miller, dem us-amerikanischen Dramatiker, besondere Wertschätzung entgegenbringt.

Rushdie, übrigens bekennender Liebhaber des Filmes "The Wizard of Oz" (dt. "Der Zauberer von Oz"), über den er sogar ein schmales Buch veröffentlichte: "Wenn wir uns die Überfülle des neuen, neuzeitlichen Wissens, mit dem wir es zu tun haben, als einen Tornado denken, dann ist Oz die seltsame, neue Technicolorwelt, in der uns dieser Tornado schließlich absetzt - ein Land, aus dem es, weil das Leben eben kein Spielfilm ist, keinen Weg zurück gibt. Oder in den unvergesslichen Worten, die die kleine Dorothy Gale in 'Der Zauberer von Oz' ihrem Hund zuflüstert: 'Toto, irgendwas sagt mir, dass wir nicht mehr in Kansas sind.' Man kann nur hinzufügen: Gott sei Dank, Baby, und Amen."

Man nehme je eine couragierte Prise grotesken Humor, Fantasie, Philosophie und Kritik, füge nach eigenem Ermessen bisweilen pointierte Schlussfolgerungen hinzu und schmecke mit einer Messerspitze Provokation ab - fertig ist ein Sammelband, der auch Rushdie-Neulingen eine geballte Ladung reizvolles Lesevergnügen mit mancherlei Anregungen garantiert!
In Abwandlung eines allseits wohlbekannten Zitates: Wovon man schreiben kann, darüber muss man nicht schweigen!

(Franka Reineke; 12/2004)


Salman Rushdie: "Überschreiten Sie diese Grenze!"
(Originaltitel "Step Across This Line")
Deutsch von Barbara Heller, Rudolf Hermstein, Gisela Stege.
Rowohlt, 2004. 576 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:

Peter Priskil: "Salman Rushdie. Portrait eines Dichters"

1989, in dem Jahr, in welchem Khomeini zur Ermordung Salman Rushdies aufrief, veröffentlichte der Ahriman-Verlag eine deutschsprachige Untersuchung über den vom Islam gejagten, vom Westen verratenen Dichter. Peter Priskil stellt in seiner literaturwissenschaftlichen Analyse heraus, warum Rushdie von religiösen Fanatikern mit dem Tod bedroht wird. Die Studie belegt, dass mit der Verfolgung des Dichters die letzten Überreste der Französischen Revolution liquidiert und altbekannte Zustände eingeführt werden sollen: die Zeit der Ketzerprozesse und Scheiterhaufen, das klassische Mittelalter, in der die Religion das Sagen hat und auf Vernunftgebrauch die Todesstrafe steht.
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