Dace Rukšāne: "Warum hast Du geweint"


Ein Monat konzentriertes Paradies

Kennen Sie Dace Rukšāne? Zugegebenermaßen, ich kannte die 1969 in Riga geborene Schriftstellerin bis vor kurzem auch noch nicht. Mit ihrem dritten Buch, welches erstmals auf Deutsch erschienen ist, dürfte sie bald in aller Munde sein.
Der Titel des Buches "Warum hast du geweint" hört sich nach tränenreichem Schmöker an. Und wenn man weiß, dass Dace Rukšāne Chefredakteurin der lettischen Frauenzeitschrift "lilit" ist, verstärkt sich das Vorurteil geradezu.
Doch mitnichten, Rukšāne setzt einen anderen Akzent. In einer wundervollen Sprache (in diesem Buch stellt man nicht einfach Blumen ans Fenster, nein, "der Frühling tupft hübsche Hyazinthentopfreihen auf sämtliche Fensterbänke" oder lässt den Winter ein "zyklamenhaftes Geheimnis" sein) erzählt sie uns vom Erwachsenwerden im Lettland der Wendezeit.

Das Buch beginnt mit einem Aufenthalt im Flughafengebäude Moskau Scheremetjewo, wo die 16jährige Ich-Erzählerin Katrīna (ein Vorstadtmädel aus dem Riga der achtziger Jahre) gemeinsam mit einer Freundin auf einen Anschlussflug nach Nordossetien wartet.
Nordossetien?
Genau - Kaukasusrepublik.
Die zwei Mädchen werden für einen Monat der Enge des Elternhauses entfliehen und eine sommerliche Alpinisten-Reise in die Bergwelt der Fünftausender des Kaukasus unternehmen. "Ein Monat konzentriertes Paradies", im Gegensatz zu "elf Monaten verdünnter Existenz", nennt Katrīna diese Zeit.

Dort trifft sie - die "auf Schulfeten kein einziger Junge zum Tanzen auffordert" und die sich das Geld für die Reise beim Schweineentlausen verdient hat - u. a. auf Sergej (den Komponisten aus Leningrad, der so wunderbar Gitarre spielen kann und den Klang der lettischen Sprache mag), auf Wlad (einen sibirischen Rabauken, dessen "Pusteblümchen, zart aber mit tiefen Wurzeln" sie ist) und auf Oleg, den zweiten Instruktor (Bergführer) der Alpinistengruppe. Mit ihm erlebt sie - liebevoll Krümelchen von ihm genannt - ihre erste große Liebe sowie wunderbare, aber auch gefahrvolle Gipfelbesteigungen in landschaftlich traumhafter Kulisse.
"Niemals-werde-ich-dir-weh-tun", verspricht ihr Oleg (verheiratet mit Kind - was sie jedoch noch nicht weiß), und doch wird ihr weiterer Lebensweg, beginnend mit dem Tag der Heimreise, körperlich und vor allem seelisch sehr schmerzhaft sein.

Ihr Geld wird gestohlen, sie muss sich allein nach Hause - im wahrsten Sinne des Wortes - kämpfen, erkrankt an einer schweren Lungenentzündung, und innerhalb kurzer Zeit sterben zwei ihrer Bergfreunde.
Erschütternd unschuldig beschreibt Katrīna einen Abstecher in die verseuchte sibirische Industriestadt Kemerovo. Hinzu kommt der politische Umbruch in Lettland, die Sowjetunion zerfällt. Dann lassen sich auch noch ihre Eltern scheiden, und ihre Mutter begeht Selbstmord.

"Tausende ungesagter Worte" - Schuldgefühle - lasten auf ihr. Katrīna verfällt in eine schwere Depression, ist desorientiert und antriebslos. Aus dem vormals so unbedarften Mädchen wird eine junge Frau, die lernen muss, ihren eigenen Lebensweg zu gehen.
Das Ende hat Dace Rukšā bewusst offen gelassen. Der Leser wird aufgefordert, Katrīnas Lebensfaden zu Ende zu spinnen.

Kern des ersten Romanteils ist der Monat im Kaukasus. Wechselnd in den Zeiten springt Katrīna einmal in die Vergangenheit und dann gleich wieder in die Zukunft, erzählt einmal persönlich, um manchmal in die dritte Person zu verfallen. Dies ist jedoch keineswegs unübersichtlich und verwirrend, da der rote Faden nie verloren geht.
Ein wundervoller subtiler Humor steckt zwischen den Zeilen, auch wenn ab und zu von traurigen Ereignissen berichtet wird. Doch die (noch) kindliche Unbedarftheit überdeckt dies alles. Humorvoll grotesk, wie sie am Flughafen ein Glas Fanta für den Geschmack echter Apfelsinen ("zudem mit Sprudel") hält und für das sich anzustehen natürlich zehnmal mehr lohnt, als für irgendeine berühmt-berüchtigte Mumie, die sich da Lenin nennt.

Gleichzeit verwebt Rukšā ne romantische Erlebnisse ihrer Heldin mit einer so wundervollen blumigen Poesie, dass es einen zu Tränen rührt. Selten habe ich eine so schöne und romantische Liebesszene wie die erste Liebesnacht Katrīnas mit Oleg gelesen, fernab jeglichen Kitsches.

Stilistisch erinnert mich "Warum hast du geweint" an Saša Stanišićs "Wie der Soldat das Grammofon repariert". Auch hier wird mit einem unschuldigen (Kindheits-)Blick auf die Geschehnisse deren Dramatik geradezu hervorgehoben.

Der zweite Teil des Buches lässt jedoch die romantischen Erlebnisse der Sechzehnjährigen hinter sich. Qualvoller Liebeskummer und eine tiefe Leere bemächtigen sich ihrer. Dies verdeutlicht sich auch im Schreibstil. Wesentlich nüchterner, fast abgehackt berichtet Katrīna. Kurze Sequenzen wechseln, nur manchmal flackern schöne Kindheitserinnerungen gemeinsam mit ihrer Schwester auf und münden am Ende in einen schwermütigen Monolog, der eine desorientierte Gefühlswelt offenbart.

Fazit:
Ein wundervolles, leises, unaufdringlich eindringliches Buch hat diese bei uns bisher völlig unbekannte lettische Autorin geschrieben. Aussagekräftig aquarelliert sie ein Bild der alten Sowjetunion, malt es in warmen Farbtönen und tupft einen kleinen gewundenen Pfad Kindheitserinnerungen sowie einen "leuchtenden Elbrus" der ersten Liebe hinein, um am Ende daraus einen in dunklen Farben gehaltenen "Picasso ihrer eigenen Welt" zu machen - ein kleines Meisterwerk.

Hervorzuheben ist die großartige und sehr erfrischende Übersetzung aus dem Lettischen von Matthias Knoll, der die wunderbare Leichtigkeit des Textes voll zur Geltung bringt.

Für mich die Neuentdeckung im Frühjahr 2007.
"Es gibt Bücher, die in ihrer Wahrheit so beeindruckend sind, dass man nach ihrer Lektüre nichts anderes möchte, als einfach allein sein und still weinen, ohne sich zu schämen."
Ich wünsche dieser jungen lettischen Schriftstellerin noch viele begeisterte Leser.

(Heike Geilen; 07/2007)


Dace Rukšāne: "Warum hast du geweint"
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll.
Ammann Verlag, 2007. 256 Seiten.
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Dace Rukšāne, geboren 1969, gilt als Femme terrible und Paradiesvogel der neuen lettischen Literatur. Die Tochter eines Blumenzüchters und Urenkelin A. Pumpurs, Verfasser des lettischen Nationalepos "Bärenreißer", studierte zunächst Biologie und Medizin, bevor sie Mitte der 1990er Jahre als Werbetexterin, Drehbuchautorin und Kolumnistin zu arbeiten begann. Die unverblümten Szenen ihres Debütromans bescherten Lettland den ersten veritablen Literaturskandal nach der Unabhängigkeit.