Anna Ruchat: "Die beiden Türen der Welt"
Vier behutsam verfasste Erzählungen
um zwischenmenschliche Beziehungen im Angesicht des Todes
Marta ist
zutiefst erleichtert, als sie von ihrer Schwangerschaft erfährt. Kurz vor der
Geburt bemerkt der Gynäkologe, dass das Kind aufgrund eines Herzfehlers
außerhalb des Mutterleibs nicht überleben kann. Marta erlebt Tage einer
entsetzlichen, innigen Zweisamkeit mit dem todgeweihten Fötus - und muss bei der
Geburt feststellen, dass ihr das eigene Leben wesentlich näher steht als das des
Kindes.
Die zweite Erzählung enthält mehrere Episoden, in denen junge
Menschen gezwungen sind, sich mit dem Tod eines Bekannten oder Freundes und
rückblickend auch mit seiner Persönlichkeit auseinander zu setzen und ihre
eigene Rolle in der Vergangenheit des jeweiligen Toten kritisch zu
reflektieren.
In einer weiteren Erzählung verabreden sich die Ehefrau und
die Geliebte eines jüngst verstorbenen Mannes und versuchen, sich gemeinsam ein
Bild von ihm zu machen, um mit ihrer Trauer abzuschließen. Es zeigt sich jedoch,
dass dies nicht gelingen kann: Fast möchte man meinen, es sei von zwei Männern
die Rede, so sehr unterscheiden sich die Blickwinkel.
In der letzten
Erzählung schließlich geht es um eine Frau, die schon in ihrem Leben
gewissermaßen tot zu sein scheint, ungeliebt, missachtet und wohl selbst unfähig
zur Liebe bis auf eine Ausnahme, die aber nicht zur Erfüllung führt.
Wie dieser kurze Abriss zeigt, zieht sich
der
Tod in der Art eines Leitmotivs durch die Erzählungen in "Die beiden Türen
der Welt", jedoch nie als Ende oder Schluss, sondern eher als ein Anfang, ein
Anstoß für die Protagonisten, ihre Beziehungen zu den ihnen mehr oder weniger
vertrauten Verstorbenen aufzuarbeiten oder überhaupt wieder eine Beziehung zu
ihnen herzustellen. Der Tod selbst wird nicht als schreckliches Ereignis, sondern
als unmittelbarer Bestandteil des Lebens betrachtet, eine Tür, die den Verstorbenen
von uns wegführt, die uns der Erinnerung überlässt und einigermaßen objektive
Betrachtungen ermöglicht.
Anna Ruchat schreibt aus der Position einer unsichtbaren,
geradezu sachlich-kühlen, reservierten und doch ausgesprochen präsenten
Beobachterin; sie skizziert die Protagonisten nur und überlässt es dem Leser,
sich die Charaktere und ihre tiefen, oft sehr widersprüchlichen Gefühle anhand
der Rückblenden und stillen Überlegungen zu erschließen und vielleicht, auch
unwillkürlich, Parallelen zu eigenen Erfahrungen zu finden. Diese Zurückhaltung,
ebenso wie die Sparsamkeit von Sprache und aktiver Handlung, lässt die
Erzählungen, die an zarte Aquarelle erinnern, jedoch lange im Leser
nachklingen.
Die Themen, Liebe, Verbundenheit und Tod vor allem, sind
wesentlich für uns Menschen und werden gern literarisch verarbeitet. Selten aber
erzeugen Erzählungen dieser Art eine ähnlich anhaltende Resonanz beim Leser wie
Anna Ruchats fein komponierte, gelassene Lebensbilder.
Der sehr attraktiv
aufgemachte kleine Band eignet sich auch ganz vorzüglich als Geschenk,
vorausgesetzt, der Beschenkte lässt sich vom allgegenwärtigen Tod nicht
schrecken.
(Regina Károlyi; 05/2006)
Anna Ruchat: "Die beiden Türen der
Welt"
(Originaltitel "In questa vita")
Aus dem Italienischen von
Franziska Kristen.
Rotpunktverlag, 2006. 107 Seiten.
Buch bei amazon.de
bestellen
Anna Ruchat, geboren 1959 in Zürich, aufgewachsen im Tessin und in Rom, studierte Philosophie und deutsche Literatur. Sie unterrichtet an der europäischen Übersetzerschule in Mailand und übersetzte unter anderem Thomas Bernhard, Paul Celan, Nelly Sachs, Friedrich Dürrenmatt und Victor Klemperer ins Italienische.