Santiago Roncagliolo: "Vorsicht"


"Vorsicht" ist Santiago Roncagliolos zweiter Roman. Für seinen im deutschen Sprachraum bisher unveröffentlichten Erstling "Abril rojo"hat der 1975 in Peru geborene und heute in Barcelona lebende Autor im Jahr 2006 in Spanien den hoch dotierten "Premio Alfaguara de Novela" erhalten.

"Vorsicht" spielt in einer nicht genannten peruanischen Stadt. Die Protagonisten, allesamt Mitglieder einer großen Familie
, gehören zur oberen Mittelschicht. Es geht ihnen wirtschaftlich hervorragend und ihre Probleme und Konflikte, um die es in diesem Buch hauptsächlich geht, könnten auch in anderswo gelegenen Städten auftreten.

Die Probleme der einzelnen Mitglieder der Familie Ramos drehen sich hauptsächlich um Sex, versäumten, fantasierten und manchmal auch praktizierten. Lediglich die eben verstorbene Großmutter ist daran nicht mehr beteiligt, hat aber gerade durch ihr Ableben den Großvater, Opapa genannt, dazu verleitet, wieder auf Freiersfüßen zu wandeln. Opapa findet in einem Altersheim eine Frau namens Doris so begehrenswert, dass er sich gegen den Willen seiner Familie dort einquartiert und seinen Platz dort auch gegen erhebliche Widerstände der Heimleitung verteidigt. Dass Doris nicht spricht und seine Eroberungsversuche eher teilnahmslos über sich ergehen lässt, stört den Großvater nicht.

Der Vater der Familie, Alfredo, erfährt zu Beginn des Buches, dass er, krebskrank, gerade noch sechs Monate zu leben hat, möchte sich gerne jemandem mitteilen, aber in der Familie ist dauernd etwas Anderes los: Der Sohn sieht Gespenster, die Tochter pubertiert, und der Kater ist dauerrollig.
So versucht er seine Sekretärin Gloria ins Vertrauen zu ziehen, doch auch hier endet alles in einem grandiosen Missverständnis. Nach anfänglicher Unsicherheit über das veränderte Verhalten ihres Chefs wirft sie sich ihm regelrecht an die Brust und, sie landen im Bett, in dem Alfredo aber klein und ungeschwollen bleibt. Er ist frustriert ob dieser Blamage, doch Gloria macht seine Impotenz nichts aus; sie will eine Beziehung mit ihm und ist auf das Tiefste beleidigt, als Alfredo sie abweist, indem er behauptet, seine Ehe retten zu wollen.

Gloria, zu Tode gekränkt, rächt sich, indem sie Alfredos Frau Lucy anruft und ihr alles brühwarm erzählt. Lucy konfrontiert Alfredo beim Abendbrot im Beisein der Kinder mit seinem Fehltritt (es ist übrigens nicht sein erster; mit seiner Nachbarin hatte er jahrelang ein Verhältnis, bevor diese ihre Ehe retten wollte). Zunächst geschockt, kontert Alfredo mit einem Wissen, das er eigentlich noch etwas für sich behalten wollte. In der Handtasche seiner Frau hat er zahlreiche mit erotischen Texten und schlüpfrigen Anmerkungen versehene Zettel gefunden, die offensichtlich an seine Frau gerichtet waren.

Tatsächlich besteht ein Teil des Buches darin zu schildern, wie Lucy den Anweisungen dieser Zettel folgt und sich mehrfach exhibitioniert. Für den Leser erstaunlich, trifft sie den Autor dieser Zettel nie. Sie selbst aber ist jedes Mal auf das Höchste erregt, wenn sie den Anweisungen folgt.

Doch nun, beim Ehestreit am Küchentisch, stellt sich heraus, dass Lucy all diese Zettel offenbar selbst geschrieben hat, wohl um ihrem müde gewordenen Sexualleben etwas prickelnden Auftrieb zu geben. Alfredo und Lucy versöhnen sich oberflächlich, einigen sich auf sechs Monate Bewährungsfrist für ihre Ehe, und beide sind so unglücklich und frustiert wie vorher. Es gibt keine wirklich befriedigende und lustvolle Sexualität und kein Teilen von Gefühlen. Alfredo bleibt mit seiner Todesangst allein, er wird niemandem erzählen, dass er sterben muss, bevor man es nicht mehr übersehen können wird.
Dass auch Tochter Mariana schon früh in die sexualtheoretischen und -praktischen Fußstapfen ihrer Eltern tritt, ist da schon fast zwangsläufig. Und die Gespenster Sergios stellen sich als Menschen heraus, die er beim Sex beobachtet.
Der hauseigene Kater entgeht nach blutigem Kampf mit dem Tierarzt seiner Kastration und hat im Roman das letzte Wort.

"Vorsicht" ist ein skurriler Roman, dessen Botschaft mir unklar geblieben ist. Er ist voller Schilderungen von nichtgelungener Kommunikation, und auch der Sex geht jedes Mal, wenn auch knapp, daneben.
Sicher, so wie Roncagliolo seine Figuren schildert, wachsen sie einem beim Lesen durch all ihre Unfähigkeiten fast ans Herz. Doch nicht selten bleibt einem das herzhafte Lachen bitter in der Kehle stecken, denn das Leben dieser Menschen ist traurig, todtraurig.
Einzig der debile Großvater und der Kater wissen wirklich für sich zu sorgen.

Nach diesem Einstand Roncagliolos im deutschen Sprachraum wäre jenes Buch interessant zu lesen, für das der Autor den mit 148.000 EUR (!) dotierten Literaturpreis erhalten hat. Es thematisiert die Gewalt und die Leiden, welche die Terrororganisation Leuchtender Pfad (Sendero Luminoso) in Peru verursacht hat.

(Winfried Stanzick; 03/2006)


Santiago Roncagliolo: "Vorsicht"
(Originaltitel "Pudor")
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar.
Claassen, 2006. 184 Seiten.
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