Olivier Rolin: "Die Papiertiger von Paris"
Irrfahrt ums rote Paris
"Du hast immer noch gute Reflexe. Sie stammen aus der Zeit, als du auf vereisten Straßen einen gestohlenen Mercedes fuhrst, mit einem kleinen, aus dem Blech ausgeschnittenen Rechteck hinter der Armlehne, damit ihr euch mit eurem Gefangenen im Kofferraum verständigen konntet, einem Abgeordneten, der zur Vichy Miliz gehört hatte, wie hieß er noch, dieses Schwein? Dir scheint, er hatte einen Kardinalsnamen."
Das ist der Roman zweier junger Männer, die glauben, die Geschichte habe sie auserwählt, und feststellen müssen, dass diese Besseres zu tun hat, als sich mit spätpubertierenden Pariser Intellektuellen zu befassen, die gerne Arbeiter wären und zuviel Mao und Karl May gelesen haben.
Eine Feier zu Beginn des neuen Jahrtausends, lauter ehemalige Genossen von Martin, lauter Leute, die damals wie er der maoistischen Splittergruppe "La Cause" angehörten. In dem Kreis der Fünzig- und Sechzigjährigen fällt eine junge Frau auf, Anfang Zwanzig, die eigentlich nicht dazu gehört.
Doch sie spricht Martin an. Sie will von ihm wissen, wie es damals war, Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger, als Martin zusammen mit Treize im Untergrund den bewaffneten Kampf aus Vietnam nach Paris importieren wollte. Denn Treize war Martins bester Freund und Vater der jungen Frau. Er starb, als sie vier war. "Wer war mein Vater?", will sie von Martin wissen.
Und Martin reist zurück in die Zeit, als er illegal voller Gewissheit der guten Sache des Steuermanns Mao diente, mit Sprengstoff und Flugblättern, mit der Entführung von ehemaligen Nazi-Kollaborateuren und arbeiterfeindlichen Managern. Er reist zurück, während er der Tochter davon erzählt, denn du kannst es nicht verstehen, sagt er ihr, wie dein Vater war, wenn du nicht die ganze Zeit verstehst. Und während sie zurückreisen, fährt Martin mit seinem Citroen DS, genannt "Raumschiff Remember" auf der Autobahn um Paris herum.
Die Absurditäten wie die Gemeinheiten der maoistischen Szene fallen ihm ein, die Hoffnung der Jugend, dass alles besser werden würde, ihr Leben eine Bedeutung hätte, sie auf der richtigen Seite standen, nicht auf der der "Pigs", die Vietnam verwüsteten und von der Ausbeutung der dritten Welt lebten.
Martin versucht seiner Zuhörerin die Zeit verständlich zu machen, es gelingt ihm teilweise und teilweise nicht. Dass es nicht völlig gelingen kann, folgt aus der Sache. Denn Martin erzählt von denen, die in den Untergrund abtauchten, die "schafft ein, zwei, drei viele Vietnams" verwirklichen wollten, und das war eine ganz eigene Szene. So verwundert es weiter nicht, dass vieles, was seinen Altersgenossen so wichtig schien, sie prägte, im Roman überhaupt nicht oder nur als Nebenbemerkung vorkommt. Der Prager Frühling, der Dubček unter Jugendlichen zu einer Beliebtheit verhalf, der sich kaum ein anderer Politiker rühmen konnte; der Einmarsch der Russen, der die französische KP spaltete und in Italien den Eurokommunismus schuf; die radikale Kehrtwendung der Musik von Klassik und Schlager zur verpönten "Dschungelmusik" a la Beatles, Stones und wie sie alle hießen, all dies sucht der Leser vergebens. Selbst der Pariser Mai von 68 wird nur kurz gestreift.
Doch der Ernst der Bewegung, die sich selbst einem rigiden Moralkodex unterwarf, was man dachte, sagte, war genormt, was man tat auch, und in hundert politischen Zirkeln blühten nicht hundert Blumen, sondern die eiserne Disziplin und der Kadavergehorsam Ignaz von Loyolas. Die Verachtung der Intellektuellen, obwohl sie alle Intellektuelle waren; die Begeisterung für die proletarische Revolution, obwohl sich kaum ein Proletarier unter ihnen befand; da hat das Buch seine Stärken, gräbt aus, was längst vergessen ist, was die damaligen Kapitäne des Klassenkampfes, heute Leiter von Redaktionen, Büros und großer Firmen längst nicht mehr wahrhaben wollen, weil es ihren Traum von der glorreichen Jugend stört.
Und Geschichten und Histörchen aus dem Untergrund. Erstaunlich wie abgeschieden von den Ereignissen diese Maoisten im Untergrund waren, keine Fische im Wasser, wie Mao schrieb, sondern im Sandkasten eingesperrt, isoliert. Der Du-Erzähler erzählt, räsoniert, erinnert sich an die Resistance, die wirkliche historische Bedeutung hatte, deren Mitglieder real gefoltert wurden und ihr Leben riskierten, während die Genossen von 68, vom Klassenfeind ins Gefängnis geworfen, eine Rechtsanwältin sprechen durften und sich, wieder freigelassen, im Glorienschein des Märtyrers sonnten. Alle Dinge passieren zweimal, einmal als Drama, das zweite Mal als Farce, doch dieses Marx-Zitat kam in den maoistischen Schulungsheften natürlich nicht vor.
Schon diese Konstellation zeigt, dass das Buch nicht ganz einfach ist, sondern vielfach verschlungen. Zum einen ist es konsequent in der "Du" Perspektive geschrieben, dann tauchen immer wieder im Scheinwerferlicht Hinweisschilder auf, über fünf Zeilen und mehr, mit denen der Nicht-Pariser wenig anzufangen weiß, und die Zeitebenen wechseln auch ununterbrochen, zwischen 68, 2000, dem Zweiten Weltkrieg, dem neunzehnten Jahrhundert, und das Buch enthält mehr Anspielungen als die rote Maobibel Sprüche. Kein einfaches Buch, keines, das man herunterschlingen kann, vielleicht eines, das jemand, der 68 nicht erlebt hat, keine umfassenden Literaturkenntnisse hat, nur schwer verstehen kann. Allein der Titel spielt gleich auf zweierlei an, auf Maos "die Imperialisten sind Papiertiger" und Simone de Beauvoirs berühmte Abrechnung mit den kommunistischen Intellektuellen Ende der Vierziger Jahre in "Die Mandarine von Paris".
Trotzdem ein wichtiges Buch. Denn ehrlich, welcher Roman hat es bisher ernsthaft gewagt, sich mit dieser Zeit auseinander zu setzen, die entweder im rosigen Licht der glorreichen Vergangenheit den heute Fünfzig- Sechzigjährigen erglüht, oder aber ebenso glorreich verdammt wird als der Anfang des Verfalls. Tatsächlich hat vieles, das heute selbstverständlich ist, im Jahr 68 seine Wurzeln: Ohne den 68er Neomarxismus gäbe es keinen Neoliberalismus, ohne die internationale Solidarität keine Globalisierung, ohne den Schlachtruf "Das Private ist Politisch" keine Talkshows.
Oliver Rolin wurde 1947 in Boulogne-Billancourt geboren, trat 1967 der maoistischen "Nouvelle Resistance Populaire" bei. 1978 wurde er Lektor, später Herausgeber des Pariser Verlags "Editions du Seuil".
(Hans Peter Roentgen; 06/2004)
Olivier Rolin: "Die
Papiertiger von Paris"
Karl Blessing Verlag 2003
aus dem Französischen
von Sabine Herting
ISBN 3-89667-236-3
Gebunden, 252 Seiten,
ca. EUR 20,00.
Buch bestellen
Ergänzende Buchempfehlung:
Simone de Beauvoir: "Die Mandarins von Paris"
Mit diesem Werk, dem die höchste literarische Auszeichnung Frankreichs, der Prix
Goncourt, zugesprochen wurde, schrieb Simone de Beauvoir den Schlüsselroman der
französischen Links-Intellektuellen. Er ist zugleich politisches Tagebuch und
faszinierender Frauenroman, der private Schicksale und Zeitgeschichte in
konfliktreiche Beziehungen setzt, Chronik des Verfalls einer engagierten
Intellektuellenschicht, die sich nach ihrem Widerstandskampf unter Einsatz des
persönlichen Lebens nun nicht mehr gefordert fühlt
Buch bestellen