David Robinson: "Chaplin"

Sein Leben, seine Kunst


David Robinsons "Chaplin. Sein Leben, seine Kunst" ist wahrscheinlich die beste und umfassendste Biografie des begnadeten Komikers und durchleuchtet das Leben des Tramps bzw. seines Schöpfers auf das Genaueste.

Das Buch beinhaltet nicht nur eine genaue Karte von London, wo Charlie seine Jugend verbrachte, sondern auch interessante Details zu seinen Familienverhältnissen, die alles Andere als die besten Voraussetzungen zu einer steilen Karriere waren. Der spätere Schauspieler wuchs unter sehr bescheidenen Verhältnissen bei seiner Mutter und seinen Geschwistern auf. Interessant zu wissen ist es, dass der Hang zur Kunst bei den Chaplins in der Familie zu liegen schien, denn sein Vater, der ebenfalls den Namen Charles trug, zog seinerzeit als kabarettistischer Sänger durch England.
Jedoch drückte er sich vor der Verantwortung und lebte nicht nur getrennt von Chaplins Mutter, sondern auch von Charlie selbst. Das Verwunderliche daran ist, dass er, trotzdem er getrennt von Charles' Mutter lebte, nur ein paar Straßen weiter wohnte, dennoch sah der spätere Star seinen Vater kaum.
Eine Sache freilich, nämlich den genauen Blick für Schuhwerk, schien der kleine Charlie von Vater (und Großvater, beide übten sie das überaus ehrbare Schusterhandwerk aus) doch geerbt zu haben, denn unzweifelhaft gehören neben Melone und Spazierstock auch die berühmten, viel zu großen und vielerfahrenen Schuhe (und der durch diese verursachte unverwechselbar anmutige Watschelgang) zu den Markenzeichen des Tramps.

Im Übrigen erfährt man eine ganze Fülle anderer interessanter Details über Chaplins Jugend und Familie und bekommt eine genaue Schilderung von Charles' Karriereverlauf, heitere bis skurrile Anekdoten aus allen Lebensaltern des Künstlers sowie natürlich auch eine fundierte Filmografie.

Besonders interessant für mich war, was seine Filme anging, auf jeden Fall sein frühes Tonfilm-Meisterwerk "The Great Dictator" (aus dem Jahre 1940). Man kann zu diesem einzigartigen Film viele Zeitungsberichte nachlesen, ebenso wie die damaligen Reaktionen und Nachbeben, die diesen Film bis heute für alle Chaplin-Fans unvergesslich machen. Hätte er gewusst, wie grauenerregend die furchtbaren Taten der Nazis wirklich waren, wäre er wohl niemals in die Rolle des "Führers" geschlüpft, gestand er einem Journalisten Jahre danach.

Was viele auch nicht wissen werden, ist, dass der große Publikumsliebling, den doch alle anscheinend sogleich in ihr Herz schlossen und der bis heute noch die Ikone des Stummfilms ist, vom "FBI" jahrelang beschattet und verdächtigt wurde, was seine politische Gesinnung anging.

Jahrzehntelang führte das "FBI" Akten über den Ausnahmekünstler. Staatlicherseits wurde seine linke Gesinnung offensichtlich als große Bedrohung empfunden. Seine Filme waren nicht allen recht, ganz besonders, wenn darin kleine, aber umso feinere politische und gesellschaftliche Seitenhiebe versteckt waren. Es gibt auch einige Vermutungen dazu, wie der Tramp auf die Leinwand kam (eine Rolle, die sich Chaplin zweifellos auf den Leib geschrieben hat), und ausführliche Interpretationen zu dieser längst klassisch gewordenen Figur, diesem Archetypus des vagabundierenden Überlebenskünstlers in seiner Mischung von Tollpatschigkeit und Findigkeit, Armut und Sir-Gehabe, Spitzbüberei und Liebenswürdigkeit, Heimatlosigkeit und Freiheit.

Obwohl sich Chaplin am Ende seiner Filmkarriere auch an Tonfilmen versuchte (und dabei immerhin unvergessliches wie "Der Große Diktator" zustandbrachte, war und blieb er immer ein Verfechter des Stummfilms. Seiner Meinung nach konnte nur ein Stummfilm die Schauspielkunst vollkommen, in allen Feinheiten der Mimik, in der von Tonfilmen nicht erreichbaren Intensität der Körpersprache, zur Entfaltung bringen. Noch Jahre nachdem schon Tonfilme üblich waren, brachte er ein ganz großes Stummfilmprojekt heraus und feierte damit große Erfolge.

Der Autor versteht es, Details ins richtige Licht zu rücken und Tatsachen von verschiedenen Seiten zu beleuchten. In dieser Biografie wird hinter dem Mythos Chaplin der Mensch sichtbar (auch Charlies Untugenden wie Geiz und Polygamie kommen zur Sprache), an dem gleichwohl auch vieles Geheimnis bleibt.

Das mit einigen schönen Fotos ergänzte Buch ist glänzend recherchiert, sehr übersichtlich gestaltet und derzeit schlichtweg das umfassendste Standardwerk zu Person und Werk des großen Schauspielers.

(Willi Heimlich; 07/2002)


David Robinson: "Chaplin. Sein Leben, seine Kunst"
Diogenes, 2002. 944 Seiten.
Übersetzt von Brigitte Mentz und Matthias Müller.
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