Stephen J. Rivelle: "Der Kreuzritter" 


Die Geschichte der Kreuzzüge wird meist in mehr oder weniger heroischen oder heilsgeschichtlichen Motiven beschrieben, besonders, wenn es sich um Berichte aus der Zeit selbst handelt. Die Teilnehmer an den einzelnen Kreuzzügen waren in der Regel sehr bemüht, ihre edleren Motive - real oder eingebildet - in der Vordergrund der Erzählung zu stellen und realistischere wie glaubwürdigere Gründe in den Hintergrund zu stellen, bzw. vollständig zu verschweigen. Obwohl hier einige Ausnahmen bestimmt die Regel bestätigen, wenn man sich daran gewöhnt hat, in mittelalterlicher Literatur zwischen den Zeilen zu lesen, z.B. bei Wolfram von Eschenbach.

Der Held des vorliegenden Romans ist ein entfernter Vorfahr des Autoren des Gesamtbuchs. Der gebürtige Amerikaner interessierte sich schon sehr früh für die französische Sprache und Literatur und begann schließlich im Alter von 19 Jahren sein Studium an der Universität Aix-en-Provence, wo er sich erstaunlich gut einlebte. Hier erfuhr er zum ersten Mal, dass sein Nachname auf sehr alte französische Quellen hinweist. Im Zuge einer Arbeit für das Magazin der National Geographic Society im Jahre 1990 über die Klöster Südfrankreichs begann er der Quelle seines eigenen Namens nachzuforschen und stieß dabei - über einige Umwege - in der Kirche von Lunel auf die Tagebuchaufzeichnungen von Roger de Lunel, der auch als Roger l'Escrivel bekannt gewesen ist. Diese Tagebuchaufzeichnungen bilden den Kern dieses Buchs.

Der 29-jährige Roger de Lunel war unglücklich verheiratet und ohne Nachkommen, als ihn der Ruf nach Jerusalem zum ersten Kreuzzug im Jahr 1096 erreichte. Um seiner bedrückenden häuslichen und auch finanziellen Situation zu entkommen folgt er diesem Ruf um schnell festzustellen, dass auch die meisten seiner Mitstreiter aus ähnlichen Gründen oder aus dem Wunsch, für ihre bisherigen Sünden einen Generalerlass zu bekommen - und dabei fröhlich weiter zu sündigen - mit dabei sind. Er beschreibt ausgiebig die Reibereien der Ritter aus verschiedenen europäischen Ländern untereinander, ihre Rivalitäten und Freundschaften, die Fremdheit der Sitten und Gebräuche der Christen, die mit ihm zogen und auch das Chaos, das die Kreuzzügler auf ihrem Weg durch Europa bis zur Küste hinterließen. Die allgemeine heroische Betrachtung von Kreuzrittern - und Rittern ganz allgemein - wird dabei unter eine sehr scharfe und kritische Lupe genommen. Außerdem werden die Versorgungsschwierigkeiten einer solchen großen Gruppe an Männern und Vieh auf dem Zug sehr ausgiebig und interessant dargestellt.

Der Zug der Kreuzzügler durch das Heilige Land zeigt in aller Ausführlichkeit, wie dieser teils durch die politischen Ränkeschmiede innerhalb des Zuges und teils von außen - und nicht nur durch die "Heiden" - behindert wurde. Außerdem entdeckt Roger in dieser Zeit auch die Liebe neu und dies ungünstigerweise nicht zu einer Christin, sondern zunächst zu einer Jüdin und dann zu einer Muslimin. Als er schließlich das heilige Grab bei Jerusalem erreicht, ist dies für ihn viel eher das Ende einer Reise zu sich selbst, als einer Reise zu Gott, wie er es ursprünglich erwartet hat. 
Aber vielleicht ist das mit jeder Reise so, die große Ziele verfolgt, dass sie uns schließlich in den Kern unseres eigenen Seins führt. Für Roger de Lunel - und durch die Zeiten auch für Stephen J. Rivelle - war es am Ende in erster Linie die Reise zu sich selbst und auch für die Leserinnen und Leser könnte es ähnlich wirken. 
In diesem Sinne kann "Der Kreuzritter" als Vorläufer von "Das Herz der Finsternis" und von DeMilles "Upcountry" gesehen werden, die beide bei der Entdeckung eines anderen Landes doch in erster Linie eine Entdeckungsreise in das Herz des Menschen an sich sind.

(K. -G. Beck; 08/2002)


Stephen J. Rivelle: "Der Kreuzritter" 
Gebundene Ausgabe:
Heyne, 1996. 527 Seiten. 
ISBN 3-4531-1506-6.
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Taschenbuch:
Heyne, 2001. 526 Seiten.
ISBN 3-453-19569-8.
ca. EUR 10,-.
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