Luise Rinser: "Den Wolf umarmen"

Autobiografie


Es gibt Bücher, die man unter allen Umständen vor der Gefahr, vergessen zu werden und in den Bibliotheken zu verstauben, bewahren müsste. Dazu gehört unbedingt Luise Rinsers Autobiografie "Den Wolf umarmen".

Sie hat sie 1979 im Alter von 68 Jahren geschrieben, nicht als simple Chronologie, sondern als schonungsloses selbstkritisches schmerzliches Ringen um Wahrheit und Wahrhaftigkeit in den bewegenden und die Welt verändernden Jahrzehnten zwischen Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Krieg und Nachkriegszeit - eine Spanne von vierzig Jahren, ein halbes Leben.

"Meine Freuden im Leben waren nie himmelhoch, aber die Leiden, die waren abgrundtief, so ist das eben." (S. 21) "Und immer wieder wurde mir die gleiche Schicksalsaufgabe gestellt: schluck's runter." (S. 10) Sie schluckt aber das Meiste nicht runter. Schon von klein auf ist sie von "plötzlich explodierender Zivilcourage" (84), ein Wesenszug, der ihr ganzes Leben bestimmt und sie immer wieder in Gefahr bringt, ob als junge idealistische Volksschullehrerin 1933 oder als schon weltbekannte Schriftstellerin in den 1970er-Jahren, als sie der geistigen Mittäterschaft mit der Roten Armee Fraktion bezichtigt wurde.

"Dr. Schielle war es gewöhnt, dass ich den ruhigen gemütlichen Fluss der Religionsstunden mit meinen bizarren Einfällen störte. Mir gings freilich nicht ums Stören, ich suchte nur bei jeder Gelegenheit eine Diskussion zu provozieren, in der jemand sich meinen brennenden Fragen stellen würde. Man wich mir aus." (S. 146)
Ihr Leben ist bestimmt von persönlichen Verlusten und Verzichten. "Meine wirklichen Leiden sind allesamt versiegelte Gräber. Die, von denen ich reden kann, sind die leichteren." (S. 141) Kraft findet sie immer wieder in ihrem Aufbegehren gegen Scheinheiligkeit, Unrecht und geistig-moralische Falschmünzerei. "Ich sah sehr früh und sehr genau die Präpotenz dieser Staatsbeamten, die ihre Macht über uns bezogen nur aus ihrer äußeren Stellung, nicht aus ihren menschlichen oder auch nur intellektuellen Qualitäten. Bereuen, dass ich solchen Leuten nicht gehorchte ...? Und eben diese Gehorsamsverweigerung war Sünde, sagten sie uns. Lächerlich, anstößig, und leicht durchschaubar: die wollten es bequem haben, die wollten sich nicht herumschlagen mit unseren Problemen, die wollten gar nicht sehen, dass wir litten und um unser Leben kämpften." (S. 162)

Menschliche und intellektuelle Fähigkeiten besaß Luise Rinser in reichem Maße. Großzügig und einfühlsam ließ sie Andere daran teilnehmen, die es ihr nicht immer dankten.
So führte die Denunziation durch eine Klassenkameradin 1944 zu Verhaftung und Todesurteil, vor dessen Vollstreckung das Ende des Krieges sie in letzter Minute bewahrte.
Die Schriftstellerin ist trotz aller Schicksalsschläge ohne Verbitterung. Stets ist sie um eine differenzierte Sehweise und um ein Verstehen der Beweggründe "nekrophiler Menschen", also solcher, die zu Zerstörung und Chaos neigen, bemüht.

"Ich habe dem Menschen immer die Fähigkeit zugesprochen, sehr hoch zu steigen, dorthin nämlich, wohin er gehört, weil er von dorther kommt. Schlimm, dass der Mensch nicht weiß, wer er ist. Von früher Kindheit bläut man ihm ein, er sei ein Wurm, ein Nichts, im Kern böse, nur unter der Fuchtel brauchbar. Menschenverachtung, die Wurzel aller Gewalt, der illegalen, die man Terrorismus nennt, und der angemaßt legalen, der so leicht entartenden, die man Staat nennt, und auch die christliche Kirche arbeitet mit den Mitteln der Unterdrückung, denn auch sie hält den Menschen für grundböse, obgleich sie, wer sonst, wissen müsste, dass der Christus dem Menschen die Füße wäscht und ihn Bruder nennt, auch wenn er sündigt. Es ist ein Wunder, dass die Menschheit nicht längst kapituliert hat und sich zu Tieren domestizieren ließ, dass es vielmehr immer noch freie Geister gibt, die an den Menschen glauben als an den Erlösten und Erlöser." (S. 237)

Man möchte jungen, an sich und der Welt zweifelnden und verzweifelnden Menschen das Leben dieser Schriftstellerin als Vorbild und gleichzeitig als Beispiel dafür hinstellen, dass es selbst in finstersten Zeiten Mutige gibt, die ihre Überzeugungen nicht um persönlicher Vorteile willen preisgeben.
Eine ihrer frühen Überzeugungen ist: "Kein Geld haben ist nicht Armut, das weiß ich, das habe ich in meinen Hungerjahren am eigenen Leib erlebt. Armut ist: gedemütigt sein; die Menschenwürde verloren haben." (S. 235) Man zeige mir den Politiker, der bei den nicht enden wollenden Diskussionen über missbräuchliche Bezüge von Sozialhilfeleistungen je an solche Zusammenhänge gedacht hätte.
Persönlich verursacht mir das ständige Abgleichen ihrer frühen literarischen Versuche mit der Wirklichkeit ein leichtes Unbehagen. Als Leser bin ich nicht an der Kongruenz von Dichtung und Realität interessiert.

Aus Sicht der Schriftstellerin ist dieses Vorgehen jedoch Bestandteil ihrer Suche nach Wahrheit und Selbsterkenntnis. Enttäuscht ist sie vom Nachkriegsdeutschland; entmutigen kann sie die das aber nicht: "Die alte muffige Welt, die Vorkriegsbürgerwelt, die wurde still und unaufhaltsam wieder aufgebaut, als sei nichts gewesen. Und das blieb auch bis heute so. Nichts hatte sich ereignet ... Man konnte weitermachen." (S. 394) Luises Rinsers Reaktion ist stets gleich: anpacken, einmischen, die Stimme erheben, schreiben, an die Öffentlichkeit treten, nie schweigen, denn wer weiß aber schweigt, macht sich schuldig.

An den Schluss meiner Leseempfehlung möchte ich das Bild der Lehrerin Erinna stellen, das uns wie ein Zukunftsprogramm als Reaktion auf die negativen Ergebnissen der PISA-Studie erscheint, das Ideal einer Lehrerin vor nunmehr fast achtzig Jahren:
"Was sie von uns wollte, war nicht Leistung, sondern selbstständiges Denken. So überraschte sie uns schon in der ersten Zeit mit dem Auftrag, uns eine Kenntnis Russlands zu erarbeiten. Gut, aber wie? Wir waren daran gewöhnt, dass die Lehrer den Stoff vortrugen und wir uns Notizen machten und die Sache mehr oder minder wörtlich auswendig lernten. Jetzt aber sollten wir unsere eigenen Lehrer sein. Erinna zeigte uns , wie man das macht. Wir lernten zunächst einmal verstehen, dass man, um Fragen stellen zu können, schon etwas wissen müsse. ... Erinna fragte mich, ob ich einen Vortrag über russische Dichtung ausarbeiten könne. Andere sollten, ihren jeweiligen Interessen entsprechend, über andere Themen arbeiten. Aber wie macht man das? Man sucht Bücher darüber, man sucht Zeitungen und Zeitschriften und sucht Bildmaterial. Aber wo? In der Klassenbücherei. Wenn sie nicht ausreicht in der Schulbibliothek. Wenn sie nicht ausreicht, in der Stadt- und Staatsbibliothek. Wie bekommt man Erlaubnis zur Benutzung? Und wie findet man unter Hunderttausenden von Büchern die richtigen. Wir lernten Sach- und Personenregister benutzen. Wir lernten Auszüge machen. Kurzum: wir lernten studieren. Wenn dann die Vorträge gehalten wurden, lernte die Klasse kritisch zuhören. Wir arbeiteten mit Leidenschaft." (S. 183)
Ob dieses erzieherische Leitbild heute für die Mehrzahl der Lehrer so selbstverständlich ist? Ich wage es zu bezweifeln. Denn wäre es so, wäre unsere Jugend nicht so unkritisch und angepasst, unpolitisch und konsumorientiert wie schon lange nicht mehr.

(Diethelm Kaminski; 11/2002)


Luise Rinser: "Den Wolf umarmen"
Fischer, 1984. 412 Seiten.
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