Joachim Ringelnatz: "Sämtliche Erzählungen"
"Er hat den Stein der Narren entdeckt (welcher dem der Weisen zu Verwechseln ähnlich sieht)".
(Alfred Polgar)
Der 1883 als Hans Bötticher in der
sächsischen Dom-, aber dennoch hoffnungslosen Kleinstadt Wurzen Geborene zeigte
schon in frühester Kindheit ein nur schwer zu bändigendes Wesen. Später
verdingte er sich vier Jahre lang als Matrose und Schiffsjunge, ehe ihn Vater
Staat zwecks Ersten Weltkriegs in Beschlag nahm. Immerhin schaffte den Aufstieg
zum Kommandanten eines Minensuchbootes. Nach dem Krieg verschlug es ihn nach
München, wo er im "Simpl" zu vielbeachteten Auftritten kam und von Hans von
Wolzogen für dessen Berliner Kunstbühne "Schall und Rauch" entdeckt wurde, was
der Beginn der Schriftstellerkarriere des, wie er sich nun nannte, Joachim
Ringelnatz, bedeutete. Es entstanden die Galgenlieder, die Turngedichte,
Erzählungen wie "Die wilde Miss vom Ohio", Gedichte vom Seemann "Kuttel
Daddeldu".
Damit verband sich eine sehr einträchtige Tournee-Tätigkeit als reisendes Original,
der erst die Machtübernahme durch die
Nationalsozialisten
ein jähes Ende setzte. Nur die allerschwächsten Humoristen mit womöglich unlauterer
Gesinnung sind brutalen Diktaturen genehm, werden von ihnen als Hofnarren geduldet.
Sofort 1933 setzte es ein Auftrittsverbot, in weiterer Folge wurden seine Bücher
beschlagnahmt und später auch verbrannt. Weitere scheinbar unausweichliche Unannehmlichkeiten
mit dem Regime blieben Ringelnatz erspart, denn schon 1934 starb er, völlig
verarmt und mittellos geworden. Am Ende war es doch eine typisch deutsche Humoristenkarriere.
Die vorliegende Ausgabe der sämtlichen Erzählungen
birgt die erzählende Prosa von Ringelnatz außerhalb seiner autobiografischen
Schriften und Romane. Sie beruht auf der zweiten, korrigierten und ergänzten
Auflage von Joachim
Ringelnatz "Das Gesamtwerk in sieben Bänden", herausgegeben von Walter Pape
(Zürich, Diogenes). In überaus handlichem Kleinformat kann man also neben
Geläufigerem auch allerlei weniger Bekanntes des großen Humoristen entdecken.
Dem noch relativ unkundigen Leser sei hiebei besonders die köstliche Novelle
"Der tätowierte Apion" ans Herz gelegt, für "springende" Leser, also welche aus
purer Undiszipliniertheit der Unsitte frönen, vom Autor vorgegebene Reihenfolgen
in Erzählungszyklen partout nicht einhalten zu wollen, und für welche daher die
Eingangserzählung "Die wilde Miss vom Ohio" naturgemäß nicht in Betracht kommt,
der bestdenkbare Einstieg. Naturgemäß mit weit ernsterem, dunklerem Unterton die
in der Reihe "Die Woge" zusammengefassten Kriegsgeschichten. Neben "...liner
Roma" und den großartigen zu "Nervosippel" vereinten "Elf Angelegenheiten"
finden sich noch verstreut Gedrucktes (in welchem auch Kuttel Daddeldu auftritt
und seinen Kindern sogar was vorzeichnet!) und zwei Stücke aus dem Nachlass.
Alles in allem: ein ideales Weihnachtsgeschenk an Freunde großer Literatur, für
dessen Entdeckung dem Schenker Dank gewiss ist.
(Franz Lechner; 12/2003)
Joachim Ringelnatz: "Sämtliche
Erzählungen"
Diogenes, 2003. 368 Seiten.
ISBN 3-257-06357-1.
ca.
EUR 14,90.
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