Arthur Rimbaud: "Mein traurig Herz voll Tabaksaft"
"Il faut être absolument
moderne." (Arthur Rimbaud)
Himmel und Hölle: Der Nachlass eines radikalen "Verfemten"
Zweisprachige Gedichtbände erfreuen den Leser zumindest auf zweierlei Arten:
Einerseits bleibt der Genuss erhalten, die Sprache des jeweiligen
Schriftstellers im Original zu Gesicht zu bekommen, andererseits ist es den
Bemühungen engagierter Übersetzer (wobei diese Bezeichnung gerade bei Lyrik
nicht hinreichend zum Ausdruck bringt, dass zwischen reiner Übersetzung und
stilgerechter Wiedergabe/Nachdichtung der Zeilen oftmals Welten liegen, was die
Übertragung von Lyrik besonders anspruchsvoll macht) zu danken, dass man die ins
Deutsche verwandelten Zeilen gleichfalls würdigen kann, was dem Verstehen
insgesamt zugegebenermaßen höchst förderlich ist.
Arthur Rimbaud, der übrigens
die ersten französischen Gedichte in reimlosen freien Rhythmen schrieb, wurde
am 20. Oktober 1854 in Charleville geboren. Er war ein hervorragender Schüler
und frühreifes Schreibtalent, wenn nicht gar Genie. Seine katholische Erziehung,
deren Elemente er in zahlreichen Texten in die Bestandteile des Christentums
zerlegen sollte, war das Fundament für spätere antiklerikale Tiraden, die -
hochpoetisch - enttäuschte Erwartungen, Sinnsuche, Zügellosigkeit, Sünde, Reue
und Buße thematisieren. Rimbauds Texte, mit einer Bandbreite von hintergründig-sanft
bis kraftvoll, gelegentlich recht deftig, sollte man sich nicht entgehen lassen;
einige Titel mögen dies verdeutlichen: "Faunskopf", "Meine kleinen Geliebten",
"Schlechtes Blut", "Höllennacht", "Nach
der Sintflut", "Unsere Arschbacken sind nicht die ihren".
Der
vorliegende Band beinhaltet einen repräsentativen Ausschnitt aus dem Werk der
Jahre 1870 und 1871 ("Poésies / Gedichte"), des Jahres 1872 (Vers nouveaux / Neue Verse"),
"Une saison en enfer / Ein Aufenthalt in
der Hölle" (1873), "Illuminations / Illuminationen" (1873-1875), "Les Stupra
/ Stupra-Gedichte" (1875), weiters die "Seher"-Briefe, sowie Teile aus Rimbauds
Briefwechsel mit Mutter und Schwester. Der Buchtitel entstammt übrigens dem
Gedicht "Coeur du pitre / Das Herz des Hampelmanns": "Mon coeur
est plein de caporal! / Mein traurig Herz voll Tabaksaft!".
Von Ende 1871 bis 1873 waren der blutjunge Rimbaud, früh aus der Provinz nach Paris
"geflüchtet", und sein väterlicher Geliebter Paul Verlaine, den der lebenshungrige
Poet mit Worten und Werken aus einer biederen Rolle als Ehemann und Familienvater
gerissen hatte, ein Liebespaar. 1873 schoss Verlaine im Verlauf eines Streits
(Rimbaud beabsichtigte, sich von Verlaine zu trennen) auf seinen Geliebten und
verletzte diesen leicht. Der unglückliche Schütze, Verlaine, verbüßte nach seiner
Verurteilung eine zweijährige Gefängnisstrafe. Die destruktive, skandalumwitterte
Hassliebe-Beziehung der beiden übersensiblen Dichter wurde 1967 vom Briten Christopher
Hampton in einem Theaterstück thematisiert, dessen Verfilmung, für welche Hampton
das Drehbuch verfasste, den Titel "Total Eclipse - Die Affaire von Rimbaud und
Verlaine" (Frankreich/Großbritannien/Belgien 1995, Regie: Agnieszka Holland),
mit Leonardo DiCaprio in der Rolle des ungestümen, exzessiven Arthur Rimbaud,
trägt.
Im Jahr 1874 schließlich versiegte Rimbauds Schriftstellerei endgültig: Im Alter
von 19 Jahren schrieb Arthur Rimbaud "Une saison en enfer / Ein
Aufenthalt in der Hölle", sein letztes Werk. Die Gründe für diesen
abrupten Bruch mit der Literatur liegen nach wie vor im Dunkeln, obgleich es
gewisse Vermutungen gibt, der Dichter sei von der Leblosigkeit der Sprache,
der unüberbrückbaren Distanz zwischen Schrifttum und erlebbarer Wirklichkeit
über die Maßen frustriert gewesen und hätte das Schreiben aufgegeben, weil Poesie
nicht in der Lage sei, das Leben zu verändern. (Warum wohl bezeichnete Rimbaud,
dem die Intensität, das Ausloten eigener Grenzen, die Schockwirkung seiner Worte
jahrelang auf der Seele gebrannt hatten, sein Werk später als "billig"?) Des
Dichters Schaffensperiode war also mit nicht einmal fünf Jahren recht kurz bemessen,
jedoch sollte die Vorbildwirkung für die deutschen Expressionisten prägend sein.
In den folgenden Jahren weilte Arthur Rimbaud nie längere Zeit am selben Ort
und war als unsteter
Weltenbummler
und Waffenhändler u. A. in Afrika unterwegs.
Da er an Knochenkrebs litt, musste Arthur Rimbaud 1891 das rechte Bein abgenommen werden. Er starb am 10. November
1891 nach ebenso langem wie schwerem Leiden in einem Krankenhaus in Marseille.
Als einfühlsame Nachdichter,
Übersetzer der Briefe und Telegramme haben sich in diesem Band folgende Herren
betätigt: Klaus Möckel (1934 geboren, hat sich als Übersetzer und Nachdichter
vor allem moderner französischer Dichter einen Namen gemacht), Helmut Bartuschek,
Albrecht Schoenhals,
Stefan George (1868-1933),
K.
L. Ammer (Pseudonym des k.u.k. Dragonerleutnants Karl Klammer,
dessen erste Übertragungen ins Deutsche im Jahr 1907 Rimbauds Werk einer größeren
Leserschaft erschloss), Dr. Uwe Grüning (seines Zeichens Lyriker, Erzähler,
Essayist sowie Abgeordneter des sächsischen Landtages),
Paul
Celan (1920-1970), der Rimbauds vielleicht bekanntestes Gedicht "Le Bateau
ivre" ("Das trunkene Schiff") eindeutschte, Andreas Reimann (1946 geboren; wurde
Medienberichten zufolge seinerzeit als Rimbaud der DDR bezeichnet), Fritz Rudolf
Fries (1935 geboren), Alfred Wolfenstein (1883-1945), Gerhardt Haug, Hans Therre/Rainer
G. Schmidt, Dieter Tauchmann und Helgard Rost.
(Irmgard Ernst; 05/2003)
Arthur Rimbaud: "Mein traurig Herz voll Tabaksaft"
Französisch / Deutsch. Herausgegeben von Karlheinz Barck.
Reclam Leipzig, 2003. 210 Seiten.
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Weitere Buchtipps:
Arthur Rimbaud: "Sämtliche Dichtungen. Zweisprachige Ausgabe"
Herausgegeben, aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Thomas
Eichhorn.
Arthur Rimbaud, einer der wortgewaltigsten und bis heute meistgelesenen Dichter
Frankreichs, leitete mit freien Versen und einer umfassenden Revolte gegen die
Tradition die lyrische Moderne ein. In dem berühmten symbolistischen Dreigestirn
Mallarmé-Verlaine-Rimbaud war er sicherlich der Radikalste - die Bewegung des
Surrealismus ist ohne ihn nicht zu denken.
Diese zweisprachige Ausgabe bietet eine Übertragung, die sich in ihrer Klarheit
von den bisherigen deutschen Traditionen des Rimbaud-Übersetzens
(expressionistischem Pathos wie modernistischer Auflösung der Form)
gleichermaßen abhebt. Enthalten sind sämtliche Gedichte Rimbauds, die Zyklen
"Une saison en enfer" und "Illuminations", dazu die beiden "Seher-Briefe" mit
Rimbauds Dichtungstheorie. Kommentar, Nachwort und Zeittafel runden den Band ab. (dtv)
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Arthur Rimbaud: "Le Bateau ivre. Das trunkene Schiff"
Übertragen von Paul Celan. Mit Dokumenten, Abbildungen und einem Nachwort
herausgegeben von Joachim Seng.
Arthur Rimbauds "Le Bateau ivre" ist eines der bedeutendsten Langgedichte der
Weltliteratur. Nur drei Tage, die ihn "in Trance" versetzten, reichten Paul
Celan aus für das Meisterwerk seiner Übersetzung dieses Gedichtes ins Deutsche:
kühn und eigen, und doch so nah am Text, wie es einer Nachdichtung nur möglich
ist. Es war Celans Überzeugung, "dass mir hier ein wirklich einzigartiger Wurf
geglückt ist".
Zur Wiedergabe von Originaltext und Übertragung in direkter Gegenüberstellung
treten aufschlussreiche Zeugnisse, vor allem die Verlagsbriefwechsel, Abbildungen
und ein ausführliches Nachwort des Herausgebers. (Insel Bücherei)
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Pierre Michon: "Rimbaud
der Sohn"
"Rimbaud der Sohn" ist eine Auseinandersetzung mit der Figur des Dichters und
dem Wesen der Poesie, deren geradezu mythische Verkörperung der Dichterkomet
Arthur Rimbaud im Verlauf des 19. Jahrhunderts geworden ist. Als Sohn erscheint
Rimbaud in diesem Buch in mehrfacher Hinsicht: Sohn eines abwesenden Vaters und
einer unzulänglichen bäuerlichen Mutter. Sohn mit einer langen Reihe von
Vorfahren, die von Vergil bis zu
Baudelaire reicht. Und schließlich Sohn einer
anderen großen Abwesenden: der Poesie. (Bibliothek Suhrkamp)
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