Jørn Riel: "Zu viel Glück auf einmal"
"Die Fänger in Nordostgrönland
hatten nie am Gang der Welt teilgenommen. Auch als sie die
Möglichkeit dazu besaßen, lehnten sie sie ab. Sie
lebten als anständige, freie Menschen und erkannten, ohne sich
selbst darüber im Klaren zu sein, instinktiv das biologische
Erbe des Homo sapiens. Sie waren, wie alle Individuen ihrer Art sein
sollten: halbwegs gesellig und so weit von Bienen- und
Ameisenvölkern entfernt wie ein Elefant von einem
Erkältungsvirus."
In guter Gesellschaft: Die drei von Bjørkenborg, Herbert,
Valfred, Mads Madsen, der Schwarze William, Siverts, Lause, Lodvig,
Anton, Halvor, Niels, Fjordur
In sechzehn
großartigen, tiefsinnig-amüsanten Geschichten
erzählt Jørn Riel vom Dasein und den Erlebnissen
einer Gruppe Männer in Nordostgrönland, einem
wahrlich entlegenen Gebiet, wo monatelang Dunkelheit herrscht, eisige
Temperaturen an der Tagsordnung sind und jeder der Fänger
seine eigene Strategie hat, mit den Witterungsbedingungen, der
spärlichen Gesellschaft, den Schlittenhunden und den in
langen, einsamen Stunden ausschweifenden Gedanken umzugehen. Die
Männer verbringen die Fangsaison jeweils zu zweit in weit von
einander entfernt in den Fjorden vereinzelten Hütten, unter
spartanischen Bedingungen. Die Aufgabenteilung ist folgende:
Während der eine Jäger sich um die Fallen
kümmert, erledigt der andere die Hausarbeit, wozu
beispielsweise auch das Abziehen der Felle gehört.
Nur wenige Dinge gibt es im Übermaß, und
selbstgebrannter Schnaps gehört dazu. Alle heiligen Zeiten
kommt das Versorgungsschiff "Veslemari" vorbei, das neben Proviant und
Materialnachschub auch Saisonarbeiter mitbringt (die zumeist
für einigen Trubel in der Fängergemeinschaft sorgen -
denn wer "verirrt" sich schon nach Nordostgrönland?) und die
Felle abholt.
In "Südost", der ersten dieser Geschichten, lernen wir den
jungen Grübler Anton kennen, der mit dem "alten Fuchs" Valfred
in einer Hütte überwintert. Valfred
verschläft den Großteil der finsteren Monate, doch
Anton macht seine innere Unrast ebenso wie das Fehlen weiblicher
Gesellschaft zu schaffen. (Einige der Männer verfallen im
Koller auf sonderbare Ideen, wie beispielsweise die Sonne fangen zu
wollen ...) Der gutmütige Valfred erzählt Anton die
wunderbare Geschichte vom
Chinakoch,
der seinerzeit in den eisigen Fluten einen Tauchgang unternahm, wobei
ein plötzlich auf der Bildfläche erscheinender
Riesenbär keine unbedeutende Rolle spielte, und vom speziellen
Nutzen des Südostwindes ...
Die nächste Geschichte, "Alexander", handelt von einem Hahn,
der mit den arktischen Bedingungen nicht wirklich gut zurande kommt.
Sein Besitzer freilich, Herbert, ein schrankenloser Dauerredner, dessen
Monologe schon so manchen Arbeitskameraden in die Flucht geschlagen
haben, hält Alexander für den allerklügsten
Gesprächspartner weit und breit sowie für einen
scharfsinnigen Philosophen. Und weil man im hohen Norden
grundsätzlich viel für schräge
Vögel übrig hat, macht die Kunde vom Wunderhahn die
Runde, bis das Federvieh eines Tages beim Anblick der nach Monaten zum
ersten Mal wieder sichtbaren Sonne tot umfällt.
Wie es dem Dauerredner Herbert ergeht, wenn er sich selbst einmal in
der Rolle des Opfers eines gewaltigen Redeschwalls befindet, und was
passiert, wenn sich einer leer geredet hat, davon erzählt "Zu
viel Glück auf einmal". Herbert besucht Lodvig in Ross Bay;
Besuchsfahrten sind unter nordostgrönländischen
Bedingungen kein Honiglecken, und dennoch überkommt die
Männer dann und wann das dringende Bedürfnis, ein
bekanntes Gesicht zu sehen, in geselliger Runde den einen oder anderen
Schnaps zu verkosten ...
"Bjørken und die Weltgeschichte" macht uns mit dem zum
ausschweifenden Dozieren über die
Weltgeschichte und zum
Philosophieren neigenden Bjørken und dem naiven Lasselille
bekannt, die gemeinsam mit dem alten, fast blinden Sylte in der Station
wohnen und arbeiten. Wie man quasi nebenbei einen Bären
erlegt, führt Bjørken eindrucksvoll vor.
Welche wahrhaft bleibenden Eindrücke die Ankunft eines
Tätowierers beim Schwarzen William, Magnus von Veile (genannt
"der Graf"), Bjørken und Lasselille hinterlässt,
warum der Stationsleiter Mads Madsen angesichts des
Neuankömmlings augenblicklich abreist, und wie ein Mann, ohne
selbst gejagt oder Fallen aufgestellt zu haben, Grönland mit
reicher Beute verlässt, beschreibt die nächste
Geschichte.
Die grönländischen Fänger wirken nur auf den
ersten Blick träge; sobald es die Situation erfordert, sind
sie schlagartig vollkommen konzentriert, wachsam und
handlungsfähig - das Leben unter extremen Bedingungen hat sie
alle, jeden auf seine Weise, zu etwas Besonderem gemacht. Das muss auch
ein Leutnant am eigenen Leib erfahren, der mit dem Vorsatz, eine
militärische Einheit aufzubauen, angekommen ist und einen
neuen Umgangston etablieren will "Wie der Leutnant gezähmt
wurde".
Weitere köstliche Episoden erzählen vom ausgefallenen
Umgang mit Verstorbenen, von den Verstimmungen, welche die Errichtung
des einzigen Lokus auf weiter Flur mit sich bringt, von einem
besonderen Schwein namens "König Oscar" und einer
verstörenden Verwechslung, der Fernreise eines
Selbstmörders, von einem außergewöhnlichen
Schlittenhund, "Miss Dietrich". In "El dedo del diablo"
erfährt man, wie es dazu kam, dass sich unter Fjordurs Fellen
die abgezogene Haut einer fünf Meter langen Könisboa
befindet, die Geschichte "Der kleine Pedersen" behandelt die durch
extreme Maßnahmen erfolgende Läuterung und Wandlung
eines Lebensuntüchtigen zu einem erfolgreichen Jäger
und selbstbewussten Mann, "Eine literarische Geschichte" stellt den
jungen Grübler Anton als Schriftsteller vor, dessen Ambitionen
nur noch von seinen Allüren übertroffen werden, wobei
das größte Hindernis in der Knappheit an
Schreibgeräten besteht ... In "Der
Floh" begleitet man
ein Individuum dieser blutsaugenden Spezies von Mensch zu Mensch, und
in "Der Höllenprediger" bekommt schließlich Pastor
Polleson seine höchstpersönliche Himmelfahrt ...
Jørn Riel versteht es hervorragend, unterhaltsame
Geschichten mit interessanten Charakteren zu erzählen, beinahe
hat man nach der Lektüre das Gefühl,
Grönland sei einem persönlich etwas näher
gerückt.
Jørn Riel wurde 1931 in Odense (Dänemark) geboren. Er zählt zu den größten zeitgenössischen Autoren Skandinaviens und des arktischen Nordamerika. Sein Werk umfasst über vierzig Romane, Erzählungen, Kurzgeschichten, Märchen und Gedichte und wurde in acht Sprachen übersetzt. 1951-1953 nahm Jørn Riel, gerade zwanzig Jahre alt, an einer geologischen Expedition in die Arktis teil. In dieser Zeit begann er zu schreiben. Zwei Jahre verbrachte er auf der grönländischen Insel Ella mit einem Inuit seines Alters, sechzehn Jahre lebte der Autor in Grönland, der größten Insel der Welt. 1971 begann Riel seine Geschichten über die Arktis niederzuschreiben. In allen geht es um die Jäger und Fallensteller im Nordosten Grönlands, und sie geben ein außergewöhnliches Zeugnis ab von der Zivilisation der Arktis, der Kultur und dem Leben der Inuit. Jørn Riel folgt in seinen Romanen und Erzählungen den mündlichen Erzähl-Traditionen und dem Sprachgestus dieses nordischen Volkes, bringt den Lesenden das Leben und die Kultur der arktischen Eiswüste in reichhaltiger wie schalkhaft schillernder Weise nahe. Zwischen 1964 und 1971 war Jørn Riel als engagierter Beobachter der Vereinten Nationen in Afrika und Asien, Südamerika, Pakistan und Indien tätig. Der Autor und Globetrotter reiste durch Afrika, Westindien, Südostasien und Kanada.
(Franka Reineke; 03/2003)
Jørn Riel:
"Zu viel Glück auf einmal"
(Originaltitel:
"Den kolde jomfru og andre skrøner" und
"Helvedespræsten og andre skrøner")
Aus dem Dänischen von Wolfgang Th. Recknagel.
Unionsverlag,
2003. 256 Seiten.
ISBN
3-293-00311-7.
ca. EUR 19,90.
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Ergänzende Buchtipps:
"Nicht alle
Eisbären halten Winterschlaf"
In
Nordostgrönland stranden die Männer, die die Nase
voll haben von Europa und seiner Zivilisation. Valfred, der
bärbeißige, verschlafene Schlachter, Anton, der
gerade sein Abitur in der Tasche hat, Fjordur, der raubeinige
Isländer, der kultivierte Graf, der selbst im hohen Norden
seinen Wein anbaut, und all die anderen Jäger und
Fänger: Jeder ist auf seine Art eigensinnig und liebenswert.
Mit Witz und Poesie erzählt Jørn Riel, wie man in
diesem Land der atemberaubenden Naturschönheiten seinen ersten
Eisbären fängt, in der Ödnis eine
Funkstation errichtet, sich auf einem Eisberg durch die Fjorde treiben
lässt oder sich eine Frau erträumt, "mit Wangen wie
Äpfel und mit den richtigen Rundungen, vorn und hinten".
(Originaltitel: "En arktisk safari
og andere skrøner")
Aus dem Dänischen von Wolfgang Th. Recknagel.
Unionsverlag,
2002. 272 Seiten.
ISBN 3-293-20244-6.
ca. EUR 8,90.
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zur Rezension ...
"Das Haus meiner
Väter"
Sechzehn
Jahre lebte Jørn Riel als Forscher und Abenteurer im
unzugänglichen Nordosten Grönlands. Als die
Einsamkeit ihn zu überwältigen drohte, begann er, der
nie an Literatur gedacht hatte, seinen Gefährten Geschichten
zu erzählen. Er spinnt seine Romane wie Seemannsgarn. Sie sind
so wahr wie die Legenden, die sich die Trapper, Jäger und
Fischer, die Abenteurer, Ausgestoßenen und Ausgebrochenen in
den ewigen Winternächten erzählen.
(Originaltitel: "Mine faedres hus")
Aus dem Dänischen von Friedrich Waschnitius.
Unionsverlag, 2000. 384 Seiten.
ISBN 3-293-20183-0.
ca. EUR 9,90.
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