E. A. Richter: "Eurotunnel"

Gedichte
Grafiken von Waltraud Palme


Schmucke Bände, in denen Wörter und Bilder über ihr jeweiliges Eigenleben hinaus zwischen Buchdeckeln zu einem möglichst stimmigen Gesamteindruck zusammenfinden, haben Tradition; man denke beispielsweise an Georg Trakls "Offenbarung und Untergang", meisterlich von Alfred Kubin mit Federzeichnungen illustriert.
Gedichte wie Illustrationen sind idealerweise subtile Momentaufnahmen, Raumzeitkonserven, mitunter launige Schnappschüsse oder auch gediegene Stilleben, angetan, im Leser bzw. Betrachter nachzuhallen.
Der edel aufgemachte Band "Eurotunnel", erschienen in der
Literaturedition Niederösterreich, verführt anhand stimmungsvoller, detailverliebter Texte und Bilder zum (zumindest gedanklichen) in die Ferne Schweifen oder auch zum Schwelgen in Reiseerinnerungen.

Anfang 2006 erregte der deutsche Schriftsteller Alban Nikolai Herbst mit einer innovativen Aktion Aufsehen: Bei einem Internet-Auktionshaus versteigerte er nämlich eine Figur seines im Entstehen begriffenen Romans "Argo. Anderswelt". Das originelle Angebot lautete:
"Ich bin ein deutscher Schriftsteller und versteigere an den Höchstbietenden die Rolle in einem Roman. Die Rolle kann Ihren Wünschen entsprechen und Ihren Namen tragen; Sie können etwas sein, was Sie immer schon sein w o l l t e n. Es geht um ARGO. ANDERSWELT, den dritten Band einer Trilogie, deren erste beide Bücher im Rowohlt sowie im Berlin Verlag erschienen sind und längst literaturwissenschaftliche Beachtung gefunden haben. THETIS. ANDERSWELT wurde mit dem Phantastik-Preis ausgezeichnet. Alle übrigen Informationen zu mir und meinem literarischen Werk entnehmen Sie bitte HERBST & DETERS FIKTIONÄRE. Der Roman ARGO. ANDERSWELT entsteht derzeit in der Rohfassung. Bei Geboten, die 1000 Euro nicht übersteigen, wird es eine allerdings liebevoll gestaltete Nebenfigur werden, bei Geboten über 1000 Euro eine der tragenden Personen des Buches. Einzelnes dann nach Absprache. Für mich selbst ist dies schon rein handwerklich eine reizvolle Aufgabe. Gestaltungswünsche, die gegen bestehendes Recht verstoßen oder in irgend einer Weise nationalsozialistisches Gedankengut zu transportieren helfen, werden n i c h t berücksichtigt."

Den Zuschlag erhielt schließlich ein Zunftkollege, eben der 1941 geborene österreichische
Bildinstallationskünstler, Drehbuchautor und Schriftsteller E. A. Richter, welcher sich nun für 645 Euro als "liebevoll gestaltete Nebenfigur" eingebracht bzw. verewigt wissen darf.
("E. A. Richter. Die erste Erwähnung. Argo. Anderswelt. (202): 'Mit dabei waren ferner der alte EA Richter, der so wenig hatte zurückbleiben wollen wie Pal; des weiteren Lysianassa und Shakti, sowie drei weitere Amazonen.'" Quelle: Alban Nikolai Herbsts Netzseite; Eintrag vom 07. Februar 2006.)

EUROPE

Europa ist zu sehn wie immer bei klarem Wettter.
Ich wünsch mir keinen Tunnel zur schnelleren Durchfahrt
auch keinen Flug auf dem Rücken von Möwen
keinen Wolkenbruch Fenstersturz
keinen erleuchtenden Schlag auf den Kopf.

Es gibt keine Allegorien oder Metaphern
die Heimkehr erklären.
Vielleicht genügt es schon als Trost
die vorhersehbare Katastrophe nicht zu leugnen.

Mit geblähten Gummischotten
fährt das Nachbarschiff knatternd und sprühend
an Land senkt sich da
wo ich zuhaus sein will
nieder aufs besudelte Leintuch

Der studierte Germanist und Historiker E. A. Richter, von 1970 bis 1995 Redakteur der literarischen Zeitschrift "Wespennest", tritt seit 1986 auch unter dem Pseudonym RICHTEX als "Bildner und Realisator" in Erscheinung, und der Band "Eurotunnel" stellt ein weiteres ausdrucksstarkes Gemeinschaftswerk mit der 1959 in Wien geborenen, seit 1984 als Künstlerin tätigen Waltraud Palme dar.
Von E. A. Richter stammen die knapp mehr als vier Dutzend Gedichte, die, mit Schwarzweiß-Grafiken aus Waltraud Palmes  Serie "Journal" kombiniert, Eindrücke von Menschen und Orten vermitteln.
Das poetische Reisetagebuch gliedert sich in vier Teile, zahlreiche Gedichte tragen mehr oder weniger erkennbar zwangsläufig englische Titel, z.B. Straßennamen, und natürlich dürfen weder sogenannte Sehenswürdigkeiten noch mit Klischees spielende Bemerkungen über das nasskalte Wetter fehlen.

Der Eurotunnel als solcher ist ein etwa 50 Kilometer langer Eisenbahntunnel unter dem Ärmelkanal, welcher es passionierten Zugfahrenden seit seiner Eröffnung am 6. Mai 1994 ermöglicht, von Nordfrankreich nach England zu gelangen. Kein allzu inspirierendes Gebilde also, jedoch nimmt die künstlerische Fantasie gewissermaßen das Licht am Ende des Tunnels wahr, und schon ist - im übertragenen Sinn - Land in Sicht. Ein Land, das E. A. Richter zu poetischen Schilderungen ebenso wie zu kritischen Reflexionen und autobiografisch angehauchten Assoziationsketten anregte. Vor allem im vierten, m.E. tiefgreifendsten und wertvollsten Abschnitt lässt das lyrische Ich hinter die Kulissen blicken, verlagert die Erlebniswelt nach innen, schenkt dem aufmerksamen Leser solcherart einen Fahrschein für die Reise durch den "Richtertunnel".

Waltraud Palme gestaltete aus u.a. Acryl, Kleister, Kreide und Tinte flächige Collagen, kontrastreiche Schwarzweißabbildungen, deren Figurendarstellungen gelegentlich feingestrichelte Zeichnungen, wie man sie aus bejahrten Ethnologiebüchern kennt, aufgreifen, jedoch mitunter auch zeitgenössische Details oder figurative Symbole aufweisen und thematisch vorwiegend Menschenporträts sowie Tierbilder behandeln.

Ein zweiseitiger Anmerkungsapparat zum Hintergrund einiger Texte, ein Inhaltsverzeichnis in Form der Gedichttitel sowie Kurzbiografien der beiden kooperierenden Künstler komplettieren den Band, der wohl in erster Linie Lyrikfeinspitzen mit ausgeprägter Vorliebe für das Sichtbare oder auch Englandbegeisterten, die Freude am Wiedererkennen und Vergleichen haben, zu empfehlen wäre.

(kre; 02/2006)


E. A. Richter: "Eurotunnel"
Grafiken von Waltraud Palme.

Literaturedition Niederösterreich, 2005. 126 Seiten.
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Lien: https://www.waltraud.palme.ist.org/

E. A. Richter: "Obachter"
Gedichte.
Vom Geschehen erfasst, folgt der Obachter den Impulsen seines Bewusstseins. In den unkontrolliert kaskadierenden Bild- und Gedankenfolgen brechen verschüttete Momente auf.
Im Zentrum von E. A. Richters Obachter-Gedichten steht der alternde Körper mit seinen noch immer jungen Erinnerungen und vitalen Empfindungen. Meist ist es unscheinbar Alltägliches - ein Morgenschimmer, der Streit mit einer Geliebten, die eigenen Haare, der Schweiß, Nachtgestalten -, über das sich das obachtete Hier und Jetzt in die Vergangenheit und Zukunft verzweigt: hin zum Geruch der Großmutter, zur Kindheit und zur bereits bedrohlich mahlenden "Knochenmehlmaschine".
Leicht im Rhythmus, stark in den Bildern, empfindsam und ungeschminkt im Erzählen: Gedichte vom Altern, von der Lebenslust und all dem, was war, nicht war und hätte sein können.
E. A. Richter, geb. 1941 in Tulbing, lebt in Wien. Von 1970 bis 1986 Redakteur der Zeitschrift Wespennest, von !986 bis 1998 war er unter dem Namen Richtex als bildender Künstler tätig (Installationen, synergetische und Video-Projekte). Seit 1973 erschienen mehrere Gedichtbände und ein Roman, zuletzt: Das leere Kuvert (2003), Eurotunnel (2005)
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