Kathy Reichs: "Totgeglaubte leben länger"

"Mysteriöse Skelette. Verschwundene Aufzeichnungen. Geplünderte Gräber. Die Familiengruft Jesu Christi? Heiliger Bimbam! Ich beschloss, zu meinen Wurzeln als Archäologin zurückzukehren und Tempe ins Gelobte Land zu schicken."
(Kathy Reichs)


Hier ist er nun, der achte Roman um die forensische Anthropologin Dr. Temperance Brennan, in dem die Autorin Kathy Reichs ihre eigenen beruflichen Erfahrungen auf diesem Gebiet einmal mehr in fiktiver Form umgesetzt hat. Wie schon bei "Totenmontag" gibt sie auch diesmal im Vorwort und im Epilog einige Informationen zum Realitätsbezug der Geschichte und wie sich "Totgeglaubte leben länger" unter Mitwirkung eines befreundeten Archäologen entwickelte.

Nach einem Leichenfund in einem Kamin wird in einem Büro der von Katzen angenagte Leichnam eines orthodoxen jüdischen Geschäftsinhabers entdeckt, der mit Kopfschüssen getötet worden ist. Dies stellt sich zunächst aber nicht direkt heraus, da versucht wurde, den Todesfall als Selbstmord zu inszenieren.

Bei der Autopsie sind aus religiösen Gründen einige Gemeindemitglieder anwesend, und als Tempe versucht, die Witwe des Verstorbenen zu trösten, wird ihr von einem zunächst nicht eindeutig identifizierten Mann ein 1963 bei archäologischen Ausgrabungen in Masada entstandenes Foto überreicht, auf dem ein klar artikuliertes Skelett abgebildet ist. Der Überbringer bemerkt dazu, dass dieses heikle Foto maßgeblich mit dem Ableben des Verstorbenen zu tun haben könnte.

Um mehr darüber zu erfahren, schickt Tempe eine Kopie der Aufnahme an Jake Drum, einen Kollegen, der sich mit archäologischer Anthropologie beschäftigt und gerade dabei ist, sich auf eine Grabungssaison in Israel vorzubereiten. Kurz nach Erhalt des Fotos erfasst den Mann unglaubliche Hektik, weil er das fragliche Skelett bereits aus anderen Zusammenhängen kennt.

Tatsächlich kann Tempe das Skelett aufgrund seiner Hinweise und mit Detective Andrew Ryans Hilfe in einem Trappistenkloster ausfindig machen, in dem es schon seit einiger Zeit verborgen war. Dieses Skelett scheint eine gewisse religiöse Brisanz zu besitzen.
Da es auf illegalem Weg von Israel nach Kanada kam - und auch einige Hinweise im Mordfall des Geschäftsinhabers in diese Richtung weisen - machen sich Ryan und Tempe ins Heilige Land auf, um dort den diversen Rätseln, vor denen sie stehen, auf den Grund zu gehen. Dort angelangt, werden sie bald in die politischen und religiösen Verstrickungen des archäologischen Arbeitens im Heiligen Land verwickelt, die von professioneller Missgunst genauso motiviert sind, wie von anderen wesentlich weitreichenderen Motiven. Denn aus unterschiedlichen Gründen haben mindestens zwei der hier vertretenen Weltreligionen ein gesteigertes Interesse an dem fraglichen Skelett - und auch noch an einem weiteren, das Tempe und ihr grabender Kollege vor Ort ausfindig machen. Zudem sind viele dieser Interessengruppen gewohnt, für ihre Sache "über Leichen zu gehen".

Die Geschichte von "Totgeglaubte leben länger" kann bis zum Eintreffen der Protagonisten in Israel als sehr stringent und interessant bezeichnet werden. Danach laufen jedoch sowohl Handlung als auch technische Erklärungen allerdings manchmal ein wenig ins Leere, so dass der Lesefluss etwas stockt. Kathy Reichs Versuch, ein wenig thematische Anlehnung an Dan Brown zu finden, gelingt nicht überzeugend und kann gerade wegen der zum Teil zu ausführlichen Erklärungen nicht gänzlich überzeugen.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 12/2005)


Kathy Reichs: "Totgeglaubte leben länger"
(Originaltitel "Cross Bones")
Übersetzt von Klaus Berr.
Karl Blessing Verlag, 2005. 416 Seiten.
ISBN 3-89667-288-6.
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Hörbuch (gekürzte Lesung):
Random House Audio, 2005. 6 CDs, Laufzeit ca. 420 Minuten.
Sprecher: Hansi Jochmann.
ISBN 3-86604-083-0.
Hörbuch-CDs bei amazon.de bestellen

Leseprobe:

"Wie es aussieht, brauche ich Ihre Unterstützung, Temperance." Nur Pierre LaManche nannte mich bei meinem vollen Namen, den er auf der letzten Silbe betonte, so dass er sich auf "La France" reimte. LaManche hatte sich selbst einen Kadaver zugewiesen, der, wie ich vermutete, Verwesungserscheinungen aufwies.
"Fortgeschnittene Fäulnis?"
"Oui." Mein Chef hielt kurz inne. "Und andere komplizierende Faktoren."
"Komplizierende Faktoren?"
"Katzen."
O Mann.
"Ich bin gleich unten."
Nachdem ich den Bellemare-Bericht auf einer Diskette abgespeichert hatte, verließ ich mein Labor, ging durch die Glastüren, die die rechtsmedizinische Abteilung vom Rest der Etage abtrennen, bog in einen Nebenkorridor ein und drückte auf den Knopf neben einem einzelnen Fahrstuhl. Zugänglich nur von den beiden gesicherten Etagen des LSJML und vom Büro des Leichenbeschauers, hat dieser Lift nur ein einziges Ziel: die Leichenhalle.
Während ich in den Keller hinunterfuhr, wiederholte ich im Geiste noch einmal, was ich bei der Personalbesprechung an diesem Morgen erfahren hatte.
Avram Ferris, ein sechsundfünfzigjähriger orthodoxer Jude, war eine Woche zuvor verschwunden. Gestern am späten Nachmittag war Ferris' Leiche in einer Abstellkammer im Obergeschoss seines Geschäftsgebäudes entdeckt worden. Keine Hinweise auf einen Einbruch. Keine Hinweise auf einen Kampf. Die Angestellte sagte, er habe sich in letzter Zeit merkwürdig verhalten. Tod durch einen selbst beigefügten Pistolenschuss lautete die Einschätzung vor Ort. Die Familie des Opfers beharrte jedoch stur darauf, dass ein Selbstmord ausgeschlossen sei.
Der Coroner hatte eine Autopsie angeordnet. Ferris' Verwandte und der Rabbi hatten dagegen Einspruch erhoben. Die Verhandlungen waren ziemlich hitzig verlaufen.
Ich sollte nun gleich den Kompromiss sehen, den man erreicht hatte.
Und das, was die Katzen angerichtet hatten.
Vom Aufzug aus ging ich nach links und dann nach rechts auf die Leichenhalle zu. Als ich mich der äußeren Tür des Autopsieflügels näherte, hörte ich Geräusche aus dem Familienzimmer, einer tristen, kleinen Kammer, die für diejenigen reserviert war, die man für eine Identifikation der Toten einbestellt hatte.
Leises Schluchzen. Eine Frauenstimme.
Ich stellte mir den trostlosen kleinen Raum mit seinen Plastikpflanzen und Plastikstühlen und dem diskret mit einem Vorhang verhängten Fenster vor und spürte den üblichen Schmerz. Wir im LSJML machen keine Krankenhausautopsien. Keine Leberzirrhose im Endstadium. Kein Pankreaskrebs. Wir treten in Aktion bei Mord, Selbstmord, Unfällen und plötzlichen und unerwarteten Todesfällen. Im Familienzimmer warten diejenigen, die eben vom Undenkbaren und Unvorhergesehenen überfallen wurden. Deren Kummer rührt mich immer.
Ich zog eine hellblaue Tür auf und lief einen schmalen Korridor entlang, vorbei an Computerterminals, Trockengestellen und Edelstahlrollbahren zu meiner Rechten und weiteren blauen Türen zu meiner Linken, alle mit der Aufschrift Salle d'Autopsie. Vor der vierten Tür atmete ich einmal tief durch und trat dann ein.
Neben den Skelettierten bekomme ich die Verbrannten, die Mumifizierten, die Verstümmelten und die Verfaulten. Meine Aufgabe ist es, die Identität zu rekonstruieren, die der Tod ausgelöscht hat. Saal vier benutze ich ziemlich häufig, weil er mit einem speziellen Belüftungssystem ausgestattet ist. An diesem Morgen hatte das System gegen den Fäulnisgestank kaum eine Chance.
Einige Autopsien finden vor leerem Haus statt. Andere ziehen Publikum förmlich an. Trotz des Gestanks gab es bei Avram Ferris' Autopsie nur Stehplätze.
LaManche. Lisa, seine Autopsietechnikerin. Zwei uniformierte Beamte. Ein Detective der Sûreté du Québec, den ich nicht kannte. Ein großer Kerl, sommersprossig und blasser als Tofu.
Ein SQ-Detective, den ich kannte. O Mann. Andrew Ryan. Eins sechsundachtzig. Sandblonde Haare. Wikingerblaue Augen.
Wir nickten einander zu. Ryan der Bulle. Tempe die Anthropologin.
Als wären die offiziellen Teilnehmer nicht schon zahlreich genug, bildeten auch noch vier Laien hinter der Leiche eine Mauer der Missbilligung.
Ich musterte sie schnell. Lauter Männer. Zwei Mittfünfziger, die beiden anderen vermutlich Ende sechzig. Dunkle Haare. Brillen. Bärte. Yarmulken.
Die Wand betrachtete mich abschätzend. Acht Hände blieben hinter vier steifen Rücken gefaltet.
LaManche zog seine Atemmaske herunter und stellte mich dem Beobachterquartett vor.
"In Anbetracht des Zustandes von Mr. Ferris' Leiche ist ein Anthropologe erforderlich."
Vier verständnislose Blicke.
"Dr. Brennans Fachgebiet ist skelettale Anatomie." LaManche sprach Englisch. "Sie ist, was Ihre speziellen Anforderungen angeht, vollständig im Bilde."
Abgesehen von der sorgfältigen Aufbewahrung auch der geringsten Mengen von Blut und Gewebe, hatte ich keine Ahnung von den speziellen Anforderungen dieser Männer.
"Mein tief empfundenes Bedauern über Ihren Verlust", sagte ich und drückte mir mein Klemmbrett an die Brust.
Vier Köpfe nickten melancholisch.
Ihr Verlust lag in der Bühnenmitte, mit einer Plastikplane zwischen Leiche und Edelstahl. Auf dem Boden unter und um den Tisch herum waren weitere Planen ausgebreitet. Leere Wannen, Gläser und Röhrchen standen auf einem Rollwagen bereit.
Die Leiche war ausgezogen und gewaschen, doch es war noch kein einziger Schnitt gesetzt worden. Zwei Papiertüten lagen platt gedrückt auf der Arbeitstheke. Ich nahm an, dass LaManche seine äußerliche Untersuchung bereits abgeschlossen hatte, darunter auch die Suche nach Schmauchspuren und anderen Indizien an Ferris' Händen.
Acht Augen verfolgten mich, als ich zu dem Verstorbenen ging. Beobachter Nummer vier faltete nun seine Hände vor den Genitalien.
Avram Ferris sah nicht aus, als wäre er erst letzte Woche gestorben. Er sah aus, als wäre er während der Clinton-Ära gestorben. Seine Augen waren schwarz, die Zunge purpurn, die Haut oliv und auberginefarben gesprenkelt. Sein Bauch war aufgebläht, sein Hodensack drall wie ein Wasserball.
Ich schaute Ryan fragend an.
"Die Temperatur in der Abstellkammer lag bei zweiundneunzig Fahrenheit", sagte er.
"Warum so heiß?"
"Wir gehen davon aus, dass die Katzen ans Thermostat gekommen sind", sagte Ryan.
Ich rechnete schnell nach. Zweiundneunzig Fahrenheit. Knapp fünfunddreißig Celsius. Kein Wunder, dass Ferris einen Rekord in Verwesung aufstellte.
Aber die Hitze war nur eins der Probleme dieses Herrn gewesen.
Wenn wir Hunger haben, reagieren auch die Friedlichsten unter uns gereizt. Wenn wir am Verhungern sind, reagieren wir verzweifelt. Das Es setzt sich über die Moral hinweg. Wir essen. Wir überleben. Dieser gemeinsame Instinkt treibt Herdentiere, Raubtiere, Bataillone und Fußballmannschaften an.
Da werden sogar Bello und Muschi zu Aasfressern.
Avram Ferris hatte den Fehler gemacht, sich eine Kugel einzufangen, während er mit zwei Kurzhaarhauskatzen und einer Siamesin in einem Raum eingesperrt war.
Und mit einem zu geringen Vorrat an Brekkies.
Ich ging langsam um den Tisch herum.
Das Schläfen- und das Scheitelbein auf Ferris' linker Schädelseite waren merkwürdig nach außen gebogen. Obwohl ich das Hinterhauptsbein nicht sehen konnte, war es offensichtlich, dass er die Kugel in den Hinterkopf bekommen hatte.
Ich zog Gummihandschuhe über, schob zwei Finger unter den Schädel und tastete. Der Knochen gab nach wie Pudding. Nur die Schädelschwarte hielt den Hinterkopf noch zusammen.
Ich senkte den Kopf wieder ab und untersuchte das Gesicht.
Es war schwierig, sich vorzustellen, wie Ferris zu Lebzeiten ausgesehen hatte. Seine linke Wange war angenagt. Zahnspuren kerbten den darunter liegenden Knochen, Splitter schillerten in der grellroten Pampe.
Ferris' rechte Gesichtshälfte war zwar aufgequollen und fleckig, ansonsten aber größtenteils intakt.
Ich richtete mich auf und dachte über das Verstümmelungsmuster nach. Trotz der Hitze und des Fäulnisgestanks hatten die Katzen sich nicht an die rechte Gesichtshälfte oder weiter unten an den Rest des Körpers gewagt.
Ich begriff jetzt, warum LaManche mich brauchte.
"Gab es auf der linken Gesichtshälfte eine offene Wunde?", fragte ich ihn.
"Oui. Und eine zweite am Hinterkopf. Verwesung und Fraßspuren machen es unmöglich, den Weg der Kugel zu bestimmen."
"Ich brauche einen vollen Satz kranialer Röntgenaufnahmen", sagte ich zu Lisa.
"Ausrichtung?"
"Alle Winkel. Und ich brauche den Schädel."
"Unmöglich." Beobachter Nummer vier erwachte plötzlich zum Leben. "Wir haben eine Vereinbarung."
LaManche hob eine latexverhüllte Hand. "Ich habe die Pflicht, in dieser Sache die Wahrheit herauszufinden."
"Sie haben uns Ihr Wort gegeben, dass keinerlei Proben einbehalten werden." Obwohl der Mann eine Gesichtsfarbe wie Haferschleim hatte, zeigten sich auf seinen Wangen jetzt rosige Knospen.
"Außer wenn es absolut unvermeidbar ist." LaManche war die Sachlichkeit in Person.
Beobachter Nummer vier wandte sich dem Mann auf seiner Linken zu. Beobachter Nummer drei hob das Kinn und schaute durch gesenkte Lider nach unten.
"Lassen Sie ihn sprechen." Gelassen. Der Rabbi empfahl Geduld.
LaManche wandte sich mir zu.
"Dr. Brennan, fahren Sie mit Ihrer Untersuchung fort, wobei Sie jedoch den Schädel und alle nicht betroffenen Knochenpartien an Ort und Stelle belassen."
"Dr. LaManche ..."
"Wenn sich das als undurchführbar erweist, kehren Sie zur normalen Verfahrensweise zurück."
Ich mag es nicht, wenn man mir vorschreibt, wie ich meine Arbeit tun soll. Ich mag es nicht, mit weniger als den maximal zu erreichenden Informationen zu arbeiten oder weniger als das optimale Verfahren anzuwenden.
Doch ich mag und respektiere Pierre LaManche. Er ist der beste Pathologe, den ich kenne.
Ich schaute meinen Chef an. Der alte Mann nickte unmerklich. Ziehen Sie das mit mir durch, signalisierte er mir.
Ich hob den Blick zu den Gesichtern über Avram Ferris. In jedem erkannte ich den uralten Kampf zwischen Dogma und Pragmatismus. Der Körper als Tempel. Der Körper als Gänge und Ganglien und Pisse und Galle.
In jedem sah ich Verlustschmerz.
Denselben Schmerz, den ich erst Minuten zuvor mitgehört hatte.
"Natürlich", sagte ich leise. "Rufen Sie mich, bevor Sie die Schädelschwarte abziehen."
Ich schaute Ryan an. Er zwinkerte. Ryan der Bulle, hinter dem Ryan der Geliebte hervorlugte.
Die Frau weinte noch immer, als ich den Autopsieflügel verließ. Ihre Begleiterin, oder ihre Begleiterinnen, waren jetzt still.
Ich zögerte, weil ich mich nicht in persönliche Trauer eindrängen wollte.
War es das? Oder war es nur eine Ausrede, weil ich nichts damit zu tun haben wollte?
Ich werde oft Zeuge von Kummer. Immer und immer wieder bin ich an vorderster Front mit dabei, wenn Überlebende sich der plötzlichen Erkenntnis stellen müssen, dass ihr Leben sich radikal verändert hat. Mahlzeiten, die man nie mehr gemeinsam einnehmen wird. Gespräche, die nie geführt werden. Kinderbücher, die nie mehr laut vorgelesen werden.
Ich sehe den Schmerz, aber ich kann keine Hilfe anbieten. Ich bin ein Außenstehender, ein Voyeur, der nach dem Unfall, nach dem Feuer, nach der Schießerei gafft. Ich gehöre zum Heulen der Sirenen, zum Spannen der Absperrbänder, zum Zuziehen des Leichensacks.
Ich kann überwältigenden Kummer nicht lindern. Ich hasse meine Machtlosigkeit.
Ich kam mir vor wie ein Feigling. Dennoch betrat ich das Familienzimmer.
Zwei Frauen saßen nebeneinander, dicht zusammen, doch ohne sich zu berühren. Die jüngere hätte dreißig, aber auch fünfzig sein können. Sie hatte blasse Haut, dichte Augenbrauen und lockige, dunkle, im Nacken zusammengefasste Haare. Sie trug einen schwarzen Rock und einen langen, schwarzen Pullover mit hoch angesetzter Kapuze, die ihren Unterkiefer berührte.
Die ältere Frau war so runzlig, dass sie mich an die Puppen aus getrockneten Äpfeln erinnerte, die in den Bergen von Carolina gebastelt werden. Sie trug ein knöchellanges Kleid, dessen Farbe irgendwo zwischen Schwarz und Purpur lag. Lose Fäden baumelten, wo eigentlich die oberen drei Knöpfe hätten sein sollen.
Ich räusperte mich.
Apfel-Oma hob den Kopf, und ich sah Tränen auf dem Gesicht der zehntausend Falten glänzen.
"Mrs. Ferris?"
Die knotigen Finger knüllten ein Taschentuch.
"Ich bin Temperance Brennan. Ich assistiere bei Mr. Ferris' Autopsie."
Der Kopf der alten Frau kippte nach rechts, und ihre Perücke verrutschte.
"Mein aufrichtiges Beileid. Ich weiß, wie schwierig das für Sie ist."
Die Jüngere hob zwei atemberaubend fliederfarbene Augen. "Wirklich?"
Gute Frage.
Ein Verlust ist schwer zu verstehen. Ich weiß das. Mein Verständnis von Verlust ist unvollständig. Auch das weiß ich.
Mein Bruder starb an Leukämie, als er gerade mal drei Jahre alt war. Meine Großmutter war bereits über neunzig, als ich sie verlor. Jedes Mal war die Trauer wie ein lebendiges Wesen, das in meinen Körper eindrang und sich tief im Mark und in den Nervenenden einnistete.
Kevin war kaum mehr als ein Baby gewesen. Oma lebte in Erinnerungen, in denen ich nicht vorkam. Ich liebte sie beide. Aber sie waren nicht das ausschließliche Zentrum meines Lebens, und beide Todesfälle kamen nicht unerwartet.
Wie geht man mit dem plötzlichen Tod eines Partners um? Eines Kindes?
Ich wollte es mir gar nicht vorstellen.
Die jüngere Frau machte weiter, wo sie aufgehört hätte. "Wie können Sie sich anmaßen, den Kummer zu verstehen, den wir empfinden?"
Unnötig aggressiv, dachte ich. Auch linkische Beileidsbezeugungen sind Beileidsbezeugungen.
"Natürlich kann ich das nicht", sagte ich und schaute zwischen ihr und ihrer Begleiterin hin und her. "Das war wohl wirklich etwas anmaßend."
Keine der beiden Frauen sagte etwas.
"Ich bedaure Ihren Verlust sehr."
Die junge Frau wartete so lange, dass ich schon glaubte, sie würde gar nicht mehr antworten.
"Ich bin Miriam Ferris. Avram ist ... war mein Ehemann." Miriam hob die Hand und zögerte dann, als wüsste sie nicht mehr so recht, was sie damit machen wollte. "Dora ist Avrams Mutter."
Die Hand flatterte kurz in Doras Richtung und sank dann wieder zu ihrem Gegenstück.
"Ich nehme an, unsere Anwesenheit bei der Autopsie ist gegen die Vorschriften. Wir können ja nichts tun." Miriams Stimme klang heiser vor Trauer. "Das ist alles so ..." Sie ließ den Satz unvollständig, nahm aber den Blick nicht von mir.
Ich suchte nach etwas Tröstendem oder Aufmunterndem oder wenigstens Beruhigendem, das ich den beiden hätte sagen können. Aber mir fiel nichts ein. Also griff ich wieder zu einem Klischee.
"Ich weiß wirklich, was für ein Schmerz es ist, eine geliebte Person zu verlieren."
Doras rechte Wange zuckte. Sie ließ die Schultern hängen und senkte den Kopf.
Ich ging zu ihr, kauerte mich hin und legte meine Hand auf ihre.
"Warum Avram?" Tränenerstickt. "Warum mein einziger Sohn? Es sollte nicht sein, dass eine Mutter ihren Sohn begräbt."
Miriam sagte etwas auf Hebräisch oder Jiddisch.
"Wer ist dieser Gott? Warum tut er uns das an?"
Miriam sagte noch etwas, diesmal mit leisem Tadel in der Stimme.
Dora schaute zu mir hoch. "Warum hat er mich nicht genommen? Ich bin alt. Ich bin bereit." Die runzligen Lippen zitterten.
"Das kann ich Ihnen nicht sagen, Ma'am." Jetzt klang auch meine Stimme heiser.
Eine Träne tropfte von Doras Kinn auf meinen Daumen.
Ich schaute diesen einzelnen Tropfen an.
Ich schluckte.
"Kann ich Ihnen einen Tee bringen, Mrs. Ferris?"
"Wir kommen schon zurecht", sagte Miriam. "Vielen Dank." (...)

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