Kathy Reichs: "Knochenlese"


Wenn eine forensische Anthropologin Romane über ihre eigene Arbeit schreibt, dann lernen die Leserinnen und Leser auf jeden Fall schon einmal eine ganze Menge über forensische Anthropologie. Dass es möglich ist, diesen Unterricht auch mit einer interessanten Art von Kriminalerzählung zu verbinden, hat Frau Reichs bereits in ihren ersten vier Büchern zweifelsfrei bewiesen, und sie übertrifft hier sicherlich die Arbeit von der bekannteren Patricia Cornwell zumindest im Bereich der jüngeren Werke bei weitem.

Tempe Brennan, die Heldin der vorherigen Romane, befindet sich in Guatemala, um hier bei der Untersuchung von Grabstätten aus der innenpolitisch heißen Phase zu helfen. Während eine wichtige Ausgrabung läuft, werden zwei ihrer Mitarbeiter auf dem Rückweg von Guatemala City überfallen. Einer wird getötet, und die andere Mitarbeiterin ist nach einer  schweren Schussverwundung in einem Koma. Doch Tempe hat nicht viel Zeit sich um diese Dinge zu kümmern, denn sie wird von der Polizei von Guatemala City gebeten, bei der Untersuchung einiger seltsamer Mordfälle zu helfen, bei denen sich auch die Tochter eines kanadischen Diplomaten unter den Opfern zu befinden scheint. Zunächst widerwillig stimmt sie schließlich zu, nur um die ersten Knochen, die sie aus einer Art Senkgrube sichert direkt an Vertreter der guatemaltekischen Polizeibürokratie zu verlieren. Durch die Hilfe eines guatemaltekischen Polizisten namens Galiano, der sich später als ein alter Schulfreund ihres Beinahliebhabers Ryan herausstellt, gelingt es ihr aber trotzdem, die Überreste der Verstorbenen näher in Augenschein zu nehmen. Dabei findet sie auch die Überreste eines Embryos unter den anderen Knochen.

Wenig später bekommt die Polizei einen Anruf, der sie auf den möglichen Fundort der Leiche eines weiteren verschwundenen Mädchens hinweist, und sehr schnell ist zu dieser Leiche auch ein passender Verdächtiger gefunden. Kurz darauf werden die Eltern der verschwundenen Diplomatentochter davon verständigt, dass diese zusammen mit einem anderen verschwundenen Mädchen in Montreal von der Polizei verhaftet wurde, nachdem sie in einem Supermarkt einige CDs gestohlen hatte. Die erleichterte Mutter bittet Tempe, sie nach Kanada zu begleiten und ihr zu helfen, die "verlorene Tochter" mit nach Guatemala zurück zu bringen. In Kanada benutzt Tempe dann CAT-Scans von dem Schädel der unbekannten Leiche aus der Sickergrube um ein Modell anfertigen zu lassen, auf dem einer ihrer Assistenten eine Gesichtsrekonstruktion macht. Diese hat erstaunliche Ähnlichkeit mit dem vierten und letzten verschwundenen Mädchen auf der Liste der guatemaltekischen Polizei. Diese junge Dame hatte zuvor in einem Krankenhaus gearbeitet und sich dort mit einer Ärztin zerstritten.

Im weiteren Verlauf der Geschichte werden die Fäden immer weiter gespannt und führen über die Ermordung eines Reporters in Montreal, der Tempe bereits in Guatemala genervt hatte, zurück nach Guatemala City und zu den Leichen aus der Zeit der politischen Unruhen. Von hier aus nimmt die Story einen weiteren globalen Bezug und bleibt bis zum Schluss interessant und spannend. Wie schon in den zuvor veröffentlichten Romanen stellt sich für Tempe ihre Arbeit immer wieder wie ein Aufräumen auf dem Schlachtfeld dar, das wir als menschliche Rasse auf diesem Planeten in unserem Zusammenleben geschaffen haben, was für die gute Doktorin eine Quelle ständiger Depressionen und Albträume ist, und man ist wirklich überrascht, dass sie es schafft, nicht in ihre alte alkoholische Gewohnheiten zurückzufallen. Alles in allem ein lesenswerter Roman, wenn man sich sehr für Forensik, forensische Anthropologie, Archäologie und medizinische Ethik interessiert oder wenn man mehr darüber lernen möchte. Denn das tut man auf jeden Fall, auch wenn man den Roman "nur" als einen netten kleinen Krimi liest, der er sicherlich auch ist.

 (K.-G. Beck; 08/2002)


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