Oliver Lubrich: "Reisen ins Reich 1933-1945"
REISEN AUF DEM VULKAN - Erfahrungen ausländischer Besucher im Dritten Reich
Wahrscheinlich ist über keinen Menschen
in der Geschichte der Menschheit so viel geschrieben worden wie über
Adolf Hitler. Und
selten hat es einen gegeben, bei dem jeder im Voraus so genau weiß, wie man über
ihn zu schreiben hat. Die geringste Abweichung vom gewohnten Duktus führt sonst
zum Generalverdacht, sich als Autor nicht aufrichtig und ernst genug mit dem
Thema Nazismus und seinen Verbrechen beschäftigt zu haben, oder sogar zur
Unterstellung, heimliche Sympathien für den Auslöser einer der größten
Katastrophen der Menschheit zu hegen.
All das muss vorausgeschickt
werden, um die leichte Verkrampftheit zu erklären, die man den
Kommentaren
dieses insgesamt ausgezeichneten Buches Seite für Seite entnimmt. Der 34jährige
Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich, in diesem Jahr schon mit der Herausgabe
zweier anderer Bücher in der Anderen Bibliothek, Alexander von Humboldts
"Ansichten der
Kordilleren" und "Kosmos",
aufgefallen - was dem "Spiegel" eine Titelgeschichte wert war - gehört
sicherlich nicht zur Gruppe der Neonazi-Verdächtigen. Er war Kurator einer
Ausstellung über jüdisches Leben in Deutschland, hat über jüdische Studien
publiziert, über Dracula und James Bond fabuliert und "Shakespeares
Selbstdekonstruktion" behauptet. All das spricht für einen akademisch
sattelfesten und politisch unverdächtigen Mann. Der Eiertanz, den er mit der
Präsentation von "Reisen ins Reich", einer Sammlung von Zeitungsberichten
ausländischer Schriftsteller der dreißiger und frühen vierziger Jahre, aufführt,
ist deshalb umso erstaunlicher.
Nur ein Beispiel. Wir alle kennen Max
Frisch, den Schweizer Autor des "Homo faber", "Montauk", "Stiller",
"Biedermann und die Brandstifter" u. v. a. mehr. Eine Galionsfigur der Gruppe 47,
ein Kosmopolit, der an der Enge seiner Heimat litt und seine intellektuelle
Außenseiterrolle kultivierte, ist primär sicherlich nicht als Nazi verdächtig.
Zwar las man immer wieder einmal, dass Frisch sich zur Nazi-Zeit zuwenig
feindselig gegen Deutschland gezeigt habe. Unter genauer Betrachtung und im
Vergleich mit anderen Angehörigen seiner Generation waren Frischs Ansichten aber
untadelig und von Weltoffenheit geprägt. Er war kein Antisemit wie die Großzahl
der damaligen Intellektuellen. Er durchschaute die Großsprecherei der Nazis und
fürchtete die Folgen ihres Rassenwahns, was man auch in seinem Beitrag in diesem
Buch feststellen kann - übrigens ein auf der Höhe seiner späteren Werke
stehender Text, der mit unnachahmlicher Beiläufigkeit schon 1935 aufzeigt, was
im damaligen Deutschland faul war. Seine Schilderung eines Ausstellungsbesuchs
mit einer Glocke, die Geburten und Todesfälle anzeigt, und seine lakonische
Umkehrung des Verhältnisses bei Textende ist eine literarische
Perle.
Trotzdem moniert Oliver Lubrich in seinem einleitenden Kommentar
Frischs allzu große "Nähe" zum Naziregime, da jener in einem Nebensatz den
Stuttgarter Hauptbahnhof als "besten Bahnhof in Deutschland" bezeichnet. Dass
dieser schon vor dem Dritten Reich, nämlich 1928, fertiggestellt wurde, wiegt da
weniger schwer als das Faktum, dass der Architekt des Bahnhofs später auch mit
der Planung von Reichsautobahnen beschäftigt war.
Wird man unter heutigen deutschen Intellektuellen so leicht zum Nazi? Ein tüchtiger
Architekt, der Straßentrassen plant, die uns heute noch dienlich sind? Und ein
Schweizer Schriftsteller und Architekt, dem die Arbeit des Kollegen gefällt?
Ich glaube, auf dieser Ebene zu nörgeln ist der politischen Korrektheit etwas
zuviel.
Mir gefällt das Konzept des Buches sehr, und die einleitenden
Texte Lubrichs, in denen er biografische Details mit einer Entstehungsgeschichte
der Texte würzt, heben den Lesegenuss beträchtlich. Auch den geschichtlichen
Abriss im Anhang und die Kurzbiografien der Autoren sind solide Arbeit. Einziger
Wermutstropfen ist die von Selbstzweifeln angekränkelte politische Haltung.
Schon die 35seitige Einleitung zum Buch deutet darauf hin, dass es keineswegs
falsch verstanden werden will. Es sind in dem Band zwar auch milde Anhänger der
Nazis aufgenommen worden im Versuch, einen Ausgleich der Stimmen zu schaffen.
Ganz davon abgesehen, dass man heutzutage aber eigentlich keine platten
Propagandastimmen mehr hören möchte, fragt man sich, warum überhaupt eine Art
Ausgleich versucht wird. Politische Neutralität zwischen Demokratie und
Totalitarismus wird man mit dem Buch doch auch wieder nicht vortäuschen wollen,
oder? Und wenn man doch einen Ausgleich versuchen wollte, weshalb desavouiert
man diese Autoren im Kommentar immer wieder? Einen Sven Hedin und andere
nordische Autoren, die sich im Dritten Reich recht kuschelig fühlten, sollte man
meiner Ansicht nach entweder weglassen oder ungeschoren lassen. Ganz abgesehen
davon, dass deren Beobachtungen zu den langweiligsten des Buches
gehören.
Kommen wir nun zum angenehmen Teil dieser Rezension. Die gewählten Beiträge
sind äußerst lesenswert. Das wird nicht weiter verwundern, denn es sind große
Namen darunter, Albert Camus,
Samuel Beckett, Jean Genet und viele Andere. Übertroffen
werden sie von den Beiträgen jener Autoren, die man weniger kennt. Die Promis,
deren Beiträge literarische Qualität haben, sind übrigens Max Frisch und
Karen
Blixen, die dänische Autorin von "Jenseits von Afrika", dem mit Robert
Redford verfilmten Bestseller. Blixens Analysen bestechen und zeigen Nazi-Deutschland
aus einer ungewöhnlichen und frischen Perspektive - was übrigens dem Herausgeber
am wenigsten gefällt. Sein Kommentar, in dem er eine Analogie Blixens kritisiert,
ist so kryptisch, dass man erst beim Durchlesen der Geschichte versteht, worauf
er sich bezogen hatte. Und gewinnt außerdem den Eindruck, dass er sie nicht
verstanden hat.
Noch spannender als die Erzählungen der
Promi-Schriftsteller fand ich aber die Abenteuer zweier Amerikaner. Martha Dodd,
die Tochter des amerikanischen Gesandten, die später aufgrund ihrer deutschen
Erfahrung zur kommunistischen Aktivistin mutieren und in den Osten fliehen
würde, war mal scherzhalber als Hitlers Ehefrau vorgesehen. Ihre Berichte sind
farbig und so interessant, dass man Lust bekommt, das gesamte Buch, dem sie
entnommen sind, zu lesen, "Through Embassy Eyes" (1940). Vielleicht legt es
irgendwer demnächst in Deutsch auf, ich glaube, es wäre die Mühe
wert.
Der zweite ist Howard Smith, ein amerikanischer Journalist mit
einer gut lesbaren Schreibe. Er markiert den Beginn des Untergangs von
Nazi-Deutschland mit dem 9. Oktober 1941, einer verunglückten Konferenz, bei der
man dem ausländischen Pressecorps vorschnell den Endsieg verkündigte. Klasse
Bericht, immer noch frische Lektüre.
Die Chronologie der Ereignisse ist
im Buch streng eingehalten, was einen romanhaften Spannungsbogen schafft. Die
Deutschen taumeln von Selbstherrlichkeit über Zweifel in die Katastrophe. All
das zu lesen, ist bittersüß. Als Roman wäre es spannend, als Tatsachenbericht
lässt es einen heute noch mit den Knien schlottern. Wie bedrückend das Leben im
Dritten Reich war, liest man sehr gut von diesen Kommentaren bloßer Besucher ab,
und welche Katastrophe der Bombenkrieg war, hat man selten so schonungslos
dargestellt gesehen.
Das Buch gehört zu den inhaltlich wertvollsten
Publikationen des Herbstes 2004. Übrigens ist die Herstellung hochwertig.
Einband, Papier, Druckbild, all das erinnert an die Qualität längst vergangener
Zeiten. Direkt angenehm, so etwas jenseits von Antiquariaten wieder einmal in
Händen zu halten.
(Berndt Rieger; 12/2004)
Oliver Lubrich: "Reisen ins Reich
1933-1945"
Eichborn, 2004. 400 Seiten.
ISBN 3-8218-4550-3.
ca. EUR
30,90.
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Oliver Lubrich, geboren 1970 in Berlin,
studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik und
Philosophie in Berlin, Saint-Étienne und Berkeley. Er unterrichtet seit 1999 am
Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien
Universität Berlin.
Publikationen u.a. zu Dracula und James Bond,
Museologie und jüdischen Studien, über
Shakespeare ("Shakespeares
Selbstdekonstruktion", Würzburg 2001) und Postkolonialismus ("Das Schwinden der
Differenz. Postkoloniale Poetiken", Bielefeld 2004).
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Leseprobe:
Die
Vorstellung, eine Reise in das Dritte Reich zu unternehmen, mag heute
einigermaßen abwegig erscheinen. Und vielleicht wurde aus diesem Grund die
Reiseliteratur über Nazideutschland als Thema übersehen. Dabei gingen zwischen
1933 und 1945 zahlreiche internationale Autoren nach Deutschland, deren Texte,
in denen sie ihre Erfahrungen zur Sprache brachten, inhaltlich aufschlußreich
sind und literarisch vielfältig.
Die ausländischen Beobachter kamen aus den unterschiedlichsten Gründen: Einige
lebten bereits in Deutschland, als Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, beispielsweise
als Sprachlehrer (wie Christopher Isherwood) oder als leitender Angestellter
in einem Betrieb (wie René Juvet). Sie kamen als Studenten ins Land (wie Shi
Min), als wissenschaftliche Stipendiaten (wie Jean-Paul Sartre), als Gastdozenten
(wie Denis de Rougemont), als Landstreicher (Jean Genet) oder zu einer Ruderregatta
(wie der spätere Kampfflieger Richard Hillary). Sie waren mehr oder weniger
privat unterwegs (wie
Albert Camus,
Annemarie Schwarzenbach oder Gunnar Ekelöf). Sie befanden sich (wie
Virginia Woolf
mit ihrem Mann Leonard) auf der Durchreise. Sie besuchten das Land als Kunstinteressierte
sowie zum Spracherwerb (wie Samuel Beckett). Sie arbeiteten als Korrespondenten
für ausländische Zeitungen und Rundfunkprogramme (wie
Georges
Simenon, William Shirer, Howard Smith, Harry Flannery, Jacob Kronika oder
Theo Findahl). Sie bewegten sich im Untergrund (wie Maria Leitner), um incognito
über die Zustände aufzuklären. Sie fanden sich auf Einladung der deutschen Regierung
ein (wie Jacques Chardonne oder Jòzsef Nyírö), um an einer Rundfahrt beziehungsweise
an einem Schriftstellerkongreß teilzunehmen. Sie kämpften im Krieg als Freiwillige
auf deutscher Seite (wie der schwedische Soldat der SS-Division "Nordland",
von dessen Erlebnissen das Buch Endkampf um Berlin erzählt). Oder sie trafen
ein mit den siegreichen alliierten Truppen (wie die Reporterin Virginia Irwin).
Hinter jeder Reise ist eine Geschichte zu entdecken, die bereits für sich Aspekte
des Alltagslebens und der Historie des Dritten Reiches beleuchtet.
Die reisenden Autoren kamen aus England und
den USA, Frankreich, Belgien und der Schweiz, Schweden, Norwegen und Dänemark,
Ungarn, China und aus vielen weiteren Ländern. Während in der Vorkriegszeit
zahlreiche prominente Schriftsteller aus aller Welt Deutschland besuchten
(sowohl solche, die seinerzeit bekannt waren - wie Sven Hedin oder Thomas Wolfe,
als auch solche, die erst später zu Ruhm gelangten - wie Jean-Paul Sartre oder
Albert Camus), konnten sich während des Zweiten Weltkrieges nur noch Angehörige
verbündeter, neutraler oder besetzter Staaten in Deutschland frei bewegen. Der
Anteil professioneller Beobachter nahm gegenüber denjenigen, die aus anderen
Gründen gekommen waren und nicht von vornherein den Vorsatz hatten, ihre Reise
zu beschreiben, zu.
Worüber schrieben die reisenden Autoren? Welche
Einsichten hatten sie? Und wie verhielten sie sich zu dem, was sie in
Deutschland erlebten?