Uwe Wittstock: "Marcel Reich-Ranicki"

Geschichte eines Lebens


Festschrift zum 85. Geburtstag eines Großmeisters

Mir fielen die Artikel Uwe Wittstocks vor etwa sieben Jahren auf, als er für die Frankfurter Allgemeine Zeitung aus Japan berichtete. Seit 2000 ist er bei der Tageszeitung "Die Welt" und tritt dabei regelmäßig in Wettstreit mit deren Amerikakorrespondenten Thorsten Krauel, wenn es um Nachrichten aus der U.S.A. geht, und das betrifft auch außerkulturelle Themen, zum Beispiel Wittstocks erhellende Kommentare vom Rande des Präsidentschaftswahlkampfs. Der gebürtige Leipziger gehört zu den unterhaltsamsten Autoren des deutschen Feuilletons, seine Artikel sind lebendiger, ungewöhnlicher und dadurch eindrucksvoller als die meisten seiner Kollegen. Man schaut dann bald im Feuilleton nach dem Namen und beginnt Artikel über Themen zu lesen, die einen sonst gar nicht so interessiert hätten - da die Unterschrift Uwe Wittstock bereits zu einem Gütezeichen geworden ist. In den letzten Jahren sind auch einige Bücher hinzugekommen. Seine umwerfend komischen Episoden aus dem bei C. H. Beck erschienenen Buch "Der Familienplanet" haben längst Kultstatus erreicht.

Gelernt hat der Autor bei einem anderen Großen des Feuilletons: Marcel Reich-Ranicki. Der Großmeister der deutschen Literaturkritik, der die Gruppe 47 in der Spätphase formte, den Ingeborg-Bachmann-Preis dominierte und mit dem Literarischen Quartett Unsterblichkeit erlangte - man bedenke nur das Nörgeli, eine Kunststoffreplika Reich Ranickis in zahlreichen Buchläden - pflegt einen einfachen, effektvollen Stil, und er hat auch über Jahrzehnte hinweg versucht, seine Autoren in ihren Beiträgen zu Knappheit und Prägnanz zu erziehen. Wittstock, der von 1980 bis 1988 in seiner Redaktion gearbeitet hat, hat von der Begegnung mit Reich-Ranicki offensichtlich profitiert. Seine Biografie des Meisters macht auch keinen Hehl daraus, dass hier ein Schüler huldigt. Aggressiver Enthüllungsjournalismus ist zu solchen Gelegenheiten nicht angesagt, und wenn von Hasstiraden und Morddrohungen mancher Autoren in der Vergangenheit gegen die damalige Literaturgroßmacht Reich-Ranicki berichtet wird, merkt man sogleich, dass Wittstock damals fest auf dessen Seite stand und heute noch steht.

Ist das so schlecht? Die Schrift erscheint wenige Monate vor dem 85. Geburtstag des Großkritikers, der mittlerweile längst versöhnlicher auftritt und sich vor einigen Jahren in die Herzen seines Publikums geschrieben hat. Seine Autobiografie "Mein Leben" gehört mit 1,5 Millionen verkauften Exemplaren zu den erfolgreichsten Buchveröffentlichungen der Nachkriegszeit. Ich habe das Buch mit Gewinn gelesen und dabei nicht nur Geschichtliches, sondern auch viel über Stil, sowohl auf sprachlicher wie auch erzählerischer Ebene, gelernt. Auch Wittstock, der sich in seinem Buch stark auf die Informationen in "Mein Leben" stützt und sie mehr oder minder nacherzählt, würdigt die maßvolle Zurückhaltung, mit der Reich-Ranicki von der schwierigsten Zeit seines Lebens, dem Überlebenskampf im Warschauer Ghetto und das Versteckspiel danach, von den erlittenen Qualen berichtet.

Wer "Mein Leben" schon kennt, wird in Uwe Wittstocks neuem Buch wenig Neues finden. Es ist im Grunde genommen die Kurzfassung eines weit umfangreicheren Buches mit einigen Ergänzungen in Fällen, wo Reich-Ranicki selbst befangen war. "Marcel Reich-Ranicki" ist angenehm zu lesen, wenn auch ungewöhnlich zahm. Das überrascht, wenn man Wittstocks Artikel und anderweitigen Bücher kennt. Man hat fast den Eindruck, dass er bei der Arbeit an seiner Vaterfigur Beißhemmung entwickelt hat. Ich stellte mir unwillkürlich vor, wie Wittstock mit der Endfassung des Manuskripts in Reich-Ranickis Frankfurter Wohnung vorspricht und es ihm mit den Worten überreicht: "Prüft alles, Meister, und wenn darin etwas vorkommen mag, das Euch schmerzt, streicht es bitte mit dem dicken fetten Buntstift gleich heraus." Und so kam es, dass wir ein informatives, professionell geschriebenes Buch in Händen haben, aber man hat nach der Lektüre doch den Eindruck einer gewissen Blutleere.

(Berndt Rieger; 03/2005)


Uwe Wittstock: "Marcel Reich-Ranicki"
Blessing, 2005. 288 Seiten; 70 Abbildungen.
ISBN 3-89667-274-6.
ca. EUR 20,60.
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Marcel Reich-Ranicki starb am 18. September 2013 im Alter von 93 Jahren.
Uwe Wittstock wurde am 5. Juni 1955 in Leipzig geboren. Lien zur Netzseite des Autors: https://www.uwe-wittstock.de/

Ein weiteres Buch des Autors:

"Der Familienplanet"

Hartnäckige Gerüchte besagen, Eltern würden Kinder zur Welt bringen. Das stimmt natürlich nicht. Vielmehr sind es die Kinder, die ihre Eltern mit dem Tag der Geburt schlagartig in eine neue, seltsame Welt befördern - auf den Familienplaneten. Auf diesem fremdartigen Gestirn ist alles anders, geheimnisvoll und unfassbar. Der zuvor kinder- und deshalb komplett ahnungslose Erwachsene stößt hier auf so erstaunliche Erscheinungen wie Super-Soaker, Benjamin Blümchen, Bro Sis oder rutschige kleine Legosteine auf der obersten Treppenstufe. Auf dem speziellen Familienplaneten, auf den es Uwe Wittstock verschlug, leben außer seiner Frau Annette noch die Söhne Nicolas (12 Jahre), Marten (9) und Lennart (6). Wittstock erklärt, was kultivierten Erwachsenen ohne Kinder unvorstellbar ist: Wieso auf einem Familienplaneten PlayMo-Figuren reden können, insbesondere wenn es Butler sind, was Klavierunterricht mit der Kostenexplosion im Gesundheitswesen zu tun hat, warum künftig alle Kühe Ohrenschützer tragen müssen und weshalb sich in kinderreichen Haushalten Pazifismus bestens als Drohkulisse eignet.
Ein hinreißendes und von Manfred Bofinger prächtig illustriertes Lesevergnügen für alle jungen Eltern, und für alle, die junge Eltern werden möchten - und natürlich für alle, die junge Eltern besuchen, beschenken oder endlich begreifen wollen. (C. H. Beck)
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Leseprobe:

Kindheit in Wloclawek, Jugend in Berlin

Die politischen Verwerfungen des zwanzigsten Jahrhunderts haben schon in der Geschichte seiner Namen ihre Spuren hinterlassen: Marcel Reich-Ranicki wurde am 2. Juni 1920 als Marcel Reich in der polnischen Kleinstadt Wloclawek geboren. Zumindest trugen die Standesbeamten diesen Namen in seine Geburtsurkunde ein. Später, nachdem er von Deutschland nach Polen deportiert worden war, ging die Urkunde im Warschauer Getto verloren. In jener Zeit waren die antideutschen Affekte in dem von der Wehrmacht besetzten und verwüsteten Land derart übermächtig, daß er sich Marceli nannte, nachdem ihn Freunde davon überzeugt hatten, der Vorname Marcel sei in Polen ungebräuchlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm er dann auf Wunsch seiner damaligen Vorgesetzten in Warschau auch einen polnisch klingenden Nachnamen an und hieß nun Marceli Ranicki. Als er schließlich 1958 in die Bundesrepublik übersiedelte, entschied er sich, den selbstgewählten Namen mit seinem Geburtsnamen zu Marcel Reich-Ranicki zu verschmelzen. Kurz, die politischen Konfrontationen griffen so tief in sein Leben ein, daß sie mehrfach sogar die sonst selbstverständlich erscheinende Einheit von Name und Person zerrissen. Das Gefühl einer ungefährdeten, weitgehend bruchlosen, fraglos anerkannten Identität kannte er zumindest in der ersten Hälfte seines Lebens nicht. Geprägt wurde er vielmehr, wie sich schon an diesen Namen symbolisch ablesen läßt, durch das Ringen zwischen hartnäckigem Selbstbehauptungswillen und einem politischen Anpassungsdruck, der für lange Jahre in mörderische Verfolgung umschlug.
In seiner Familie war der kleine Marcel Reich ein Nachzügler, das mit deutlichem Abstand jüngste von drei Geschwistern. Sein Bruder Alexander Herbert war neun Jahre, seine Schwester Gerda dreizehn Jahre älter als er. Der Vater, David Reich, Jahrgang 1880, und die Mutter, Helene Reich, Jahrgang 1884, konnten sich bei seiner Geburt nicht mehr zu den jungen Eltern zählen. Ob er deshalb in seiner frühesten Kindheit in besonderer Weise bemuttert und verwöhnt wurde, ob er also die Rolle eines typischen Nesthäkchens spielte, läßt sich nicht rekonstruieren. Seine Erinnerungen setzen erst ein zur Zeit kurz vor oder zeitgleich mit seiner Einschulung: "Ich war fünf oder sechs Jahre alt, als meine Mutter während eines kurzen Besuchs bei ihrer Berliner Familie Weichselufer in Wloclawek zwischen den Weltkriegen in einem Kaufhaus Kindergarderobe mit der Aufschrift 'Ich bin artig' sah. Das fand sie amüsant. Ohne die möglichen Folgen zu bedenken, ließ sie auf meine Blusen und Kittel (...) ebendiese Aufschrift in polnischer Übersetzung sticken. Rasch wurde ich zum Gespött der Kinder - und reagierte darauf mit Wut und Trotz: Brüllend und prügelnd wollte ich jenen, die sich über mich lustig machten, beweisen, daß ich besonders unartig war. Das trug mir den Spitznamen 'Bolschewik' ein."
Die Geburtsstadt Wloclawek lag bis zum November 1918, also anderthalb Jahre bevor Reich-Ranicki geboren wurde, nur wenige Kilometer von der deutsch-russischen Grenze entfernt. Polen war seit 1795 von der politischen Landkarte verschwunden gewesen, aufgeteilt zwischen Rußland, Österreich und Preußen, und konnte seine nationale Unabhängigkeit erst mit dem Ende des Ersten Weltkriegs zurückgewinnen. Wloclawek war zu der Zeit von Reich-Ranickis Geburt, so erinnerte sich später einer seiner Freunde, Tadeusz Nowakowski, ein lebendiges Industriestädtchen an der Weichsel mit der "größten Papierfabrik in Polen", mit "stets überfüllten Gassen, die sich, sobald die Bauern zum Einkaufen kommen, in einen Basar verwandeln. Viele Tauben und Spatzen. Weiße Kopftücher der Dorffrauen. Flottillen von Panjewagen auf dem Grünen Markt." Reich-Ranicki selbst hält sich, wenn er seiner Geburtsstadt gedenkt, nicht bei solch pittoresken Reizen auf, sondern steuert, wie üblich, rasch zu aufs Zentrum des kulturellen Angebots: "Es gab dort mehrere große Fabriken, drei Kinos und kein Theater." Wloclawek zählte in den zwanziger Jahren rund sechzigtausend Einwohner, ein Viertel davon waren Juden. Die Stadt gehörte zum ehemals russischen Gebiet des aufgeteilten Polens, zum sogenannten Kongreßpolen, doch die Juden von Wloclawek hatten, wie Reich-Ranicki schreibt, "eine auffallende Schwäche für die deutsche Kultur".
Nach der Wiederherstellung Polens befand sich Wloclawek mit einem Mal nicht mehr an der Peripherie Rußlands, sondern im Zentrum des neuen Staates. Die folgenden Jahre waren politisch extrem unruhig, das junge, sehr nationalbewußte Polen trug mit fast allen Nachbarländern blutige Grenzkonflikte aus: mit der Tschechoslowakei wegen des Gebietes um Teschen, mit Deutschland wegen Oberschlesiens und Danzigs, mit Litauen wegen der Region um Wilna und mit der frisch gegründeten Sowjetunion wegen der Ukraine und der weißrussischen Gebiete bis Minsk. Schon die früheste Kindheit Reich-Ranickis fällt in nicht eben friedliche Zeiten. Im April 1920 befahl Marschall Józef Pilsudski, der starke Mann Polens, den Einmarsch in die Ukraine. Am 7. Mai, also vier Wochen bevor der kleine Marcel Reich zur Welt kommt, eroberten die polnischen Truppen Kiew. Doch die Gegenoffensive der Roten Armee drang fast bis Warschau vor und konnte von Pilsudski erst Mitte August, sechs Wochen nach Marcel Reichs Geburt, durch das »Wunder an der Weichsel« zurückgeworfen werden. Schon allein in Erinnerung an diesen Feldzug dürfte der Spitzname "Bolschewik" seinerzeit in polnischen Ohren einen wenig schmeichelhaften Beiklang gehabt haben. Sämtliche Grenzstreitigkeiten des noch jungen Landes blieben weitgehend unausgeräumt und überschatteten das Verhältnis zu den Nachbarstaaten in der folgenden Zeit. So konnte Polen dort kaum mit Sympathien rechnen, als es zwanzig Jahre später, gleich nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, zwischen Deutschland und der Sowjetunion erneut aufgeteilt wurde.
Reich-Ranickis Mutter, Helene Reich, geborene Auerbach, war in Deutschland aufgewachsen, im Grenzgebiet zwischen Schlesien und der Provinz Posen. Sie entstammte einer materiell armen, aber an Traditionen reichen Rabbiner-Familie, die nach einer gern gepflegten und nie überprüften Legende weitläufig verwandt war mit dem schwäbischen Erzähler Berthold Auerbach (1812-1882), einem der populärsten deutschen Schriftsteller seiner Zeit. Helene Auerbach hatte eine Schwester und fünf Brüder, von denen nur der älteste als Rabbiner die Familientradition fortsetzte. Die übrigen vier wurden Patent- beziehungsweise Rechtsanwälte - womit sie sich allerdings, wie Reich-Ranicki einmal anmerkt, vom Beruf ihrer Vorfahren nicht allzu weit entfernten. Denn Rabbiner waren über Jahrhunderte hinweg nicht nur Geistliche, sondern übernahmen in ihren Gemeinden zugleich das Amt des Lehrers und das des Richters. Bedenkt man, welcher geradezu forensische Furor und pädagogische Eifer die Arbeit des Kritikers Reich-Ranicki prägt, darf man auch ihm eine gewisse Treue zu den beruflichen Vorlieben der Familie seiner Mutter nachsagen.
Über den väterlichen Zweig der Familie ist nur wenig bekannt. Reich-Ranickis Großvater, Markus Reich, soll ein erfolgreicher Kaufmann gewesen sein, der in Plozk, einer zwischen Wloclawek und Warschau an der Weichsel gelegenen Kleinstadt, ein Mietshaus besaß. Die Familie pflegte musische Interessen; David Reich, Reich-Ranickis Vater, spielte in seiner Jugend Geige, und er sprach neben Polnisch auch fließend Russisch, Jiddisch und Deutsch. Eine seiner Schwestern wurde Zahnärztin, eine andere ließ sich am Warschauer Konservatorium zur Opernsängerin ausbilden und trat in Lodz unter anderem als Madame Butterfly auf.
Die Kinder David Reichs zeigten dann später ganz ähnliche Neigungen: Reich-Ranickis Bruder Alexander Herbert promovierte an der Berliner Universität in Zahnmedizin, seine Schwester Gerda spielte voller Begeisterung Klavier und studierte in Warschau Philologie. Und an der Leidenschaft Marcels für Literatur und Musik ist schlechterdings kein Zweifel möglich.
David Reich hat sich nicht zuletzt um die musikalische Bildung seines jüngsten Sohnes bemüht und damit bei ihm bleibende Eindrücke hinterlassen: "Als kleines Kind hörte ich immer wieder Schallplatten. Mein Vater (...) hatte diese Platten ausgewählt. Meist waren es Arien und Duette aus Opern, die in seiner Jugend schlagartig bekannt wurden: Othello, La Bohème, Madame Butterfly, Cavalleria rusticana. Aus jener Zeit rührt meine Schwäche für die italienische Oper, zumal für Verdi und Puccini; und noch heute werden, wenn Mimi stirbt, meine Augen feucht."
Die jüdische Religion spielte im Alltag der Familie keine große Rolle. Der Vater war auf eine gewohnheitsmäßige, zurückhaltende Weise gläubig, er besuchte am Sabbat und an Feiertagen die Synagoge, doch nicht unbedingt aus spirituellen Bedürfnissen. Für viele Juden ist die Synagoge ja nicht nur ein Gotteshaus, sondern auch ein geselliger Ort. Man trifft sich dort zum Gebet, aber auch, um mit Bekannten und Freunden zu sprechen. Der Vater wollte seinen Sohn gern regelmäßig mit in die Synagoge nehmen, doch da der sich dort langweilte und lieber zu Hause bleiben wollte, gab er bald nach.

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