Marcel Reich-Ranicki: "Aus persönlicher Sicht"
Gespräche
Der
Hüter des Niveaus
"Ich bin schließlich keine 80 mehr" - mit diesem herrlich
selbstironisch-lakonischen Satz begründete MRR
seinen Entschluss, im August 2006 nun endgültig und
unwiderruflich kein 'Literarisches Quartett' zu machen. Man
könnte auch feststellen, dass sich dieser ungeheuerliche
Schaffenskreis ganz ganz allmählich zu runden beginnt. Mit dem
eben genannten 'Literarischen Quartett' hat MRR absolute
Maßstäbe für Kulturdiskurs im Fernsehen
gesetzt - rigoros und unerbittlich - sein 'Kanon' (Romane,
Erzählungen, Dramen, Gedichte, Essays) liegt gerade
vollständig vor - und nun also nach seiner großen
Autobiografie 'Mein
Leben' eine Auswahl seiner Gespräche 1999 - 2006
respektive seine wichtigsten Interviews, zu denen es heißt:
"Kein Gespräch führt er ohne Grund, ohne
Leidenschaft, in jedem setzt er ein Ausrufezeichen gegen das Banale"
(vgl. Klappentext). Man kann sich MRR ohnehin am besten als
Gesprächspartner (in selbstverständlich dominanter
Position) vorstellen - und wir hören beim Lesen dieser
spannenden Dialoge sein apodiktisch-schneidendes Organ, welches ebenso
unwirsch wie kompetent jegliches Widerborst in quantitées
négligables zerlegt.
Schon im ersten hier wiedergegebenen Interview fällt ein
wesentlicher Satz: "Ich habe in der Literatur Schutz gesucht, weil ich
diesen Schutz im Leben nicht gefunden habe." Es ist auch
erwähnenswert, dass ihn der Kritiker aus der Zeit der Weimarer
Republik, Alfred Kerr, dermaßen faszinierte, dass er
beschloss auch Kritiker zu werden. MRR gesteht, dass er die
Literaturszene im Internet überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt
- obwohl er mit Überzeugung seine Texte am Computer schreibt,
weil es sich hiermit problemlos korrigieren lässt. Ein
weiterer Kernsatz sticht heraus, weil er kontrapunktisch zu sein
scheint: "Man kann kann mit der Literatur die politische Wirklichkeit
nicht verändern." Und dann wird er richtig
knurrig-sarkastisch: "Wer in Deutschland mit Romanen auf die politische
Situation Einfluss nehmen will, muss schlechte Bücher mit
einer anständigen Gesinnung schreiben." Das sagt uns also
dieser Hüter des Niveaus im Literaturbetrieb. Als Liebhaber
des 'Kommunistischen Manifests' bleibt MRR dennoch mit
Überzeugung Kritiker - statt Politiker - und stellt fest:
"Meine Heimat ist die deutsche Literatur." Und noch spezifischer
ergänzt er später: "Ich habe eine Ehe mit der
Literatur und eine Liebesgeschichte mit der Musik."
In einem "Spiegel"-Interview des Jahres 2001, in welchem ein
möglicher Literaturkanon für die Schule diskutiert
wird, empfiehlt MRR durchaus auch erotische Literatur für den
Deutschunterricht, da die Liebe ohnehin das wichtigste Thema der
Literatur sei. Ein Lehrer müsse die Literatur lieben - dann
könne Lesen für die Schüler auch
Spaß machen. Seine Rolle als Kritiker hat MRR immer als eine
Mischung aus Schulmeister und Unterhalter gesehen - z.B. auch gerade im
'Literarischen Quartett'. MRR bekennt, er habe bereits die
'Weltbühne' gelesen, während andere in seinem Alter
noch Karl
May lasen - an Letzterem störte ihn
übrigens das von ihm so gesehene zentrale Motiv: "Der deutsche
Übermensch, der Ordnung schafft."
Grundsätzlich ist MRR der Meinung, dass der Kritiker auf die
Leser Rücksicht nehmen muss, nicht auf die Autoren! Sein Credo
diesbezüglich lautet: "Ich möchte den Lesern
erklären, warum bestimmte Bücher gut und
schön sind." Das absolute Glanzlicht des vorliegenden Bandes
ist übrigens das Gespräch mit Elke Heidenreich im
Rahmen der lit.COLOGNE im März 2005
(mittlerweile auch als Hör-CD beim Kein & Aber Verlag
Zürich als äußerst temperamentvoller
Mitschnitt erhältlich!). Die Pointe - MRR: "Liebe, ich bin,
was Sie freundlicherweise noch nicht wissen, ein älterer
Mensch." - EH: "Ich auch, Liebster, ich auch." - das könnte
doch genausogut von Shakespeare sein! Und Heidenreich stellt fest, dass
sie beide ein "aufklärerisch-sentimentales"
Verhältnis zur Literatur haben. Als Krönung
fällt der Satz: "Ohne Liebe zur Literatur gibt es keine
Kritik."
Wenn wir noch lesen, dass MRR nicht an Gott glaubt, sondern "an
Shakespeare und Goethe,
Mozart
und Beethoven"
und dass er bei seiner Totenfeier "keinerlei religiöse
Akzente" haben möchte, dann verstehen wir seine
Rigososität. Genau wegen dieser Charakterhaltung sollten wir
MRR schätzen - und wir können viel Ernsthaftes, aber
auch Anekdotisches in diesem Sammelband entdecken.
(KS; 08/2006)
Marcel
Reich-Ranicki: "Aus persönlicher Sicht"
DVA, 2006. 380 Seiten.
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Ein
Hörbuchtipp:
Elke Heidenreich - Marcel Reich-Ranicki: "Wozu lesen?"
Mitschnitt von der lit.COLOGNE 2005
Was lesen, wie lesen, wozu
lesen?
Unzählige Male wurde dieses
Frage-und-Antwort-Spiel schon inszeniert und aufgeführt;
langweilig ist das nie, vorausgesetzt die richtigen Akteure betreten
die Bühne - unerreicht seit langem: Marcel Reich-Ranicki und
Elke Heidenreich. Diese beiden Kritiker miteinander über
Literatur reden und streiten zu hören, ist aus vielerlei
Gründen ein Genuss, denn nicht nur lehrreich und mit viel Witz
und Selbstironie wird der Zuhörer in die unendlichen Weiten
der Literatur entführt, mitunter sind die Dialoge so
großartig, dass sie so mancher Autor insgeheim darum beneiden
mag. (Kein & Aber)
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