Elisabeth Reichart: "Februarschatten"
Erzählung
Mühlviertler Menschenjagd
Wer in Österreich Vergangenheitsbewältigung versucht,
gerät unwillkürlich nach Oberösterreich,
zum Schloss Hartheim und dem Konzentrationslager Mauthausen. Hartheim
war die Versuchsanlage für die Massenvernichtung mit Gas der
Lubliner Lager Belzec, Sobibor und Treblinka, deren Opfer an die zwei
Millionen zählten. Mauthausen war eines jener
Konzentrationslager, in denen "Vernichtung durch Arbeit" betrieben
wurde. Im Gegensatz zu Tausenden anderen Lagern reihte es sich somit in
eine der schlimmsten Vernichtungsstätten ein. Zugleich steht
Mauthausen aber auch für die Erinnerungskultur, die uns vor
dem Vergessen und vor einer Wiederholung dieser Verbrechen bewahren
soll, denn einer der dort überlebenden Häftlinge,
Simon Wiesenthal, wurde zur Speerspitze der Aufklärung
über die Verbrechen der Nazizeit.
Vor diesem Hintergrund haben lange nach Kriegsende auch
österreichische Schriftsteller zögernd damit
begonnen, über den Holocaust zu schreiben. Davon hatte
Thomas
Bernhards "Heldenplatz" in der Inszenierung von Claus Peymann die
größte Breitenwirkung. Danach kommt aber schon der
kleine, verhaltene Roman "Februarschatten" der
Oberösterreicherin Elisabeth Reichart, der 1984 erstmals
erschien und nun im Otto Müller Verlag wieder neu aufgelegt
wird. Ohne "Februarschatten" sind weitere Werke zur
"Mühlviertler Hasenjagd" wie Andreas Grubers Film "Vor lauter
Feigheit gibt es kein Erbarmen" aus dem Jahr 1994 oder Helmut Rizys
Roman "Hasenjagd im Mühlviertel" von 1995 undenkbar.
Zahlreiche weitere Schriftsteller haben sich jener Nacht vom 2. auf den
3. Februar 1945 angenommen, in der die Landbevölkerung um
Mauthausen von der SS als letztes Aufgebot gezwungen wurde, sich an der
Jagd nach entflohenen Sträflingen zu beteiligen. Die
Bestialität dieser letzten Kriegsmonate zeigte sich auch im
Verhalten der an der "Hasenjagd" Beteiligten. Der zynische Begriff
beschreibt den Versuch, etwa 500 russische Offiziere, die in Mauthausen
gefangen gehalten wurden, und denen die Flucht gelang, wie Wild zu
jagen. Heute vernimmt man mit Entsetzen, dass die meisten der
Entflohenen ermordet und wie Jagdtrophäen am
Stützpunkt Ried in der Riedmark gestapelt wurden. Es
wäre allerdings billig, die Bestialität dieser Tage
den Beteiligten anzulasten. Wie Elisabeth Reichart in ihrem Buch
glaubhaft macht, verband sich hier Not und Entbehrung der Zeit, die
Psychose des "Totalen Kriegs" und der unendliche Druck des
diktatorischen Regimes zur Ausweglosigkeit menschlichen Verhaltens.
Der Roman ist knapp 100 Seiten lang und arbeitet auf den
Höhepunkt der Tat hin, die auf den letzten Seiten angedeutet
und erst im Abspann erklärt wird. Er ist der innere Monolog
einer alten Frau, die die abscheulichen Ereignisse ihrer Tochter, die
Schriftstellerin ist, bis zuletzt verheimlichen möchte. Man
kommt beim Lesen innerhalb von zwei Stunden durch und wird
wahrscheinlich vorher mit dem Lesen nicht aufhören
können. Anfangs könnte man vom knappen,
bruchstückhaften Erzählstil und von der Ratlosigkeit,
was hier eigentlich erzählt wird, abgeschreckt werden. Bald
aber stellt sich der Sog der Handlung ein, die etwas von Krimispannung
hat. Nebenbei muss bemerkt werden, dass es anderswo selten eine so
präzise Schilderung von Alltagselend in der Provinz gibt wie
hier, mit Wiedererkennungseffekt, sofern man selbst in den letzten
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Österreich auf dem Land
aufgewachsen sein sollte.
Das Buch ist mittlerweile zu Recht zu einem Klassiker der
österreichischen Nachkriegsliteratur geworden und hat der
Autorin große Anerkennung eingebracht. Was die
Vergangenheitsbewältigung betrifft, hebt es sich wohltuend von
zahlreichen anderen Werken ab, die selbstgerecht und kurzsichtig
über die ältere Generation und ihre Handlungen
urteilen. Durch genaues Beobachten und Objektivität hilft es,
die Handlungen der Beteiligten zu verstehen, ohne sie zu billigen. Es
gibt auf "Täterseite" kein vergleichbares Buch, und deshalb
gehört es an die Seite von Elie Wiesels "Die Nacht" oder Imre
Kertész’ "Roman eines Schicksalslosen"
als Beispiel großer Dichtung im Dunstkreis der Verbrechen des
Dritten Reichs.
(Berndt Rieger; 11/2004)
Elisabeth
Reichart: "Februarschatten"
Mit einem Nachwort
von
Christa Wolf.
Otto Müller, 120 Seiten.
ISBN 3-7013-0899-3.
ca. EUR 14,50.
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Weitere
Bücher der Autorin:
"Komm über den See" (Erzählung)
"Komm über den See" erzählt die Geschichte der Ruth
Berger, deren Mutter an den Folgen ihres Widerstandes im Dritten Reich
zerbrach und die für sich heute nach Widerstandsformen gegen
eine von Männern beherrschte Welt sucht. Mit Hilfe von
Rückerinnerungen, Assoziationen und Träumen gelingt
Elisabeth Reichart eine poetisch genaue Erzählung, in der sich
Gegenwart und Vergangenheit zu einem intensiven Leseerlebnis verbinden.
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"Nachtmär"
Der Roman "Nachtmär" erzählt mit Ironie von
Möglichkeiten und Grenzen des Miteinanderlebens von Juden und
Nichtjuden im Schatten der Geschichte, die sie nicht erleben mussten.
In Wien der Gegenwart fliehen zwei Frauen und zwei Männer vor
ihrem Jahresfest in ihr alltägliches Unglück, um
Esther auszuweichen, einer Jüdin, mit der sie jahrlang
zusammen waren und die sie bei der erstbesten Gelegenheit verraten
haben. (Otto Müller)
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"Fotze"
Elisabeth Reichart schreibt in ihrer Erzählung sinnlich,
scharf, illusionslos über die Rückkehr in eine
Gegenwart, in der die Narben des Krieges, der Sexualität und
der Zerstörung von Literatur neu aufgebrochen sind.
Der Vater verlässt das erste Haus und verbringt sein Leben
damit, vier weitere Häuser zu bauen. Seine Tochter entdeckt an
der Bunkermauer das verbotene Wort für ihr Geschlecht. Erst
viel später begreift sie die Verbindung von Bauwut, Krieg,
Sexualität und Wortsucht. Sie kehrt in die fünf
Häuser ihrer Kindheit zurück, trifft auf die Mutter,
die sich mit den toten Brüdern in eine Gruft
zurückgezogen hat, auf die Schwestern, in deren naives
Geschlechtsleben sie gewaltsam einzudringen versucht und auf die
Erinnerung an den einzigen Mann, mit dem sie eine lustvolle
Sexualität erlebt hat. (Otto Müller)
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"Sakkorausch"
(Ein Monolog)
Ein Text zwischen Imagination und Realität, dem Wahn und
seinem Sinn in der Begegnung mit einer Frau, die sich Pseudonyme wie
Sakkorausch oder Sakrosankt wählte, alle weiblichen
Lebensmodelle kategorisch verwarf und statt dessen ihrer Laufbahn als
Philosophin, Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin widmete
und dafür mit dem Ausschluss aus der Gesellschaft zahlte.
In Elisabeth Reicharts Monolog rechnet dieser Frau mit ihrer Umwelt ab,
beharrt auf ihrem Anderssein. Helene von Druskowitz, geboren 1856 in
Hietzing bei Wien, war die erste Österreicherin, die (mit 22
Jahren) zum Doktor der Philosophie promovierte. Sie war unter anderem
mit
Marie
von Ebner-Eschenbach befreundet, die ihr ebenso wenig half wie ihre
anderen Freundinnen, als sie mit 35 in die Irrenanstalt eingeliefert
wurde ... (Otto Müller)
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und ein Kinderbuch: "Lauras Plan"
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