Bärbel Reetz: "Die russische Patientin"
Authentisch fiktional
Ein
Roman als vierte Methode, um einen Menschen zu zelebrieren: Gemeint ist Sabina
Spielrein (1885-1942) - die womöglich erste wichtige Frau in der Geschichte der
Psychoanalyse - deren erstes Skandalon auch mit Spielreins und eben C.G. Jungs
Namen verbunden wird. Erstens gibt es den schwedischen Dokumentarfilm "Ich
hieß Sabina Spielrein" (2002). Zweitens existiert eine Ausgabe mit
authentischen Texten: "Tagebuch und Briefe. Die Frau zwischen Jung und
Freud" (Psychosozialverlag 2003). Drittens kann man die als am
kompetentesten geltende Biografie von Sabine Richebächer zitieren: "Sabina
Spielrein: Eine fast grausame Liebe zur Wissenschaft" (Dörlemann Verlag,
Zürich 2005). Auffällig ist, dass sich v.a. weibliche Autoren um eine Art
Rehabilitierung Spielreins bemühen. Das Schrifttum über Spielrein ist zwar
noch etwas umfangreicher, aber durchaus überschaubar. Auch ihre eigenen
Schriften passen in einen Band.
Und nun also die Form des Romans von Bärbel Reetz. Das wirft zunächst zwei
Fragen auf: Was macht Sabina Spielrein so wesentlich, dass man sich weiterhin
und neuerlich mit ihr beschäftigen sollte? Und was kann dieser Roman über die
bereits vorliegenden Publikationen hinaus noch leisten, um uns die Persönlichkeit
Spielreins noch intensiver zu vergegenwärtigen?
Die Faktenlage scheint soweit klar - Reetz widerspricht ihr auch nicht: Sabina
Spielrein, 1885 als Tochter einer russisch-jüdischen Kaufmannsfamilie in Rostow
am Don geboren, wird knapp 19jährig wegen "psychotischer Hysterie" in
die Psychiatrische Anstalt Burghölzli bei Zürich eingeliefert. Dort ist sie
zunächst Patientin von
C.G. Jung (1875-1961) - ein "psychoanalytischer
Schulfall", wie dieser in einem Brief an Sigmund Freud (1856-1939)
berichtet - ab 1908 ist sie auch Jungs Geliebte. Die Therapie wird
offensichtlich erfolgreich fortgesetzt, denn bereits 1911 promoviert Spielrein
und praktiziert dann selbst als Psychoanalytikerin. Da sich Jung nicht an das
Verdikt seines Lehrers Freud gehalten hatte, sexuelle Annäherungen während der
Behandlung zu vermeiden, wendet sich Spielrein hilfesuchend an Freud. Dieser
deckt seinen Schüler zunächst, lässt sich später allerdings von Arbeiten
Spielreins inspirieren, v.a. von ihrem Aufsatz "Die Destruktion als Ursache
des Werdens" - wovon Gedanken in Freuds Todestrieb-Lehre einflossen (was er
allerdings nur in einer kleinen Fußnote würdigt).
Während es zum Bruch zwischen Jung und Freud kommt (dessen mannigfaltige
Ursachen zu diskutieren hier nicht der Ort ist), avanciert Spielrein zur von
Jung so empfundenen "Konkurrentin", kehrt allerdings in den 20er
Jahren in das revolutionäre Russland zurück, wo sie bis zum Verbot der
Psychoanalyse als "bourgeoise Irrlehre" durch
Stalin
1936 ein Kinderheim leitet. Beim Einmarsch der Nazis in Rostow wird Spielrein
mit ihren beiden Töchtern in der "Schlangenschlucht" erschossen.
Pauschal ergibt sich das Bild einer vom männlichen Zynismus geschädigten Frau
(sie litt unter ihrem Vater, unter Jung und Freud, unter Stalin und schließlich
unter den Nazis) - die einen heftigen Kampf auf persönlicher und beruflicher
Ebene führte und schließlich unterlag.
Da die Äußerlichkeiten soweit klar zu sein scheinen, muss es Reetz mit ihrem
Roman wohl darum gehen, die inneren Befindlichkeiten zu illustrieren - also hätten
wir es hier mit einer Art psychologischem Schlüsselroman zu tun?! Reetz geht
ihren Weg quasi auf zwei Ebenen: während sie sich als Ich-Erzählerin auf
Spurensuche begibt und durch halb Europa bis nach Moskau reist, um Archive und
Originalschauplätze aufzusuchen, wird sie selbst Teil der Geschichte: "Sie
findet Dokumente und historische Quellen, widersprüchliche Behauptungen und
irreführende Informationen". Und so erzählt sie die "Geschichte
einer Grenzgängerin, die den Traum von der europäischen Mission des Judentums
träumte und sich die Veränderung der Gesellschaft durch den Sozialismus
erhoffte" (Waschzettel).
Die Kapitel sind so geschachtelt, dass auf der einen Ebene authentisches
Material, dem die Autorin nachgeht, verarbeitet wird - während auf der anderen
Ebene direkt Episoden aus Spielreins Leben erzählt werden. Durch diese beiden
Filter werden Innen- und Außenleben mehrfach sortiert, geprüft und zur
authentischen Fiktionalität erhoben. So alternieren Ich-Perspektive und
personale Erzählhaltung - einander ergänzend zu einer duplizierten
Rekonstruktion. Beim vorliegenden Sujet erübrigt sich wohl die Frage, wie
legitim es sei, echte Tagebuchnotizen und Briefe in einen Roman zu integrieren -
denn Reetz geht hier quasi gerichtsmedizinisch vor: deckt Schicht um Schicht auf
und versucht gleichsam, ein Gerippe mit Organen und Bewusstsein zu füllen, ohne
allzuviel Fleisch zur Verfügung zu haben - ein Puzzle mit dem Ehrgeiz des us-amerikanischen Serienhelden Dr. Quincy (der in einer Folge einmal aus einem
Knochen den kompletten Menschen rekonstruiert und noch dazu einen Mord
nachweist).
Nun, Reetz operiert nicht im luftleeren Raum, sie kann Spuren folgen: "Ich
bin ihr nachgefahren". Sie nimmt auch Bezug auf ihren Besuch des "Spielrein"-Films,
welcher ihr doch als zu einseitig erscheint: Sie möchte Spielrein nicht als
"willenloses Opfer" sehen, sondern ebenso als autarke, kluge Frau.
Insofern ist der vorliegende Roman auch eine Art Diskurs mit dem Ziel einer
doppelten Rehabilitation. Zusätzlich illustriert Reetz als Folie auch die
Zeitgeschichte - sie führt eine Art erzählerisches Tagebuch über ihre Reisen
und Recherchen, wobei sie bemerkt, sie fühle sich "wie in einem
Zeitkarussell." Und die Autorin gesteht, sie "versuche Annäherungen,
denn Sabina Spielrein ist auch zu einer Gestalt meiner Fantasie geworden."
Das Kapitel über die Einweisung Spielreins ins Burghölzli zeigt die
Entwicklung von der Patientin zur Studentin, welche nach einem Seminarbesuch
Jung ihre Liebe gesteht. Offiziell beendet Jung daraufhin ihre Behandlung,
trifft sich aber privat weiter mit ihr. Reetz meint allerdings, dass sie auch
weiterhin seine Patientin war. Überraschenderweise analysiert Reetz den
seinerzeit skandalierten Tabubruch (Verhältnis Therapeut -
Patientin) nicht
weiter. Das hängt wohl mit ihrer oben anklingenden Position zusammen, Spielrein
nicht zu schwach erscheinen zu lassen. Als Nebeneffekt wird damit (freiwillig
oder unfreiwillig?) auch Jung rehabilitiert, der sich relativ kurz danach nicht
genierte, ein Dreiecksverhältnis mit seiner Frau Emma und der Therapeutin Toni
Wolff zu etablieren.
Aus diesem Gefühlschaos - Spielrein kommt emotional nicht los von Jung - flüchtet
sie mehr oder weniger zurück nach Moskau und dann nach Rostow. Am Ende begibt
sich die Ich-Erzählerin selbst in die "Schlangenschlucht": Hier wurde
mit Sabina Spielrein, die Frau erschossen, die eine "heilige
Bestimmung" empfunden hatte und als deren "fremde Schwester" sich
Bärbel Reetz bezeichnet. Ein lesenswertes Buch für Frauenrechtlerinnen,
interessierte Laien sowie spezielle Spielrein-Forscher. Für ein neutrales
Lesepublikum wohl zu speziell.
(KS; 03/2006)
Bärbel Reetz: "Die russische Patientin"
Insel, 2006. 331 Seiten.
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Bärbel Reetz, geboren
1942, lebt in Berlin und Kiel. Sie ist Trägerin des "Bettina-von-Arnim-Preises"
1994.
Weitere Buchtipps:
André Karger, Christoph Weismüller (Hrsg.): "Ich hieß Sabina Spielrein.
Von einer, die auszog, Heilung zu suchen"
Von der Skandalbeziehung zu einem differenzierten Blick auf die Beteiligten.
Anfang der 1980er Jahre gelangte Sabina Spielrein durch den Zufallsfund bis dato unbekannter Dokumente zu später Berühmtheit. Zunächst wegen einer schweren Hysterie in der Psychiatrischen Klinik Burghölzli in Zürich von C. G. Jung behandelt, wurde Spielrein später selbst
anerkannte
Psychoanalytikerin.
Neben dem schmalen Oeuvre und der ungewöhnlichen Lebensgeschichte stand vor allem die Beziehung mit C. G. Jung im Zentrum des wissenschaftlichen und feuilletonistischen Interesses. Sie wurde zum exemplarischen
"Fall" von Grenzüberschreitung in der Psychotherapie. Die Beschäftigung mit der Person Sabina Spielrein und ihrem reichhaltigen Werk rückte oft in den Hintergrund. Dieses Buch geht in einer differenzierteren Sicht auf die Ereignisgeschichte den verborgenen Motiven und Strukturen ihrer Protagonisten nach.
(Vandenhoeck & Ruprecht)
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Sabine Richebächer: "Sabina Spielrein - 'Eine fast grausame Liebe zur Wissenschaft'"
Am Abend des 17. August 1904 wird eine junge Russin mit allen Anzeichen einer
Hysterie ins Burghölzli, die Zürcher Irrenheilanstalt, eingeliefert. Für C.G.
Jung bietet sich die Gelegenheit, an Sabina Spielrein zum ersten Mal Freuds
Methode auszuprobieren. Die Therapie schlägt an, und noch aus dem Burghölzli
heraus nimmt die wissensdurstige Patientin ein Medizinstudium auf. Als Jung und
sie ein leidenschaftliches Liebesverhältnis beginnen, hat die Psychoanalyse
ihren ersten Skandal.
Diese große Biografie Sabina Spielreins erzählt, wie aus dem jüdischen Mädchen
aus Rostow am Don eine eigenständige Wissenschaftlerin ersten Ranges wird, eine
Pionierin in der Erforschung der kindlichen Seele. Ein unruhiges, mutiges und
bewegendes Leben, das unter Hitlers Mordkommandos ein frühes und tragisches
Ende nimmt. (Dörlemann Verlag)
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Karsten Alnaes: "Als sie mit C.G. Jung tanzte. Roman über Sabina Spielrein"
Schon als Kind ist Sabina Spielrein intelligenter und wissbegieriger
als ihre Altersgenossen. Doch als sie unter Wahnvorstellungen leidet, wird sie
nach Zürich zu Carl Gustav Jung geschickt, dessen erste Psychoanalyse-Patientin
sie wird. Zwischen den beiden kommt es zu einer intensiven Liebesbeziehung, die
mit einem Skandal endet. Nach ihrer Heilung wird Sabina Spielrein eine
bedeutende Wissenschaftlerin, die Jung,
Freud und Jean Piaget wesentlich
beeinflusste. Zeit ihres Lebens musste sie jedoch kämpfen - um Anerkennung und
gegen die zerstörerischen Kräfte in sich selbst. (Piper Verlag)
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