Siân Rees: "Das Freudenschiff.
Die wahre Geschichte von einem Schiff
und seiner weiblichen Fracht im 18. Jahrhundert."

Kein Traumschiff

Die Geschichte eines schwimmenden Bordells
als spannende Sozial- und Kolonialgeschichte des 18. Jahrhunderts


"Ich hatte ein Auge auf sie geworfen, von dem Moment an, als ich ihr auf meinem Amboss die Bolzen von den Eisen schlug", berichtete der Seemann John Nicol von seiner ersten Begegnung mit der siebzehnjährigen Sarah Whitelam, die im März 1789 in Fesseln an Bord des Sträflingsschiffes "Lady Julian" gebracht wurde. Gerührt von Sarahs Geschichte einer ungerechtfertigten Beschuldigung, die zur Verurteilung zu sieben Jahren Deportation nach Übersee geführt hatte, verliebte sich der Steward in das ehemalige Dienstmädchen und machte ihr "fast eine ganze Woche lang" - nach seinen Begriffen eine halbe Ewigkeit - den Hof. Noch bevor die "Lady Julian" von London in Richtung Australien ablegte, übersiedelte Sarah von den Sträflingsquartieren im Unterdeck in Nicols bequeme Kabine, Ende April war sie schwanger.

Im England des ausgehenden 18. Jahrhunderts genügten schon aus heutiger Sicht meist als Bagatelldelikte zu bewertende Gesetzesbrüche, um zur Deportation nach Sydney Cove, einer neugegründeten Kolonie in Australien, verurteilt zu werden. Sarahs "Verbrechen" war der angebliche Diebstahl eines Mantels, ihren Mithäftlingen wurden das Verpfänden von Bettwäsche oder Möbelstücken der schäbigen Pensionen, in denen viele der arbeitslosen Frauen lebten, Ladendiebstahl oder gar eine betrunkene Übernachtung auf einem fremden Abort zur Last gelegt. Trotz der strengen Strafe der Deportation hatten die Verurteilten auf der "Lady Julian" noch Glück, konnte doch die selbst in den Augen vieler Zeitgenossen antiquierte Gesetzgebung des Königreichs bei Delikten wie der Falschmünzerei zum qualvollen Tod auf dem Scheiterhaufen führen.

Zahlreiche Frauen waren durch Veränderungen im sozialen Gefüge und der Rückkehr zehntausender Soldaten aus dem Krieg aus ihren Stellungen als Arbeiterinnen, Dienstmädchen und Verkäuferinnen ins gesellschaftliche Abseits gedrängt worden. Ohne finanzielle Absicherung und den Rückhalt einer Familie blieb ihnen meist nur der Versuch, sich mit Diebstählen und Betrügereien über Wasser zu halten und der Weg in die Prostitution.

Obwohl die Gründe, die zum Abgleiten in Armut und Kriminalität führten, wohlbekannt waren, kam die Anwendung von strafmindernden Umständen oder der Versuch einer Wiedereingliederung in die Gesellschaft für die Behörden nicht in Frage. Den "gefallenen Frauen", die zu den mit wohligem Schaudern ausgeschlachteten Lieblingsfiguren der zeitgenössischen Unterhaltungsliteratur zählten, brachte man zwar Mitleid entgegen, sprach ihnen aber im Gegensatz zu männlichen Gestrauchelten jede Möglichkeit zur Besserung kategorisch ab. Ihre Verbannung säuberte die Georgianische Gesellschaft von unerwünschten Elementen, zugleich sollten diese nicht resozialisierbaren Geschöpfe als Arbeitskräfte, Gebärmaschinen und sexuelles Ventil für die vor allem von männlichen Sträflingen und Soldaten bewohnten jungen Kolonien das Überleben und Gedeihen der Besitzungen der englischen Krone auf anderen Kontinenten sichern.

Im Juli 1789 verließ die "Lady Julian" nach Wochen der Vorbereitung England, nur knapp dreißig der über 200 inhaftierten Frauen an Bord sollten ihre Heimat jemals wiedersehen. Dank der Ehrlichkeit und Anständigkeit der für sie zuständigen Männer, die, soweit es die Umstände einer Seereise im 18. Jahrhundert erlaubten, für ausreichende Ernährung, genügend Bewegung, Sauberkeit und ärztliche Betreuung sorgten und von Brutalitäten Abstand nahmen, mögen so mancher der Gefangenen die Bedingungen auf dem Schiff ein wenig besser vorgekommen sein als ihr früheres Leben auf der Straße oder in überfüllten Gefängnissen. Enge, Ungeziefer, Gestank, Streitereien und andere Unannehmlichkeiten waren die Frauen von ihrem täglichen Kampf ums Überleben in den Londoner Elendsvierteln gewohnt, und auch die Prostitution blieb Teil des Alltags.

Der "Honest Jack", das ungeschriebene Gesetz auf See, sicherte von alters her jedem Seemann das Recht auf eine "Gefährtin", in diesem Fall also auf von den Vorgesetzten geduldete sexuelle Beziehungen mit den Gefangenen eines Sträflingsschiffes. Die Mannschaft traf teilweise schon im Hafen ihre Wahl unter den größtenteils zwischen achtzehn und neunundzwanzig Jahren alten Frauen, die als Gegenleistung für ihre erzwungene sexuelle Verfügbarkeit der Enge der Sträflingsunterkünfte für die Dauer der Überfahrt entkommen und sich zusätzliche Rationen Lebensmittel und Alkohol sichern konnten. Doch auch die Seeleute anderer Schiffe, denen die "Lady Julian" im Laufe ihrer einjährigen Reise in den Häfen von vier Kontinenten begegnete, machten vom Angebot des schwimmenden Bordells regen Gebrauch.

Trotzdem scheint gerade der freizügige Umgang zwischen den an Bord der "Lady Julian" monatelang auf engstem Raum zusammenlebenden Männer und Frauen der Hauptgrund gewesen zu sein, dass diese Überfahrt im Gegensatz zu anderen Sträflingstransporten relativ friedlich verlief und die Häftlinge besser als üblich behandelt wurden. In Erwartung der natürlichen Folgen der von allen Beteiligten mehr oder minder als selbstverständlich akzeptierten sexuellen Beziehungen hatte die Regierung, wie selbst die würdige "Times" meldete, sechzig Garnituren Babywäsche mitgeliefert, die auch bald gebraucht wurden. Schon im Hafen von Rio de Janeiro, einer der ersten Etappen der langen Reise, wurden einige der Paare am Schiff Eltern, unter ihnen John Nicol und Sarah Whitelam.

Siân Rees, die aus einer Familie von Seefahrern und Bootsbauern stammt, gelingt es in ihrem ersten Buch den Alltag an Bord der "Lady Julian" mit all seinen Gerüchen, Geräuschen und intimsten Verrichtungen anschaulich und lebendig zu schildern. Ohne zu moralisieren oder in männerfeindliche Anklage zu verfallen dokumentiert sie die aus heutiger Sicht schockierenden Umstände der Fahrt, umschifft aber auch die Gefahr, die Beziehungen an Bord zu romantisieren und macht Lücken in der Quellenlage und Vermutungen als solche deutlich. Basierend auf den von seinen aufrichtigen Gefühlen für Sarah zeugenden Memoiren, die John Nicol gegen Ende seines Lebens aufzeichnen ließ, anderen Zeitzeugenberichten und offiziellen Dokumenten sammelt Rees die Lebensgeschichten einiger der Frauen und Männer auf der "Lady Julian" und rekonstruiert unterhaltsam, informativ und unsentimental die abenteuerliche Reise, die das Sträflingsschiff durch Flauten und unerträgliche Hitze, Stürme und die eisige See nahe der Antarktis führte.

Als die "Lady Julian" im Juni 1790 endlich in Sydney Cove ankam, waren die nach Hungersnöten und Seuchen vor allem auf Lebensmittel hoffenden Kolonisten zunächst nicht allzu erfreut über die "wenig hilfreiche Ladung" aus der Heimat. Bald aber wurden von den Behörden die ersten Frauen an besonders verdiente Männer vermittelt und nach pragmatischen Gesichtspunkten auf die verschiedenen Siedlungen der Kolonie verteilt. Ohne Rücksicht auf die an Bord entstandenen Partnerschaften und die teils heftig vorgetragenen Wünsche der Gefangenen und der Seeleute wurde die weibliche Fracht "generell als eine mit Mündern und Gebärmüttern ausgestattete gesichtslose Masse" behandelt. "Die Inhaberinnen dieser wichtigen Körperteile schob man - abhängig davon, ob sich das Durchfüttern im Einzelfall lohnte - herum wie die Schachfiguren. Sie als eigenständige Person kennenzulernen, war überflüssig, um ihre kollektive Zukunft in der Kolonie zu planen. Sie waren aus England hierher gebracht worden, um das Bett mit den Lagerwachen zu teilen und den männlichen Siedlern Kinder zu gebären - und das taten sie im Großen und Ganzen auch."

Auch John Nicol hatte kein Glück bei seinen Versuchen, bei Sarah Whitelam und seinem Kind zu bleiben, schon im Juli musste er mit der "Lady Julian" Sydney Cove und seine große Liebe verlassen. Verzweifelt verbrachte er fast sein ganzes restliches Leben mit Irrfahrten, um nach Neusüdwales zurückzukehren und Sarah nach dem Verbüßen ihrer Strafe wieder nach England bringen zu können. Das Wissen um die Vergeblichkeit seiner "Pilgerfahrt der Liebe" blieb ihm erspart - einen Tag nach seiner Abfahrt hatte Sarah einen anderen geheiratet.

(sb; 04/2002)


Siân Rees: "Das Freudenschiff.
Die wahre Geschichte von einem Schiff und seiner weiblichen Fracht im 18. Jahrhundert."
Europa Verlag, 2002. 288 Seiten.
ISBN 3-203-81500-1.
ca. EUR 19,90.
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