Elizabeth Redfern: "Der Fluch der Sterne"
"Ihr langes rotes Haar, die weiße
Haut ..., wie sie mich küsste, ich dachte, sie wäre Selene und wir wären wieder
in Paris." Worte, entsprungen aus den Fieberträumen des jungen Franzosen Guy
de Montpellier. Er ist einer der vielen adligen émigrés, die 1795 im
Londoner Exil leben; geflohen aus Frankreich, wo nach der Revolution die
Republikaner das Sagen haben. Guys ganze Leidenschaft gilt der Astronomie,
genauer gesagt der Suche nach dem Planeten Selene. Benannt hat er diesen
mysteriösen Himmelskörper nach einer ebenso geheimnisumwitterten
Frau.
Wer war diese Selene aus Fleisch und Blut? Alles nahm seinen Anfang
in Paris, wo Guy und seine Himmlische ein strahlendes Paar ausmachten. Selene
war jung, rotgelockt, anmutig und überaus klug. Obwohl sie selbst dem Adel
angehörte, hatte sie sich den Idealen der Revolution verschrieben und war mit
vielen führenden Republikanern befreundet. Doch während einer Zeit, in der die
Machtkonstellationen fast so schnell wie die Mondphasen wechselten, machte
Selene den Fehler, auf die falsche Fraktion zu setzen. Sie fand sich im
Gefängnis wieder. Ein Los schmachvoller als der Tod. Frauen hinter Gittern waren
nichts als Objekte zur Vergewaltigung. Das wusste auch Guy. Er hatte die Wärter
bestochen, die ihn für einen Freier hielten, und wollte Selene zur Flucht
verhelfen. Doch als er bei ihrer Zelle ankam, konnte er seinen Augen nicht
trauen. In einer seltsamen Art von Überlebenswillen gab sich Selene ihren
Schändern mit lockenden Gesten - scheinbar freiwillig - hin. De Montpelliers
Welt war zusammengebrochen; er verfiel seelisch. Ab nun umgab den Adelsspross
die "Ausstrahlung eines dunklen Engels", wie Elizabeth Redfern es mit
Pathos formuliert. Mit seiner Schwester Auguste floh Guy nach England und suchte
fortan Vergessen bei einer anderen Selene, jener am Firmament.
Fern der
Heimat, enttäuscht von der Liebe, verfällt Guy de Montpellier auch körperlich:
ein Kopftumor macht ihm zusehends zu schaffen. Kurze Linderung bereiten ihm nur
Datura
und Laudanum, Drogen, die ihm sein Arzt Pierre Raultier verabreicht. In diesen
sinnumnachteten Zuständen unternimmt Guy Kutschenfahrten zu jungen rothaarigen
Straßenmädchen, die er für ihre Dienste reichlich mit französischen Goldmünzen
bezahlt. Kurz nach seinen Besuchen findet man die Prostituierten stranguliert in
der Gosse liegend. Nur eines der Mädchen, Rose Brennan, hatte das Glück zu
überleben. Die Sachlage scheint klar, ist es aber bei weitem nicht.
Die Serienmorde wecken die Aufmerksamkeit von Jonathan Absey, Agent des britischen
Innenministeriums, dessen Tochter ein Jahr zuvor auf gleiche Art umgebracht
worden war. Aus Rachegelüsten heraus stellt er Ermittlungen an - obwohl der
Fall nicht in sein Aufgabengebiet fällt. Von Rose erfährt er, dass der letzte
Kunde vor dem Anschlag auf ihr Leben ein geistig verwirrter Franzose war. Über
die "Sterne" und eine gewisse "Selene" hatte er ihr erzählt. Absey nimmt auf
eigene Faust die Spur von Guy de Montpellier auf. Allerdings entlastet das Straßenmädchen
diesen. Guy kann nicht der Killer sein, denn der Mordversuch geschah, nachdem
de Montpellier bereits mit der Kutsche weggefahren war. Und noch etwas erzählt
Rose Brennan dem Agenten. Während der Mörder sie zu strangulieren versucht hatte,
flüsterte er ihr folgenden merkwürdigen Satz ins Ohr: "Eine Leiche rächt
sich nicht für Kränkungen"; ein Zitat
des
Poeten William Blake.
Einst galt Absey als talentierter Agent im Dienste Seiner
Majestät, hatte eine blendende Karriere vor Augen. Aber alles zerrann durch eine
pikante Familienangelegenheit. Sein Halbbruder Alexander Wilmot, ein Homophiler,
wurde ob seiner sexuellen Präferenz erpresst. Jonathan ließ darauf hin das
Beweismaterial, das Wilmot an den Galgen hätte bringen können, verschwinden. Die
Vertuschungsaktion flog auf und Absey wurde versetzt, verdammt dazu, langweilige
Behördenpost zu sichten bzw. zu bearbeiten oder Gazetten nach etwaigen
umstürzlerischen Texten zu durchforsten. Ein Absturz in die Bedeutungslosigkeit.
Groll wider das Bruderherz ist die Folge. Der Bruder lebt als Hobbyastronom und
Musiklehrer in einem schäbigen Haus in Clerkenwell. Jonathan erinnert Alexander
daran, dass er ihm noch was schuldig wäre und setzt ihn wegen seiner
sternkundlerischen Fähigkeiten auf den illustren Emigrantenkreis um Guy de
Montpellier an. Unter dem Deckmantel astronomischer Forschungen soll Alexander
das Vertrauen der émigrés erringen und seinem Halbbruder regelmäßig
Fakten aus deren Leben preisgeben. Widerwillig stimmt der ehrliche und
gleichermaßen ängstliche Alexander zu. Auguste, die der strahlende Mittelpunkt
des Astronomenzirkels ist, heißt ihn in der Runde willkommen. Er soll Guy bei
der Suche nach dem Planeten Selene nach Kräften unterstützen.
Anfangs ist
Alexander Wilmot geschmeichelt und begeistert, doch je mehr er bei den scheinbar
so kultivierten de Montpelliers verkehrt, desto verabscheuungswürdiger empfindet
er ihre Gesellschaft. Jeder der Männer scheint Auguste verfallen. Arzt Raultier
gewährte sie einmal die Gunst einer Nacht, seitdem tut er alles für sie. Dem
sinistren (und angeblich aufgrund eines Traumas stummen) William Carline gilt
ihre derzeitige Affäre. Zudem unterhält sie inzestuöse Bande zu ihrem Bruder.
Wilmots Gedanken laufen heiß. Ist die rotgelockte Auguste eine weitere
Manifestation von Selene? Welche Rolle spielt der versoffene Ex-Priester
Norland? Was hat es mit dem narbenentstellten Kutscher Ralph auf sich? Böses
ahnend bleibt Alexander dem todkranken Guy zuliebe inmitten dieser
Schreckgestalten. Gemeinsam mit dem moribunden Kavalier sucht er nächtens das
Firmament nach dem Planeten Selene ab. Der gutherzige Wilmot spürt, Guy kann
erst dann mit der Vergangenheit abschließen und in Ruhe sterben, wenn er seine
Geliebte zumindest am Himmel wiedergefunden hat.
Währenddessen wird
anderswo europäische Machtpolitik betrieben. Mit Hilfe des Premierministers Pitt
und der britischen Admiralität schifft sich ein Heer von 4.000 in England
trainierten Royalisten Richtung Frankreich ein. Die Bourbonentreuen, angeführt
vom Chevalier de Tinténac, sollen die republikanischen Truppen in der Bretagne
zurücktreiben. Die Landung gelingt, doch ein gefälschter Marschbefehl lockt die
Royalisten in einen Hinterhalt; sie werden aufgerieben. Kurz darauf ziehen
10.000 Mann der Revolutionsarmee gegen den Comte de Puisaye, der auf de
Tinténacs Aushilfstruppen hofft. Auf der Quiberon-Halbinsel werden die
königsloyalen Verbände eingeschlossen und vernichtet. Ein voller Erfolg für die
Revolutionäre in Paris, ein Desaster für die Anhänger der Monarchie.
Wer
steckt hinter dem falschen Marschbefehl? Wie lauten die Namen der Spione?
Jonathan Absey fängt einen Brief ab, kodiert mit Sternnamen und deren
Helligkeitsgraden. Mithilfe des Buches "Lefèvres Mythologie", in dem er
wieder auf Selene stößt - diesmal in Gestalt der griechischen Mondgöttin -
entschlüsselt er den Text. Sowohl Raultier als auch der englische
Spionageabwehrbeamte Crawford, welcher Abseys Nachforschungen stets
desavouierte, sind im Besitz dieses Mythologiebandes. Bloßer Zufall? Jonathan
wittert eine Verschwörung bis in die eigenen Reihen hinein. Doch wer sind die
Hintermänner, wer nur die Bauernopfer? Gibt es Verrat auf höchster Ebene? Und
warum mussten ausgerechnet Straßenmädchen sterben? Ist auch das Leben seines
Halbbruders gefährdet? Fragen über Fragen, auf deren Lösung nur dem geneigten
Romanleser eine Antwort zusteht. Eines noch sei gesagt: Ab Kapitel 56 steigen
viele der Protagonisten von der gedruckten Zeile direkt ins dunkle
Grab.
Elizabeth Redfern, vor ihrer schriftstellerischen Laufbahn Lehrerin
an der Universität von Nottingham, investierte vier volle Jahre, um "Der
Fluch der Sterne" (Orig. "The Music of the Spheres") zu Papier zu
bringen. Aufbauend auf gründlicher historischer Recherche fabrizierte sie ein
Netz von drei ineinander verwobenen Handlungsräumen. Da wäre einerseits das
persönliche Schicksal der Romanpersonen, andererseits der politische Hintergrund
jener Zeit - und drittens der astronomische Forschungsstand des ausklingenden
18. Jahrhunderts.
Natürlich sind die tragenden Romanfiguren allesamt frei
erfunden, das Schlachtdesaster von Quiberon ist allerdings quellentechnisch
verbürgt. Bis heute streiten sich Militärhistoriker über das
Wer-hat-wen-verraten. Wollten die Engländer selbst, dass die von ihnen
unterstützte Invasion scheitert? Waren die verbündeten Spanier, die einen
Separatfrieden mit Paris anvisierten, die
Verräter? Oder lag es schlicht an der
Klasse des französischen Informantennetzes?
Eine Ebene noch über den gekrönten Häuptern - am Himmel selbst - gab es 1795
weiteren Anlass zu Theorien und Spekulationen. Nachdem der Deutsche Wilhelm
Herschel 1781 den damals als "The Georgian" bezeichneten Planeten Uranus entdeckt
hatte, war unter Europas Astronomen eine wahre Euphorie ausgebrochen. Zu verlockend
war die Möglichkeit, es Herschel gleichzutun und ebenfalls einen Sonnentrabanten
ausfindig zu machen. Die meisten Fernrohre waren wohl auf den Raum zwischen
Mars und Jupiter gerichtet, denn dort müsste einer mathematischen Sequenz zufolge
(Titius-Bode-Reihe) eigentlich ein weiterer Planet seine Ellipse ziehen. Das
hatte der Wittenberger Mathematiker Johann Titius 1766 berechnet, und der Berliner
Sternenforscher Johann Elert Bode 1772 niedergeschrieben. Selene konnte freilich
niemand ausfindig machen, dafür aber entdeckte der Italiener Piazzi 1801 in
der Jahre zuvor exakt vorausberechneten Umlaufbahn tatsächlich ein Gebilde:
den Asteroiden Ceres, der Teil eines ganzen Gürtels von Kleinstplaneten ist.
Warum die für sonnennahe Planeten so genaue Titius-Bode-Reihe bei den äußeren
Planeten Neptun und Pluto keine Gültigkeit mehr hat, das weiß bis in unsere
Tage niemand. Ebenso ein Geheimnis bleibt die Frage nach der Herkunft von Ceres
und den anderen kosmischen Trümmern des Asteroidengürtels. Zog vor Jahrmilliarden
einst wirklich Selene ihre Bahnen zwischen
Mars
und Jupiter?
Spekulativ, dafür aber umso anregender ...
(lostlobo; 06/2004)
Elizabeth Redfern: "Der Fluch der
Sterne"
Aus dem Englischen von Marion Sohns.
Lübbe, 2003. 600
Seiten.
ISBN 3-404-92140-2.
ca. EUR 10,20.
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