Maya Rasker: "In der Nähe des Meeres"
"Viel gibt es auf der Welt, was den
Geist erstaunt, doch nichts Bestürzenderes als den Menschen."
(Auszug aus
dem Prolog zu "In der Nähe des Meeres")
Zweifel an der Liebe?
Der
Roman "In der Nähe des Meeres" handelt von den Zwillingsbrüdern Job und Jona,
die zusammen mit ihrer Mutter Ira Palm in einem Haus am Meer wohnen.
Sie wachsen ohne Vater auf, den sie nicht einmal kennen. Ihre Mutter ist eine
gefeierte Schauspielerin, die viel Zeit im Theater verbringt. Die beiden Jungen
sehen sich zum Verwechseln ähnlich, haben aber unterschiedliche Augen. Wer dies
nicht erkennt, wie z.B. der Maler Gradus, kann ihr Vertrauen nicht gewinnen.
In ihrem Verhalten und ihren Hobbys unterscheiden sie sich deutlich voneinander.
Job liest viel, interessiert sich für
Astronomie
und ist der Aufgeschlossenere der beiden. Jona verbringt seine Zeit in der freien
Natur und hat merkwürdige Sammelgewohnheiten. So bewahrt er nicht nur kleine
Tiere, sondern auch Tierkadaver von Fröschen, Käfern oder Katzen auf. Die beiden
Jungen verbringen viel Zeit miteinander und haben sich ihre eigene Welt konstruiert.
Es gelingt ihrer Mutter nicht, in diese fast symbiotische Beziehung einzudringen.
Aus dem Blickwinkel der Zwillinge steht sie an zweiter Stelle, was ihr Probleme
bereitet. Eines Tages gibt sie Jona zu Pflegeeltern, mit der Begründung, er
müsse zur Ruhe kommen, und sie brauche mehr Zeit für Job. Mit dieser Entscheidung
setzt sie eine dramatische Entwicklung in Gang, die niemand gewollt haben kann.
Maya Rasker schreibt flüssig und verständlich. Der Roman
gliedert sich in zwei Hauptteile, überschrieben als "Requisiten" und "Monologe".
Der Begriff "Requisiten" deutet darauf hin, dass die Autorin die Protagonisten
des Romans als Figuren einer Inszenierung betrachtet, einer Inszenierung, deren
Regisseur unbekannt ist (Zitat Ira Palm: "Die Dinge geschehen nun mal, wie sie
geschehen."). Die Erzählperspektive ist die des Zwillings Job. Der lineare
Handlungsablauf wird durch Retrospektiven am Anfang und am Ende der Erzählung
ergänzt. Ein Wechsel der Perspektive erfolgt im zweiten Hauptteil "Monologe", in
dem die Mutter in einer Art fiktiver Gerichtsverhandlung zu ihrem Lebenslauf
Stellung bezieht. Die immerhin fünf Kapitel umfassenden Erklärungen der Mutter
sind für das Verständnis der Erzählung zwingend erforderlich, auch wenn sie nur
Annäherungen an Antworten auf Lebensfragen liefern (Zitat Ira Palm: "Glauben Sie
wirklich, dass Sie mit meinen Geschichten ... auch nur einen Bruchteil
meines Lebens aufklären können?").
Die Beziehungen
sind vielschichtig und die Charaktere widersprüchlich und tiefgründig. Jeder
Versuch einer einfachen Deutung schlägt fehl. Die Autorin schreibt eindringlich,
ohne endgültige Antworten zu geben. Sie umkreist die Themen "Liebe" und "Leben",
und es wird deutlich: Die Psyche des Menschen besitzt eine unendliche Tiefe
und ist nicht ergründbar. Damit zeichnet sie, im Gegensatz zu vielen einfach
gestrickten Romanen, ein realistisches Bild des Menschen.
Fazit: Auch wenn die
Erzählung leicht verständlich abgefasst wurde, handelt es sich bei diesem Roman
um schwere Kost. Das Beziehungsgeflecht und die Motivationen der Protagonisten
bleiben nebulös. Der Roman ist deutungsschwer und dürfte Gegenstand zahlreicher
Interpretationen werden.
Maya Rasker wurde 1965 in Malaga als Kind
niederländischer Eltern geboren und lebt seit 1966
in den Niederlanden. Sie
schreibt Drehbücher, Reiseerzählungen und Essays. Für ihren ersten Roman "Mit
unbekanntem Ziel", der ins Englische, Spanische, Deutsche und Ungarische
übersetzt wurde, erhielt sie in den Niederlanden u. a. das "Gouden Ezelsoor" für
das "meistverkaufte Debüt des Jahres 2000".
(Klemens Taplan; 02/2006)
Maya Rasker: "In der Nähe des
Meeres"
(Originaltitel "Rekwisieten")
Aus dem Niederländischen von
Helga van Beuningen.
Sammlung Luchterhand, 2006. 144 Seiten.
ISBN
3-630-62080-9.
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Ein weiteres Buch der
Autorin:
"Mit unbekanntem Ziel"
Am Abend des 31.8.1997, am
Jahrestag des Todes ihrer einzigen Tochter, verschwindet die Schriftstellerin
Raya Mira Salomon spurlos. Sie geht in eine
Kneipe an der Ecke, um Zigaretten zu
kaufen, und kehrt nicht mehr zurück. Hat ihr Verschwinden mit den nicht restlos
geklärten Umständen des Todes ihres Kindes vor einem Jahr zu tun? Oder wollte
sie einen klaren Schnitt machen und die Beziehung mit Gideon Salomon, dem
Fotografen, beenden? Es war ihr unmöglich, gleichzeitig ihren eigenen Ansprüchen
als Mutter und Künstlerin zu entsprechen. Ihre Ehe lähmte ihre
schriftstellerische Produktion und wurde nach der Geburt der Tochter zu einer
psychischen Belastung. Gideon sucht nach Erklärungen und findet sie nur
bruchstückhaft in seinen Erinnerungen an jene ebenso schöne wie exzentrische und
faszinierende Persönlichkeit, seine große Liebe zweifellos. Als Gideon eines
Tages auf dem Dachboden einen Koffer mit privaten Aufzeichnungen von Raya Mira
öffnet, macht er eine furchtbare Entdeckung.
Maya Rasker hat einen zutiefst
verstörenden und spannenden Roman geschrieben, stilistisch gekonnt, voller
anschaulicher Szenen und poetischer Bilder. Die Themen Nähe und Distanz,
Selbstverwirklichung und Selbstaufgabe durchziehen in Gesprächsform den ganzen
Roman. Das Rätsel um das Verschwinden Raya Miras bleibt bis zum Ende für den
Leser gewahrt. Die Autorin rührt bereits mit ihrer Beschreibung von Mutterschaft
und Ehe an ein Tabu, doch erst am Schluss des Buches erfährt der Leser
überraschend das ganze Ausmaß des Dramas.
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