Pablo Ramos: "Der Ursprung der Traurigkeit"
Der
Tod ist nicht das
Gegenteil vom Leben
Das Ende einer Kindheit auf der "sozialen Müllkippe"
Argentiniens der
1980er
Die Adoleszenz ist nicht nur ein gewöhnlicher Abschnitt der
biologischen Reife
eines Menschen. Sie stellt außerdem eine wesentliche Periode
der persönlichen
Lehrzeit dar, in der die kindliche Fantasie verschwindet und
unerbittlich mit
der Wirklichkeit konfrontiert wird.
Wenn dieses Erwachen noch dazu in einer gesellschaftlich kritischen
Periode
erfolgt, werden Hoffnungen schnell zerstört, und Angst und
Ungewissheit treten
zutage.
In seinem Buch "Der Ursprung der Traurigkeit", dessen Titel als
zentrale Metapher für das Ende der Kindheit steht, zeichnet
der argentinische
Schriftsteller Pablo Ramos ein überzeugendes menschliches Bild
eines zwölf-
bis dreizehnjährigen Jungen, der sich dem Elend, den
stürmischen Konflikten
und dem sozialen Gefälle in der Welt der Erwachsenen stellt.
Auch wenn Ramos die zeitliche Einordnung seiner Geschichte nicht
erwähnt, wird
schnell klar, dass die drei Erzählungen, die er mit sensiblem
Fingerspitzengefühl
zu einem kostbaren kleinen Roman zusammengefügt hat, zu Beginn
der 1980er Jahre
angesiedelt sind. Argentinien hat seine Diktatur überwunden,
bekommt aber -
hoch verschuldet und wirtschaftlich angeschlagen - die
Wirtschaftsprobleme nicht
unter Kontrolle. Für zahlreiche Argentinier hat sich die
große dunkle Wolke
des täglichen Albdrucks noch nicht aufgelöst.
Ramos inszeniert ein literarisches apokalyptisches Szenario in einem
Randbezirk
von Buenos Aires, einem Armenviertel, wo Abenteuer und Illusionen mit
Drogen,
Alkohol, dem Zerfall von Fabriken und Werkstätten,
Prostitution und allgemeiner
Hilflosigkeit eng zusammenleben. Auf diese menschliche Bühne
der
"entzauberten Schauspieler" hat der Autor, ähnlich Mark Twains
"Huckleberry
Finn", seinen jungen Helden Gabriel Gavilán gesetzt, dessen
reale Welt
kaum etwas mit seinen Träumen gemeinsam hat. Doch trotz allen
Leids hat Gabriel
diese noch nicht verloren, egal wie sehr die Wirklichkeit eine oft
unpassierbare
Grenze ist.
Zwischen frühreifen Räuschen, kühner
Neugierde und herausforderndem sexuellen
Erwachen entwickelt sich die Geschichte seines Ich-Erzählers
in Richtung der
wahren, täglich neuen Erlebnisse des komplizierten
Familien-Zusammenlebens, der
Freundschaften und des Sammelns von Erfahrungen in der trostlosen, ja
fast
finsteren Gegend seines Viertels.
Der Roman hat stark autobiografische Züge. Auch Pablo Ramos
wuchs in ärmlichen
Verhältnissen auf. Daher ist es nicht verwunderlich, dass er
dieses Milieu so
erschreckend realistisch und ungeschönt beschreiben kann.
Gabriel symbolisiert das Leben und die Zukunft
Die Reise des jungen Protagonisten, der das Leben und die Zukunft
symbolisiert,
beginnt auf einem Friedhof (dem gefürchteten Trugbild des
Todes): eine
wirkungsvolle Kontroverse.
Dieser Friedhof, den Gabriel in der Nacht gemeinsam mit dem in einer
Gruft
lebenden Grabpfleger Rolando durchquert, stellt eine Erfahrung und
Auseinandersetzung - in positivem Sinn - mit der Wirklichkeit und ein
Fragment
der Welt der Erwachsenen dar (auch wenn das auf dem Friedhof besorgte
Geburtstagsgeschenk für seine Mutter nicht ganz so gut
ankommt).
Ramos beschreibt mit eindringlicher und klarer Kraft das parallele
Universum der
Toten, mit seiner tiefen Stille, seinen Schatten, den monumentalen
Grüften,
seinen Steintafeln, die sich im Mondlicht spiegeln, und den in ihren
endgültigen
"Wohnungen" gefangenen Gebeinen.
Die noch kindlichen Augen beobachten versunken Tausende von
Inschriften,
die von
der Erinnerung, dem Heimweh und der Vergangenheit der Leidtragenden
zeugen.
Ein Jahr später begleitet der Leser den jugendlichen Helden zu
neuen
Abenteuern. Da wird ein
Fußballspiel
ausgetragen, dessen
Ergebnis die
Reihenfolge des Besuchs bei den ortsansässigen Dirnen
ermitteln soll, oder man
bricht in den Keller der gefürchteten Zwillinge ein, um deren
Weinvorräte zu
plündern.
Ramos hat der Erzählung - trotz der permanent
spürbaren Trostlosigkeit - einen
wundervollen Humor gegeben. Durch die infantile Leichtigkeit des
Ich-Erzählers
wirft der Leser einen beinahe unbekümmerten Blick auf die
brutale Realität,
die nach Verinnerlichung des Gelesenen das Entsetzen mit doppelter
Intensität
zurückwirft.
Der Autor zeichnet überzeugende Bilder, die ahnen lassen, dass
eine Lebensweise
einstürzt und der soziale Kollaps schon bald bevorsteht.
Da ist einmal die Geißel der Droge, die, genauso wie der
Alkohol, die
Willenskraft der Jugend zu regieren beginnt. Auf der anderen Seite ist
es die
desolate Landschaft mit den stinkenden, rattenverseuchten
Müllhalden,
halbverlassenen industriellen Brachen und dem ölverschmutzten,
brennenden Bach,
dem Ramos einen symbolischen Charakter verleiht: eine Metapher auf das
Leben
seiner Bewohner, die in wackligen Holzhütten aus Pappe und
Blech hausen.
Der Roman ist ein ungeschöntes Röntgenbild
der Gesellschaft
Dessen ungeachtet, dass der Junge Zeuge dieses brutalen Lebens ist, hat
er seine
Wahrnehmungsfähigkeit nicht verloren. Er erkennt, was Andere
nicht sehen wollen
oder durch ihre Feigheit nicht sehen können. In Kontrast zu
denen, die an der
Trostlosigkeit verzweifeln, identifiziert er diese und verschweigt sie
nicht. Er
will darüber sprechen, möchte wissen, warum zum
Beispiel seine Mutter einen
Selbstmordversuch unternimmt oder sein Vater die Werkstatt verliert.
Auf seine
Fragen weiß ihm die Welt der Erwachsenen meist keine Antwort
zu geben.
Groteskerweise sind es gerade die Außenseiter der
Gesellschaft, die ein Ohr für
ihn haben: ein Verrückter und ein
Homosexueller.
Doch am Ende schleicht sich auch in Gabriels Seele die Traurigkeit,
dann nämlich,
als sein Freund Tumbeta bei einem Raubüberfall erschossen
wird. "Ich spürte,
dass das ganze Viertel traurig war", sinniert er, "und
auf
einmal wusste ich, dass es stimmte; dass alle Dinge um uns herum
lebendig sind
weil wir lebendig sind, und dass sie traurig sein können, wenn
wir traurig
sind."
Gabriel streift seine Kindheit brutal ab und kommt zu der
Erkenntnis, dass "der
Tod nicht das Gegenteil vom Leben [ist]; wie ein Toter zu leben ist das
Gegenteil vom
Leben."
Der Erzählton von Pablo Ramos ist hart und gleichzeitig weich,
ein vibrierender
Rhythmus, der großartig die differenzierten Nuancen
unterschiedlicher Gefühle
aufnehmen kann.
"Der Ursprung der Traurigkeit" ist ein Roman von klarer und
entzauberter Sprache, der dem Leser die erschütternde
Wirklichkeit dieses
gebeutelten südamerikanischen Landes ungeschönt
wiedergibt.
(Heike Geilen; 10/2007)
Pablo
Ramos: "Der Ursprung der Traurigkeit"
Aus dem Spanischen von Susanna Mende.
Suhrkamp, 2007. 178 Seiten.
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Pablo Ramos, geboren 1966, wuchs in einem Vorort von Buenos Aires auf. Er ist Musiker und Schriftsteller und hat mit seinen Gedichten und Erzählungen wichtige lateinamerikanische Literaturpreise gewonnen.