Hannu Raittila: "Canal Grande"
Birkenrindenkultur trifft moribunde Metropole
Die Geschichte Finnlands als
unabhängige Nation ist eine kurze. Jahrhunderte stand das Land der tausend Seen
unter schwedischer Vorherrschaft, später unter russischer. Erst 1917 folgte die
Unabhängigkeitserklärung. Vielleicht ist darin der Hauptgrund zu suchen, warum
die finnische Kultur im restlichen Europa so wenig bekannt ist. Skandinavisten
mag ja das Schöpfungsepos "Kalevala" ein Begriff sein, und Liebhabern
klassischer Musik gewiss der Komponist Jean Sibelius. Aber sonst? Ein tiefer
Graben klafft bis zur jüngeren Gegenwart. Erst die Populärkultur der letzten
beiden Dezennien konnte ihn halbwegs überbrücken. Skurrile Filme von Aki
Kaurismäki und noch skurrilere Gesänge der Leningrad Cowboys sind mittlerweile
liebgewordenes Synonym für Schrullen am Polarkreis. Und der Gothic Rock
im Stile von HIM oder Apocalyptica offenbart Finnlands düstere Seite -
hoffnungsringend wie die winterliche Taiga. Aber was ist mit der schreibenden
Zunft aus Suomi? Sie blieb bislang ein unbeschriebenes Blatt. Hannu Raittila
könnte raumfüllend in dieses Vakuum vorstoßen, sein Roman "Canal Grande"
macht einen guten Anfang.
Auf 366 Seiten erzählt Raittila, was passiert,
wenn zwei Finninnen und drei Finnen sich im Auftrag der UNESCO daran machen,
Venedig vor dem sprichwörtlichen Untergang - verursacht durch die jährlich
wiederkehrenden Hochwasser der Adria - zu bewahren. Doch schon die Ankunft der
fünf Nordlichter in der Lagunenstadt steht unter keinem guten Stern. Es ist
Januar und von südlichem Klima ist nichts zu spüren, nasskalter Nebel überzieht
die Stadt der Palazzi. "Zwei Wochen vergingen, und ich hatte noch immer
keinen einzigen der Paläste am Canal Grande zu Gesicht bekommen, die zu retten
unsere Aufgabe war", lästert der durch und durch pragmatische Ingenieur
Marrasjärvi, dessen nüchtern-verschrobenes Innenleben Hannu Raittila im Buch am
meisten ausbreitet. Marrasjärvi ist es zu verdanken, dass seine nordische
Delegation den Markusplatz in all der nebbia überhaupt findet: mittels
GPS-Gerät wohlgemerkt. Satellitenortungssystem im Handy-Format statt Stadtplan?
Nokia lässt grüßen, finnische Technologie behält nun mal das Sagen.
Ist
die Piazza San Marco unter der Dunstglocke nun schon mal lokalisiert, verweilen
wir doch ein wenig auf dem imposanten Platz. Als nämlich der Ingenieur vom
redseligen Geschichtedozenten Heikkilä erfährt, wie die Stadt Venedig zu den
Reliquien des Hl. Markus, ihres Patrons, gekommen ist - durch Schmuggel aus
Alexandria, bricht das Unverständnis des nüchternen Protestanten durch: "Ich
frage mich, was für eine Stadt das sein sollte, die sogar ihren Schutzheiligen
stiehlt." Von dieser rhetorischen Fragestellung ist’s nur mehr ein kleiner
Sprung zur Lobpreisung des nordischen Sozialstaats: "Schmiergelder sind durch
die skandinavischen (...) Pensions- und Arbeitslosenkassen ersetzt worden. So
funktioniert eine Gesellschaft, die vernünftig organisiert ist, die jede
interpretationsabhängige Etikette durch klare Auspreisung ersetzt hat. Da haben
die anderen Europäer noch einen langen Weg vor sich. Und je weiter sie von
Finnland weg wohnen, desto weiter ist der Weg." Gemäß Marrasjärvis Logik
wäre es auch weit zweckmäßiger, den Canal Grande samt all der anderen
Wasseradern einfach zuzuschütten, anstatt mühsam die prunkvolle Bausubstanz
ständiger Restaurierung zu unterziehen. Es scheint, als wären die Finnen gar
Fehl am Platz in Venedig, zwar nicht vom Regen in die Traufe, wohl aber von der
heimeligen Birkenrindensauna in die unwirtliche Schilflagune
gestoßen.
Die Venezianer tangiert skandinavische Trübsal herzlich wenig;
am wenigsten von allen die offiziellen Stellen. Sie haben keine Angst vor dem
Untergang, Venedig lebt schließlich vom Zauber des ständig drohenden Endes, die
Stadt zieht ihren moribunden Charme daraus - leichtfüßig, bunt und frivol, wie
es der Karneval in all seiner Maskerade belegt. Die Finnen werden Zeuge dessen:
Eine als Esel verkleidete Frau uriniert auf ein Reiterstandbild - ein alter
Brauch gegen die Obrigkeit -, ein authentischer Esel hingegen fällt unfreiwillig
in den Kanal. Alles kein Problem. Selbst der trockene Marrasjärvi passt sich dem
illustren Treiben an. Er trägt Rokokomantel, Dreispitz sowie die langnasige
(ohne Zweifel phallische) Maske des "Pestdoktors", einer der Standardfiguren der
Commedia dell’Arte, und bekennt im Gedanken: "Von allem, was ich erlebt habe,
bin ich in einem Maße berauscht und erregt, dass ich, würde sich eine Frau
anbieten, mich nicht um den Schrittmacher und nicht um Betablocker scheren
würde, sondern mir einen Hauseingang suchen und mich im Schutze meines Umhangs
mit der Unbekannten vereinigen würde ..." In Casanovas Heimatstadt gerät
Trachten dieser Art wohl kaum zur Sünde.
Doch zurück zum dottore della
peste; dieser kündet meist vom Tod. Und sucht jener Venedig heim, kann
Thomas Mann nicht weit sein. Vom genius loci befallen, setzt einer der
Nordmänner durch Medikamentenmissbrauch den "Tod in Venedig" beinahe in
die Tat um. Amüsant trockene Überlegungen finnischer Natur lassen hierbei ganz
neue Blickwinkel auf besagten Klassiker der Weltliteratur zu. Weitere
Anspielungen bringen Ernest Hemingway und Orson Welles ins Spiel: in "Harry’s
Bar" natürlich, wo die Finnen reichlich und kostspielig dem Alkohol zusprechen.
Und immer wenn Dozent Heikkilä seinen Landsleuten durch historische Erklärungen
auf die Nerven geht, wird es für den Leser interessant. Dann nämlich treten
Begebenheiten aus der stolzen Geschichte der einstigen
Seemacht
Venedig hervor, die voller Morast und Ironie stecken. "La Serenissima", "die
Erhabenste", wie die Venezianer ihre Stadt mit geschwellter Brust nennen, hält
gar viele unliebsame Leichen unterm Schlick des Kanalsystems verborgen. Sie zu
bergen, bereitet Lesespaß.
Kritisch mag an "Canal Grande"
angemerkt werden, dass es immer dieselbe Art Humor ist, welche ab Seite eins
weitere 365 Seiten ihren Schalk treibt. Hannu Raittila variiert zwar innerhalb
des Grundschemas viel, die Pointen, einmal erkannt, geraten aber bald leicht
vorhersehbar. Einige besonders der Kritik Verschriebene mögen beanstanden, wie
klischeehaft der Unterschied zwischen Nord- und Südländern dargestellt wird;
andere, besonders Unkritische, sich vielleicht sogar in ihren eigenen
Vorurteilen bestätigt fühlen. Aber genau darin liegt die Finesse des Buches.
Durch freundliche Überzeichnung wird ein Spiegel vorgehalten, der je nach
Blickwinkel Realitäten wie Zerrbilder zulässt. In mancher Hinsicht erinnert der
Roman an die russisch-finnische Koproduktion
"Kukushka",
einen Film, in dem die Hauptpersonen drei verschiedene Sprachen sprechen, die
Wortbedeutung des Gesagten nicht verstehen, am Ende wohl aber zueinanderfinden -
über die kulturellen Eigenheiten hinweg. "Canal Grande" ist ein
augenzwinkerndes Vademecum für ein zusammenwachsendes Europa.
Und wenn
Raittila schreibt "Der finnische Mann gleicht tatsächlich dem letzten
Mammut, das
versucht, am Rand des schmelzenden Eises zu leben und wütend in der sich
verändernden Welt zurechtzukommen, in der urbanen Intrigensphäre Europas",
verzeihen ihm ob soviel Selbsterkennung wahrscheinlich selbst die stolzesten
Venezianerinnen den süffisant gestreuten Spott an ihrer "La
Serenissima".
(lostlobo; 02/2005)
Hannu Raittila: "Canal
Grande"
(Originaltitel "Canal Grande")
Aus dem Finnischen von Stefan
Moster.
Knaus Verlag, 2005. 366 Seiten.
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Hannu Raittila (geboren 1956) gilt als
einer der interessantesten und wichtigsten Autoren Finnlands. Man kennt ihn als
Verfasser von Kolumnen, Hörspielen, Drehbüchern, von fünf Bänden mit Erzählungen
und mehreren Romanen. Für "Canal Grande" erhielt er den Finlandia-Preis, die
bedeutendste literarische Auszeichnung des Landes. Der Roman bildet den zweiten
Teil seiner so genannten Wasser-Trilogie.
Zwei weitere Bücher des
Autors:
"Atlantis"
Über virtuelle Welteroberung, realen Größenwahn
und den Eigensinn des Wassers.
Schwarze Realsatire, Expedition in
geheimnisvolle Tiefen und Kaleidoskop finnischer Geschichte - Hannu Raittila ist
nach seinem erfolgreichen Roman "Canal Grande" von den Wassern Venedigs in die
große Wasserwildnis seiner finnischen Heimat zurückgekehrt.
Der über Nacht reich gewordene finnische Geschäftsmann Saarilahti hat atemberaubende
Pläne: Im Gebiet des großen Saimaa-Sees, der letzten, fast menschenleeren Wildnis
im Norden Europas, will er einen riesigen Themenpark bauen. Zentrum soll ein
Dorf werden, das vor vielen Jahren überschwemmt wurde und nun in zehn Metern
Tiefe liegt. Einst hatte hier eine tiefreligiöse Gemeinschaft gelebt, weitab
von Fortschritt und Zivilisation. Nun sollen hier nostalgische Traumreisen in
die Kindheit, Zeitreisen in die Geschichte, U-Boot-Fahrten in die versunkene
heile Welt finnischer Dörfer stattfinden. Die Pläne sind fertig: Straßen und
gigantische Brücken sind projektiert für Tausende von Besucherautos, neue Fahrrinnen
vorgesehen für die Anreise per
Schiff - vor allem aus Russland, wo es Millionen
Menschen an Unterhaltung und Abenteuer mangelt und wo das nahe
Sankt
Petersburg sich auf die gemeinsamen Wurzeln mit der finnischen Kultur besinnen
soll. Für Saarilahti ist nichts unmöglich. Ist die virtuelle Welt nicht genauso
wirklich wie die Realität? Wer Millionen mit Computerspielen verdient hat, wird
sich von niemandem aufhalten lassen. Doch da ist einer im Dickicht der Weiden,
der seine Erinnerung schützen und die versunkenen Häuser nicht dem Blick touristischer
Voyeure preisgeben will. Er setzt alle Wasser in Bewegung, und die große Flut
ist nicht mehr aufzuhalten. (Knaus Verlag)
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"Die Klärung" zur Rezension ...