Wilhelm Raabe: "Stopfkuchen"
Eine See- und Mordgeschichte
Raabes
bestes und wichtigstes Werk
Aller Anfang ist schwer ... meint der Volksmund treffend. Und dieses
Wort kann man durchaus auch für den Beginn des Romans
Stopfkuchen gelten lassen. Nur widerspenstig spult sich des
Erzählers Garn von der Rolle, um in der Vorstellung des Lesers
lebendig zu werden und Gestalt anzunehmen. Der eine oder andere Leser
mag möglicherweise durch den in viele erzählerische
Mosaiksteine zerklitterten Anfang der Geschichte Bedenken bekommen, ob
er denn nun in seiner Lektüre fortfahren soll, er tut aber gut
daran, weiterzulesen, denn es lohnt sich. Einen linearen
Erzählfaden wird man zwar auch später vergeblich
suchen, doch je mehr man sich in das Buch vertieft, desto mehr fesselt
es einen. Nicht umsonst wurde und wird der "Stopfkuchen" von der
Literaturkritik als Raabes bestes und tiefstes Werk angesehen, und
Wilhelm Raabe selbst wird auf der Umschlagrückseite mit den
Worten zitiert: "Mein bestes Werk, denn hier habe ich die menschliche
Kanaille am festesten gepackt."
Eine See- und Mordgeschichte lautet der Untertitel
dieses kleinen Meisterwerks der deutschen Literatur, doch genau
genommen ist es weder das Eine noch das Andere. Vor allem ist es kein
Kriminalroman im eigentlichen Sinne. Es geht in vorderster Linie um die
Themen Schuld und Sühne, um die moralische Verantwortlichkeit
des Menschen, um die Frage beispielsweise, wie man mit unbequemen
Wahrheiten umzugehen hat. Es geht um die Fragwürdigkeit
allgemeingültiger Antworten zu diesen moralisch-ethischen
Themenkomplexen. Auch von der Vereinsamung der Außenseiter
und Eigenbrötler in unserer Gesellschaft handelt dieser Roman,
der übrigens in jeder Beziehung
außergewöhnlich modern erscheint, obwohl seine
Erstveröffentlichung mehr als hundert Jahre
zurückliegt.
Das Wichtigste zur Handlung, ohne Wesentliches oder gar die
Lösung dabei preiszugeben: Der nach Südafrika
ausgewanderte Eduard, der hier als Ich-Erzähler auftritt,
besucht sein Heimatdorf und trifft dort auf seinen alten Schul- und
Jugendfreund Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen (der Name
Stopfkuchen rührt von seiner Fresssucht und der damit
verbundenen Leibesfülle her). Mit der Begegnung dieser beiden
Freunde nimmt Stopfkuchen das Heft als Erzähler in die Hand.
Auf der Seereise zurück nach Südafrika schreibt
Eduard nun das nieder, was er in der alten Heimat erlebt,
beziehungsweise, was Stopfkuchen ihm erzählt hat. Daher der
Untertitel "eine Seegeschichte". Die andere Hälfte des
Untertitels "Mordgeschichte" bezieht sich auf ein länger
zurückliegendes Verbrechen, das nie ganz aufgeklärt
wurde. Stopfkuchen alias Heinrich Schaumann weiß aber
offensichtlich mehr über die Sache und gibt deren
nähere Umstände seinem Freund im Verlauf ihrer
Unterhaltung preis. Aber dies geschieht nicht in einer linear
verlaufenden Erzählstrategie, denn Freund Stopfkuchen schweift
immer wieder ab, zum Beispiel zu gemeinsamen Jugenderinnerungen, zur
Liebschaft und späteren Ehe mit Tine Quakatz, der Tochter des
Bauern von der Roten Schanze, der über viele Jahre hinweg des
Mordes an einem Viehhändler verdächtigt wurde. Oder
er erzählt von seiner eigenen Einsamkeit, denn auch
Stopfkuchen ist wie seine Frau Valentine ein Außenseiter, ein
vermeintlicher Dummkopf sogar, der sich jedoch im Gespräch mit
Eduard ganz als das Gegenteil, nämlich als Schlaukopf entpuppt.
In diesem aufschlussreichen Gespräch mit seinem Freund und
Kameraden aus verflossenen Jugendzeiten öffnet Stopfkuchen
sein Inneres ein wenig, beschwört die Gespenster einer
unseligen Vergangenheit
herauf, erweckt längst einbalsamierte Mumien der Erinnerung zu
neuem Leben, um sie dem Licht der Gegenwart auszusetzen. Dabei
beschreibt er eine typische Dorf- oder Kleinstadtgesellschaft, eine
Welt norddeutscher Engstirnigkeit, in der jeder willfährig den
Karren durchs Leben zieht, in dessen Joch er vom Schicksal gespannt
wurde. So scheint es jedenfalls, doch manchmal trügt ja der
Schein. Stopfkuchen hat sich mit seiner Frau auf die Rote Schanze
zurückgezogen, eine Oase in der sie umgebenden
spießbürgerlichen Öde und Niedertracht. Der
äußerlichen Abgeschiedenheit der Roten Schanze
entspricht die innere Abgeschiedenheit Stopfkuchens und Tinchens, die
aber umflort scheint von einer sanften, verzeihenden Traurigkeit.
Und doch mag man dem Erzähler nicht so recht trauen. Warum hat
er so lange geschwiegen und abgewartet, ob nicht doch noch durch die
Parteinahme einer höheren Fügung die Sache
entschieden wird, die Sache mit dem ungeklärten Mord am
Viehhändler Kienbaum? So aufrichtig die Flamme des
Erzählers auch zunächst leuchten mag, ein ums andere
Mal weht der Wind des Zweifelns hindurch, und ihr Flackern
lässt Abgründe erahnen, die sie vielleicht doch nicht
ausleuchten konnte oder wollte. Sie wirft ihr Licht vielmehr auf die
Feigheit und Gemeinheit der Menschen, so könnte man sagen. "Ich
habe Kienbaum völlig totgeschlagen. Weiter brauchte es ja
nichts. Der Schlingel - will sagen, der arme Teufel hatte freilich ein
zähes Leben; aber ich - ich habe ihn untergekriegt. Wenn ein
Mensch Kienbaum totgeschlagen hat, so bin ich der Mensch und
Mörder." Dies erklärt Heinrich Schaumann
alias Stopfkuchen an einer Stelle seiner Erzählung, ohne dass
dem Leser ganz klar wird, was er damit gemeint hat.
Und so scheint zuletzt doch wieder alles ungeklärt wie zu
Anfang, geradezu typisch für Wilhelm Raabe, der dies alles mit
einem subtilen, durchgeistigten Humor zu Papier gebracht hat. Auch in
dieser ernsten, nachdenklich stimmenden Geschichte hat er das
Humoristische nicht ganz abgelegt, das ja viele seiner Werke
auszeichnet. Ein kurzer Anhang bringt die wichtigsten Daten aus
Raabes
Biografie und verweist zudem noch auf die bedeutendsten Werke
aus seinem umfangreichen Schaffen.
(Werner Fletcher; 11/2006)
Wilhelm
Raabe: "Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte"
Hoffmann und Campe, 2006. 224 Seiten.
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