Werner Fuld: "Wilhelm Raabe"
Eine Biografie
Bemüht bemüht
Quasi zum 175 Geburtstag Wilhelm Raabes (1831-1910) erscheint diese
"erste umfassende Lebensdarstellung ... seit langer Zeit" zu diesem
"oft verkannten Dichter, der keineswegs der harmlose Idyllenzeichner
und Humorist war, als der er gesehen wurde." Vielmehr "rechnete er mit
den bürgerlichen Idealen seiner Zeit ab und wurde ... zu einem
Wegbereiter der
Literatur der Moderne" (vgl. Klappentext). Und so unternimmt es Werner
Fuld das Bild des Spießers als Selbstschutz Raabes dahingehend zu
korrigieren, dass ihn zeitlebens eine psychische Gefährdung
begleitete und er bereits den Abgesang auf die bürgerliche Idylle
einläutete. Wenn man so will unternimmt Fuld also so eine Art
Rehabilitierung Raabes, um ihn aus der Umklammerung konservativer
Interpreten zu (er-)lösen.
Da Raabe von Anfang an mit Überzeugung von seiner Schriftstellerei
leben wollte, produzierte er in knapp 50 Jahren 86 Romane,
Erzählungen und Novellen - vom meisterhaften Realismus bis zur
alltäglichen Unterhaltungsliteratur - wobei sein Erstlingsroman
"Die Chronik der Sperlingsgasse" (1856) zunächst die
größte Popularität erlangte. Als Kritiker der
heraufkommenden Industrialisierung wurde Raabe fast zum Pessimisten -
und doch stammt aus dem vorgenannten Roman etwa folgende Aussage:
"Hütet euch jene schwächliche Resignation, von welcher der
nächste Schritt zur Gleichgültigkeit führt, zu
befördern oder sie gar hervorrufen zu wollen."
In nahezu jedem seiner Werke taucht die Angst ausgelacht zu werden als
Motiv auf - eine Angst, die Raabe seit seiner Schulzeit aufgestaut hat.
Sein Leseverhalten war schon in jungen Jahren
"völlig unsystematisch und planlos, aber ergiebig" (Fuld). Seit
dem Selbstmord eines Freundes leidet Raabe an einer Psychose, er
entwickelt eine Abneigung gegen
die Liebe als Romansujet
und verweigert öfters das von der zeitgenössischen
Leserschaft erwartete glückliche Ende. Raabe besucht in Berlin
Vorlesungen zur
Literaturgeschichte,
Kunstwissenschaft und Ästhetik - nach seinem Anfangserfolg bleibt
er unermüdlich produktiv und wird nach eigener Aussage
"förmlich mit Verlagsanbietungen überstürmt." Nach
einigen Reisen durch Deutschland und etliche Nachbarländer gesteht
Raabe aber doch in einem Brief ein, "dass ich ... kein Vermögen
erwerben werde durch die Feder." Seine Frau
Bertha ermöglichte ihm seine kontinuierliche Arbeit, indem sie ihr
Eigenleben praktisch opferte und für ihn da war.
Fuld gelingt quasi der Nachweis, wie sehr und wie bewusst Raabe
unter
dem Einfluss Darwins stand, ebenso dass der "Hungerpastor" eine Art
Kopie von Gustav Freytags "Soll und Haben" war - wobei hier die
landesüblichen Vorurteile gegenüber Juden bedient wurden,
weswegen z.B. die Raabe-Gesellschaft 1933 den Roman als
Schullektüre empfahl. Von den Nazi-Germanisten (wie Fehse und
Pongs) wurde Raabe vereinnahmt - auch wenn dieser selbst
erklärtermaßen nie ein Antisemit gewesen war.
Im Jahr 1865 schreibt Raabe (basierend auf einer historischen Quelle)
mit "Gedelöcke" eine "giftige Satire gegen die kirchliche
Orthodoxie" - Fuld bezeichnet den Autor als "antikirchlich
eingestellten Freigeist." Freilich fällt es Raabe durchgängig
schwer, seine Existenz als Dichter und Bürger in Einklang zu
bringen - und er muss, um Geld zu verdienen, den
mittelmäßigen Publikumsgeschmack bedienen. Nach zehn relativ
erfolgreichen (Stuttgarter) Jahren folgen zehn eher erfolglose
(Braunschweiger) Jahre. Fuld meint, es sei Raabe mittlerweile
gleichgültig geworden, was die Kritik über ihn urteilte - und
er schrieb vieles auf "Gartenlaube"-Niveau. Zwischendurch leistete er
sich eine kleine Fehde mit
Theodor Storm, dessen Poetik ihm zu "verlogen-versöhnlich" erschien.
Raabe fühlt sich mit 70 Jahren am Ende: "Ich habe mich
ausgeschrieben, und als Schriftsteller des 19. Jahrhunderts dem
zwanzigsten gar nichts mehr zu sagen. Seit dem 8. September 1901 ist
meine Muse tot." Immerhin war er nun ein berühmter Autor und
bemühte sich - so wie er die Jahre davor immer zu dichten
bemüht gewesen war - die nahezu 100 Briefe, die ihn täglich
erreichten, zu beantworten. Der "Hungerpastor" war in der 34. Auflage
längst zum Volksbuch geworden, wobei Raabe selbst die "Akten des
Vogelsangs" für sein bestes Werk hielt. Fuld gelingt hier eine gut
lesbare Darstellung dieses Autors, der übrigens zu Lebzeiten nie
ein Buch über sich veröffentlicht haben wollte.
(KS; 08/2006)
Werner Fuld: "Wilhelm Raabe. Eine
Biografie"
dtv, 2006. 383 Seiten.
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