Dmitrij Prigow: "Moskau-Japan und zurück"
Eigenwilliger
Reisebericht und Selbstreflexion
Die Welt hat sich geändert für den
Ich-Erzähler und seine alten Freunde aus dem Moskauer
Hinterhof. Vor allem haben sie seit dem Zusammenbruch des alten Systems
die Welt gesehen. Zumindest Europa oder, wie der Erzähler es
ausdrückt, "diverse Europas"; wenn man die Jungs aus der
ehemaligen Hinterhofbande, beeindrucken will, muss man schon in Japan
gewesen sein.
Also berichtet der Erzähler seinen russischen Freunden aus
Japan. Ein Kapitel namens "Beginn" und dreizehn "Fortsetzungen"
enthalten eine scheinbar unzusammenhängende Schilderung
unterschiedlichster Eindrücke; von der Ankunft am Flughafen,
der noch mehr oder weniger vertraut wirkt wie alle Flughäfen,
begleiten wir den russischen Besucher durch die sauberen
Straßen, verharren bei der Schrift, erkennen, dass keineswegs
so viele Japaner Englisch sprechen, wie gemeinhin behauptet wird, und
gelangen nach weiteren gedanklichen Exkursen, beispielsweise zu den in
Japan üblichen Bestattungsriten, in die Unterkunft. Oder
eigentlich im Rahmen eines weiteren Exkurses zu einem
zweitägigen Aufenthalt in einem Tempel des Zen-Buddhismus und
bei dessen Meister. Hier können sich die Zuhörer des
Japanreisenden nicht nur über die religiös-kultischen
Aspekte des Zen-Buddhismus
informieren, sondern auch über die
japanische
Esskultur.
Ganz bewusst lässt der Erzähler jede Geradlinigkeit
außer Acht und schlägt auch oft die Brücke
zur russischen Entsprechung - oder dem Gegenstück, denn
Gemeinsamkeiten sind eher selten - seines jeweiligen Gegenstandes.
Bekannte Themen wie zum Beispiel die Sumo-Ringer finden eine
angemessene Würdigung, auch wenn sie, sofern sie von ihrem
Podest auf Zuschauer fallen, ebenso eine mögliche Todesursache
darstellen wie die rasanten Lenker ungeschlachter Fahrzeuge bei einem
alljährlich stattfindenden Umzug.
Dass die Japaner sehr schamhaft sind, ist bekannt. Umso interessanter
erscheint es unter diesen Umständen dem russischen Reisenden,
Tabuthemen nachzugehen. Am Fujiyama findet er die denkbar nobelste, an
den europäischen Bedürfnissen orientierte
Bedürfnisanstalt, und er beschreibt die Prüderie in
den japanischen Pornofilmen.
Interessant ist es auch, das Verhältnis der Generationen
untereinander und die Jugend-Subkultur in Russland beziehungsweise
Europa und Japan zu vergleichen und zu erforschen, wie weit die
Angleichung der japanischen Kultur noch gehen mag.
Ein Inhaltsabriss dieses Buchs ist aufgrund der rasch wechselnden,
ineinander übergehenden und fast unablässig
mäandernden Gedankengänge kaum möglich. Was,
wie erwähnt, auf den ersten Blick recht zufällig
zusammengeschrieben wirkt, erweist sich aber doch als ausgefeilte
Komposition, die vom Gegensatz lebt: vom Themenwechsel, vom Spiel mit
Gegenüberstellungen von Ländern, Kulturen und
Epochen, von der Ablösung eines lässigen
Erzählstils mit feinsinniger Poesie, vom Kontrast zwischen
Satire und nachdenklicher Betrachtung, rauem Humor und ernster
Sachlichkeit. Nie jedoch kommt ein herablassender oder gar
rassistischer Ton auf, auch wenn der Autor seinem Russentum treu
bleibt, das er nicht selten voller Eigenironie porträtiert,
und sich keineswegs anbiedert. Während die Fortsetzungen
einander ablösen, entsteht allmählich ein
facettenreiches, farbiges Bild von Japan, aber auch von Russland und so
manchem Aspekt des westlichen Europas.
Das Buch ist eine eigenwillige Reisebeschreibung, unterhaltsam
verfasst, mit erstaunlicher Tiefe unter der Oberfläche - und
ein bemerkenswertes Stück Selbstreflexion durch
Gegenüberstellung der eigenen Kultur mit der "anderen".
(Regina Károlyi; 02/2007)
Dmitrij
Prigow: "Moskau-Japan und zurück"
Aus dem Russischen von Christiane Körner.
Folio Verlag, 2007. 273 Seiten.
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Dmitrij
Prigow: Geboren 1940; lebte
in Moskau. Dichter, Künstler,
Erfinder und "Patriarch" des Moskauer Konzeptualismus; Autor
zahlreicher Gedichtbände und Prosatexte, seine Gedichtzyklen
über den Milizionär und die Küchenschabe
gehören zu den bekanntesten Texten des ehemaligen
literarischen Untergrunds. Veröffentlichungen in Russland seit
1989, zahlreiche Lesungen und Auftritte. 1993 "Puschkin-Preis".
Publikationen u. a. in "Schreibheft", "Akzente". Auf Deutsch
erschienen: "Poet ohne Persönlichkeit" (1991), "Der
Milizionär" (1991). Zahlreiche Gruppen- und
Einzelausstellungen, u. a. Inter Art, Berlin; Städtisches
Museum, Mühlheim an der Ruhr; Ludwig Museum, Budapest;
documenta, Kassel; Stedelijk Museum, Amsterdam; Kunstverein Hannover;
Struve Gallery, Chicago. 1990/91 DAAD-Stipendiat in Berlin.
Der Autor starb am 16. Juli 2007 im Alter von 66 Jahren.
Ein
weiteres Buch des Autors:
"Lebt in Moskau!"
"Lebt in Moskau!“ ist ein Delirium mit und ohne Alkohol, ein
Feuerwerk an schwarzem Humor und Sarkasmus, eine Apotheose Moskaus,
deren Surrealismus mehr über die Realität der Stadt
und ihrer Bewohner aussagt, als alle realistischen Beschreibungen es je
leisten könnten. Prigow erzählt seine
frühesten Kindheitserinnerungen: wie die deutsche Luftwaffe
Moskau bombardiert, wie deutsche Kriegsgefangene in riesigen Kolonnen
durch die Stadt getrieben werden, vom Leben der Pioniere und von den
Formen der grenzenlosen Bewunderung für
Stalin
über dessen Tod hinaus. Er spricht vom besetzten Estland und
den Zuständen in einer Moskauer Kommunalka, davon, warum sich
Kinder zu geheimen Orden zusammenschlossen, aber auch davon, warum
Chruschtschow zum Kannibalen mutiert und den Dichter Wosnessenski in
einem wilden Gelage verspeist und
Gorbatschow alle Alkoholiker
der
Stadt spurlos verschwinden lässt. Prigows Moskau ist eine
Stadt in Panik - einmal tauchen Haie in der Moskwa auf, ein andermal
nehmen die Schlachten zwischen Jugendbanden das Ausmaß eines
Weltkrieges an. Prigow erzählt von den legendären
Spielen zwischen "Dynamo" und "Spartak", von den zweifelhaften
Errungenschaften sowjetischer Wissenschaft und von bizarren
Experimenten mit alten Menschen; er bevölkert die Stadt mit
Ratten
und Küchenschaben und lässt sie
schließlich in ihren eigenen Exkrementen untergehen. (Folio
Verlag)
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