Karl R. Popper: "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde"


"Nur Wenige sind fähig, eine politische Konzeption zu entwerfen und durchzuführen, aber wir sind alle fähig, sie zu beurteilen." (Perikles von Athen)

"Das erste Prinzip von allen ist dieses: Niemand, weder Mann noch Weib, soll jemals ohne Führer sein. Auch soll die Seele von keinem sich daran gewöhnen, etwas im Ernst oder auch nur im Scherz auf eigene Hand allein zu tun. Vielmehr soll jeder, im Kriege und auch mitten im Frieden, auf seinen Führer blicken und ihm gläubig folgen. Und auch in den geringsten Dingen soll er unter der Leitung des Führers stehen. Zum Beispiel soll er aufstehen, sich bewegen, sich waschen, seine Mahlzeiten einnehmen ... nur, wenn es ihm befohlen wird. Kurz, er wird seine Seele durch lange Gewöhnung so in Zucht nehmen, dass sie nicht einmal auf den Gedanken kommt, unabhängig zu handeln, und dass sie dazu völlig unfähig wird." (Platon von Athen)

"Habe Mut, frei zu sein und dich deines eigenen Verstandes zu bedienen." (Immanuel Kant)

Man verspricht nicht zuviel, wenn man meint, Sir Karl Popper biete Philosophie vom Feinsten. Popper ist - nebst Bertrand Russell - die wohl beste Verführung zur Philosophie und doch keine Spur trivial. Der unumstrittene Klassiker dieses 1902 in Wien geborenen und wegen seines Engagements für Demokratie und Freiheit 1965 in England geadelten Denkers jüdischer Abstammung ist sein Buch "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", ein in seinem Umfang und der gedanklichen Dichte fulminantes Werk, dessen deutsche Ausgabe Popper mit den Worten "Dem Andenken des Philosophen der Freiheit und Menschlichkeit" dem von ihm verehrten Immanuel Kant widmete.
Veranlassung, dieses Buch zu schreiben, war für Popper Hitlers Einmarsch in seine Heimat Österreich (Zitat: "Ich beschloss am 13. März 1938 dieses Buch zu schreiben."). Die erste Auflage erschien 1945, und Popper bezeichnete diese später als seinen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen, welche sich tendenziell gegen Nazismus und Kommunismus; gegen Hitler und Stalin, die einstigen Verbündeten des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 richtete.
Insgesamt handelt es sich um eine kritische Ideengeschichte des totalitären Denkens, welche die Lehren prominenter Philosophen wie Plato, Hegel und Marx in respektloser Manier auf totalitäre Momente hin untersucht und solcherart den Panthenon klassischer Halbgötter gewaltig durcheinander wirbelt.
Viel Schimpf, viel Ehr' wurde Popper für dieses mutige Werk zuteil, von dessen Inhalt er sich bis an sein Lebensende 1994 dezidiert um keinen Deut distanzierte, selbst als ganze Heerscharen von Platonisten, Hegelianern, Freudianern und Marxisten diese Diffamierung ihrer Idole wütend attackierten und seine Nobilitierung als Ehrung opportunistischer Wesenszüge durch das Establishment denunziert wurde. Wobei die Wut gegen das Buch mit dessen Erfolg korrespondierte, denn Popper war immer darum bemüht gewesen, der Stimme der Aufklärung möglichst breites Gehör zu verschaffen, was sich in seinem betont bescheidenen und allgemein zugänglichen Schreibstil niederschlägt, dem es trotzdem nicht an gebotener Galanz mangelt.
Popper schrieb nicht für esoterische Zirkel, sondern für den mündigen Bürger, der - im Geist der Kantischen Ethik - es wagt, frei zu sein, und die Freiheit aller Anderen als ein achtens- wie schützenswertes Gut betrachtet. Und von diesem Bürger wollte er auch verstanden werden, weshalb er sich eben einer einfachen und verständlichen Sprache bediente.
Adornos prätentiöse Ausdrucksweise beurteilte er hingegen als wichtigtuerisch aber nichtssagend (Adorno und Popper waren die eigentlichen Kontrahenten in dem 1961 eskalierenden Positivismusstreit).

Wenn nun der ehemalige Wiener Jungkommunist Karl Popper den "Historischen Materialismus" von Karl Marx als orakelnde Philosophie und Aufstand gegen die Vernunft auffasst, deren logische Konsequenz der stalinistische Terror war, so trifft diese Kritik eine Gemeinde marxistischer Getreuer, die - salopp gesagt - sowieso Leid gewöhnt ist und der schon Schlimmeres widerfahren ist (etwa die oft geübte böswillige Kriminalisierung marxistischer Lehre auf einer Ebene mit nationalsozialistischer Ideologie). Auch war mehr oder minder polemische Kritik an Marx' Historizismus zu Zeiten des Kalten Krieges nichts Ungewöhnliches und folglich nicht weiter des Aufsehens wert. Anders steht es dann schon um die ziemlich heftige Kritik Hegels, der für Popper "... ein Beispiel für einen schrecklichen Niedergang an intellektueller Ernsthaftigkeit und intellektueller Redlichkeit darstellt"; und dessen praktizierte Namensnennung Seite an Seite mit Immanuel Kant er als Sakrileg empfindet.
Wer nun weiß, welch überragende Bedeutung Hegel in jeder Geschichte der Philosophie zukommt, der mag erahnen, welch Sakrileg es ist, wenn Popper Hegel und die Hegelianer für vieles, das in Deutschland bis 1945 geschehen ist, verantwortlich macht und darüber hinaus des großen deutschen Denkers Philosophie abschätzig als Pseudophilosophie wertet.
Den wohl dreistesten Frevel erlaubt sich Popper jedoch an einem Titanen klassischer Geisteskultur, nämlich an Platon, der als bedeutsamer Mitbegründer abendländischer Zivilisation gilt und dessen Ideenlehre die christlich-abendländische Kultur fundamental geprägt hat, was bei genauerer Betrachtung seiner Philosophie als abendländische Tragödie zu erachten ist.
Denn Platon steht für einen militanten Konservativismus, welcher jede gesellschaftliche Veränderung, jeglichen Demokratisierungsprozess fanatisch bekämpft, zu seiner Zeit das hierarchisch strukturierte politische System Spartas idealisiert, rassistische Denkweisen verfestigt und insgesamt als früher Ideologe des Faschismus zu erkennen ist.
Der Befund platonischer Philosophie kann nicht niederschmetternder sein, wenn Platons Ideen, außer der Idee der Gerechtigkeit und Wahrheit auch die Idee des Guten, des Schönen und der Glückseligkeit immer nur aus der Perspektive einer starren Kastengesellschaft zu verstehen sind. So ist der Aristokrat glückselig, wenn er Aristokrat ist, und so ist der Krieger glückselig, wenn er Krieger ist, und so ist der Sklave glückselig, wenn er Sklave ist. Doch sollte demnach der Aristokrat niemals Sklave - also rechtloser Arbeiter - sein und der Sklave niemals Aristokrat - also in allen Gesellschaftsbereichen mitbestimmend - sein. Jeder möge an seinem angestammten Platz bleiben, und jede Veränderung gesellschaftlicher Positionen sei ein Zeichen des Verfalls naturgegebener, also gerechter, wahrer, guter, schöner und glückseliger Ordnung.

In Platons "Der Staat" manifestiere sich eine kaum verhüllte Rassenlehre, verkörpert in der Idee der Sophokratie (Herrschaft der Philosophen), denn: Der Philosoph muss versuchen, auf Erden eine Rasse zu züchten, die von Platon beschrieben wird als die Rasse des "beständigsten, männlichsten und, innerhalb der Schranken des Möglichen, schönsten Menschen, ... vornehm geboren und von furchteinflößendem Charakter". Eine gottähnliche Herrenrasse, von der Natur zum Königtum und zur Herrschaft bestimmt, wie es Popper formuliert.
Popper arbeitet auch den zeitgeschichtlichen Hintergrund von Platons Angriff auf das Modell der offenen Gesellschaft heraus. Es war die Zeit des Peloponnesischen Krieges (zwei große Kriege von 431-421 und 413-404 v. Chr.), jenes großen Konflikts zwischen der athenischen Demokratie und der erstarrten Stammesgesellschaft Sparta, welche auf Unterdrückung und Ausbeutung gegründet war. Nach dem Fall Athens im Jahre 404 v. Chr. (Sparta hatte sich nicht geschämt ein Bündnis mit Persien einzugehen) konstituierte sich die sogenannte Tyrannei der Dreißig, eine aristokratische Marionettenregierung von Spartas Gnaden bestehend aus verräterischen Oligarchen, die schon während des Krieges aus Hass auf die Demokratie mit Sparta konspirierten und deren Beitrag zur Niederlage Athens als nicht unbeachtlich eingeschätzt wurde.
Nach acht Monaten Schreckensherrschaft der Dreißig, deren führende Repräsentanten, Alkibiades, Kritias und Charmides, - allesamt Schüler des Sokrates - waren, wurde die spartanische Besatzungsmacht und ihr Regime von demokratischen Kräften angegriffen und geschlagen; die Spartaner schließlich in einem siegreichen Befreiungskrieg des Landes vertrieben, in der großen Schlacht bei Knidos besiegt und die Demokratie wiederhergestellt.
Sokrates, welcher im Unterschied zu Platon ganz gewiss weder Sympathisant noch Parteigänger der Dreißig gewesen ist, fiel den Umständen zum Opfer und hatte den Schierlingsbecher zu leeren.
Wie auch immer, diese unruhige Zeit war zugleich die Zeit der "großen Generation", wie sie Popper nennt; es war die Zeit konservativer Verhaltenheit, wie jene des Sophokles und Thukydides, genauso die Zeit zweifelnder Skepsis wie jene des Euripides und des Aristophanes. Und es war die Zeit der großen Führer der Demokratie, wie Perikles, der das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz und des politischen Individualismus formulierte, und Herodot, welcher das Werk des Perikles enthusiastisch begrüßte.
Und es war auch die Zeit von Protagoras und Demokrit, welche die Verantwortlichkeit des Einzelmenschen für die Realverfassung gesellschaftlicher Einrichtungen betonten, solcherart Bürgerrechte und Bürgerpflichten andachten. Platon war nicht einer von ihnen, vielmehr war er ihren Ideen feindlich gesinnt und wurde zum Verräter an der Lehre des von ihm idealisierten Sokrates, insofern er dessen Autorität für seine feindseligen Zwecke benutzte.

Das Griechenland der Antike ist ganz zweifellos die Wiege abendländischer Zivilisation, doch wurde zu jener Zeit nicht nur die Idee der Gleichheit vor dem Gesetz geboren, sondern auch der Idee autoritärer Herrschaft wurde durch Platon ein geniales Manifest gesetzt.

Es ist ungemein spannend, nebst Marx auch die Helden bürgerlichen Bildungsstandards purzeln zu sehen, und man fragt sich, nachdenklich geworden, wie es passieren konnte und kann, dass totalitäre Einstellungen, wie jene von Platon propagierten, eigentlich bis zum heutigen Tag unkritisch wieder- und weitergegeben werden. Der Gegenwartsmensch weiß aus geschichtlicher Erfahrung um den teils bedenklichen Gehalt der Lehre von Marx, doch ein Platon wird weiterhin als überragender Denker abendländischer Philosophie geführt, dessen Erhabenheit kaum jemand ernsthaft in Frage stellt.
Für Popper war Platon jedoch kein Held abendländischen Philosophierens, sondern ein als politischer Funktionär gescheiterter Reaktionär, der als Philosoph wirkmächtig wurde und dessen unüberlegte Popularität (Popper spricht vom Zauber Platons) ihn zu einem beachtenswerten Feind des Modells von der offenen Gesellschaft macht, welche basiert auf Rechtsstaatlichkeit und einem funktionierenden - also rechtsstaatlich geordneten - freien Markt.

Poppers zweibändiges Werk atmet den Geist ehrlicher Betroffenheit, welche in biografischem Erleben seine Ursache hat (ein guter Freund fand bei politisch motivierten Tumulten in Wien den Tod). Es handelt sich um eine kämpferische Schrift, eben um Poppers Beitrag zum Zweiten Weltkrieg, welcher sich auf ideologischer Ebene als ein großes Ringen entgegengesetzter Gesellschaftsmodelle darstellte; insofern ist es ein kraftvoller Text, dessen Lektüre nicht ermüdet, sondern aufweckt und zum Weiterdenken anregt.
Und wie schon eingangs bemerkt, handelt es sich um Philosophie vom Feinsten, wie überhaupt Popper immer darum bemüht war, seine Leserschaft nicht durch elitäres Gehaben vor den Kopf zu stoßen und den einfachen Menschen seines vorgeblichen Massenwesens wegen zu verachten.
Engagierte Literatur eben, die sich nicht in akademische Abgesetztheit flüchtet und sich nicht scheut das Projekt der Aufklärung im Gedenken Kants und Sokrates als Dialog mit dem selbstverantwortlichen Bürger fortzuführen.

(Harald S.; 05/2002)


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