Martin Morgenstern & Robert Zimmer: "Karl Popper"
Ein Portrait
"Im Mittelpunkt seiner Philosophie steht
die Überzeugung, dass Kritik mehr als alles andere Wachstum
und Verbesserung erbringen kann, eben auch Wachstum und Verbesserung
unseres Wissens; doch der Mensch Popper konnte keine Kritik ertragen.
Niemand hat je so überzeugend wie er schriftlich die Sache von
Freiheit und Toleranz vertreten; der Mensch Popper jedoch war
intolerant und hatte kein wirkliches Verständnis von Freiheit."
(Bryan Magee, "Bekenntnisse eines Philosophen" - 1998)
Bei dem vorliegenden Buch handelt es
sich um ein großartiges Porträt eines überragenden
Denkers und seines Denkens. Für manche war dieser Denker der
größte Philosoph des 20. Jahrhunderts, für
viele andere jedoch gehört er zusammen mit
Bertrand
Russell, Ludwig Wittgenstein und Martin
Heidegger zum Viergestirn der bedeutendsten Philosophen des 20.
Jahrhunderts. Er war Philosoph mit Haut und Haaren, obwohl er es
eigentlich verabscheute, Philosoph zu sein. Überwog in ihm
doch zuweilen die Empörung über eine Zunft, welche es
liebt, im akademischen Jargon zu schwelgen und den klaren und einfachen
Gedanken zu scheuen. War es doch sein Credo, eine Sache entweder klar
und einfach oder gar nicht zu sagen. Die Rede ist, wie kann es anders
sein, von Karl Popper.
Karl Popper wurde 1902 als Sohn
assimilierter und zum Protestantismus übergetretener Juden in
Wien geboren. Vor dem Naziterror nach Neuseeland geflüchtet,
verbrachte er die Nachkriegszeit hauptsächlich in seiner
englischen Wahlheimat, wurde 1965 von der englischen Krone wegen seines
Engagements für eine offene Gesellschaft geadelt, und starb
1994 als Sir Karl Popper in London. Die Urne mit seiner Asche wurde
nach Wien überführt und auf einem kleinen
katholischen Lainzer Friedhof neben seiner ehemaligen Frau Hennie
beigesetzt.
In den ersten Jahrzehnten seines Lebens deutete wenig auf die spätere
akademische Karriere eines Berufsphilosophen von Weltrang hin. Als
16-jähriger verließ er 1918 Schule und Elternhaus
(durch den verlorenen Krieg von 1914-1918 war die einst wohlhabende
bourgeoise Familie verarmt), schloss sich revolutionären
Sozialisten an, holte 1922 als Externer im zweiten Anlauf die Matura
nach, absolvierte 1922-1924 eine Tischlerlehre und erwarb gleichzeitig
an der Universität Wien die Befähigung zum
Grundschullehrer. Als Pädagoge arbeitete er mit schwer
erziehbaren Kindern und widmete sich nebenbei an der
Universität Wien einem Studium der Psychologie und
Philosophie. Popper hatte also schon in jungen Jahren Erstaunliches und
gar Unterschiedliches (nämlich auf handwerklichem und
intellektuellem Gebiet) erreicht, was er wohl seiner für ihn
so charakteristischen rigorosen, man ist verleitet zu sagen, klassisch
protestantischen Arbeitsethik zu verdanken hatte, die in der Manier einer
innerweltlichen Askese leichtlebige Vergnügungen scheute, wenn
nicht sogar verachtete (worin er seinem großen Idol Immanuel
Kant ähnlich war).
Karl Popper zeichnete sich sein Leben lang als ausgesprochen
ungeselliger Zeitgenosse aus, der berüchtigt dafür
war, sich nach empfangenen Einladungen regelmäßig
selbst auszuladen, und der seine Wohnsitze bewusst so wählte,
dass er möglichst wenig Kontakt mit Menschen hatte. Wer den
Philosophen treffen wollte, musste ihm bei einem seiner
Vorträge auflauern. Eine Chance auf ein privates
Gespräch (über Alltägliches gar) gab es
nicht. Popper verabscheute ein jedes nichtphilosophisches
Gespräch als triviales Geschwätz, das einzig dazu
geeignet sei, ihn um seinen letzten Nerv zu bringen.
Der für seinen
weiteren Lebenslauf wohl prägendste Tag war der 15. Juni 1919.
An diesem Tag kam es in der Wiener Hörlgasse zu einem blutigen
Zusammenstoß zwischen Polizeikräften und
kommunistischen Demonstranten. Die Folge waren 12 tote und
über 80 verletzte Demonstranten. Dass jedoch sodann
kommunistische Funktionäre diese Opfer im Dienst der Sache
rechtfertigten, widersprach zutiefst Poppers Überzeugung,
wonach es eine individuelle moralische Verantwortung den Opfern
gegenüber gab. Popper wandte sich in der Folge angewidert vom
Marxismus ab, dessen historischen Determinismus er für die
Verwüstung menschlichen Moralempfindens verantwortlich machte.
Die Idee des demokratischen Sozialismus sollte er hingegen noch
für längere Zeit als erstrebenswert erachten.
Überragende Bekanntheit erlangte Popper vor allem wegen seiner
1945 erschienenen berühmten Streitschrift "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", die er als seinen ideologischen Beitrag im
Kampf der westlichen Demokratien gegen Nationalsozialismus und
Stalinismus verstanden wissen wollte, und worin er die philosophischen
Väter des Totalitarismus, die "orakelnden Philosophen"
(Platon, Hegel, Marx) einer kämpferischen Kritik unterzog. Die
Idee zu dem Titel kam ihm in England, wo das liberale
angelsächsische Geistesklima ihn befreit aufatmen
ließ: "Ich kam aus Österreich, wo eine
verhältnismäßig milde Diktatur herrschte,
die aber von dem nationalsozialistischen Nachbarn bedroht war. In der
freien Luft Englands konnte ich aufatmen. Es war, wie wenn die Fenster
geöffnet worden wären. Der Name "Offene Gesellschaft"
stammt von diesem Erlebnis."
Popper begriff sich als in der Tradition der Aufklärung
stehend, und sein methodischer Antidogmatismus entfaltete als
"Kritischer Rationalismus" in allen Bereichen akademischen aber auch
politischen Denkens seine Wirkung (die konservative Margaret Thatcher
bezeichnete die beiden geborenen Wiener Hayek und Popper als ihre
"Gurus", doch auch der Sozialdemokrat und deutsche Kanzler von
1974-1982 Helmut Schmidt war ein glühender Verehrer Karl
Poppers). Insbesondere mit Vertretern
der von Charles Darwin inspirierten "Evolutionären Erkenntnistheorie"
erzielte er weitgehende wissenschaftstheoretische
Übereinstimmung; so etwa mit dem Nobelpreisträger
Konrad Lorenz, mit dem er sich grundsätzlich darüber
einig war, dass die Evolution ein kreativer (und nicht bloß
mechanischer) Prozess sei, der immer wieder zu schöpferisch
hervorgebrachten neuen Lebensformen führe.
Der ehemalige revolutionäre Sozialist aus der Grinzinger
Barackensiedlung avancierte während der
1968er-Studentenunruhen zum Feindbild revolutionärer Studenten
und wurde wegen seiner Nähe zum Establishment (allein schon
wegen seiner 1965 erfolgten Adelung), aber auch wegen seiner zur
politischen Philosophie mit Vehemenz vorgetragenen reformistischen
Denkweise ("Stückwerk-Technologie") von Vertretern der
"Kritischen Theorie" der Frankfurter Schule massiv attackiert
(Positivismusstreit ab 1961).
Poppers "Kritischer Rationalismus" orientierte sich in der Tradition
eines Sokrates am "selbstkritischen Nichtwissen" und verwarf alle
"orakelnden Philosophien" mit utopischen Zukunftsvisionen, welche sich
- so lautete sein Vorwurf - gegenüber einer jeden kritischen
Überprüfung und Widerlegungsmöglichkeit
(Kriterium der Falsifikation bzw. "Fallibilismus") immunisieren. Der
nie enden wollende unausweichliche Streit mit neomarxistischen
Denkschulen war also geradezu programmatisch bedingt und wurde seitens
Poppers mit grobem Zynismus geführt: "Was freilich
Adorno angeht, so kann ich seine Philosophie weder gutheißen
noch nicht gutheißen. Obwohl ich mich redlich bemüht
habe, sein Philosophieren zu verstehen, kommt es mir so vor, als sei es
insgesamt oder nahezu insgesamt nichts als Rhetorik. Er scheint, dass
er nichts zu sagen hat und dass er dies in Hegelscher Sprache sagt."
(Popper über Adorno)
Karl Popper gilt bis in unsere Tage hinein als philosophisches
Flaggschiff des Liberalismus im Kampf für
Toleranz, multikulturelle Vielfalt, Gedanken- und
Meinungsfreiheit, doch war er persönlich, nach
übereinstimmenden Berichten zu seiner Person, im
höchsten Maße intolerant und ertrug es nicht, wenn
sich ein Schüler mit abweichenden Thesen zu seiner Philosophie
von ihm emanzipierte. Popper galt als engagierter,
fürsorglicher und warmherziger philosophischer Lehrer ohne
jeden Dünkel. Doch andererseits war er höchst
empfindsam, rechthaberisch und nachtragend. Einen seiner begabtesten
Schüler, den Vordenker der Postmoderne Paul Feyerabend,
bezeichnete er wegen dessen "anarchistischer Erkenntnistheorie" in
späteren Jahren nur noch abschätzig als den "Silly
Paul". Dass Popper zu dieser "anarchistischen Erkenntnistheorie" Paul
Feyerabends, die auch nichtrationale Formen des Erkennens und Handelns
wie Astrologie oder
Magie
anerkennt, nichts als eine bissige Bemerkung über die "Idiotie
moderner Slogans" wie "Anything goes" einfiel, spricht nicht gerade
für einen liberalen Charakter des großen Liberalen.
Seine politische Streitlust brachte ihn in den 1970er-Jahren in einen
grundsätzlichen Konflikt mit der aufkeimenden
Ökologiebewegung, deren Warnungen er für
maßlos übertrieben hielt, zumal
Umweltzerstörung für ihn ein konstanter Faktor der
menschlichen Geschichte sei und tatsächlich noch nie eine
Gesellschaft so fürsorglich mit der Umwelt umgegangen sei wie
die gegenwärtige westliche. Die deutschen Grünen sah
Popper in den verhängnisvollen, romantisierenden Traditionen
der deutschen Geistesgeschichte stehend, womit er sich nicht scheute,
die Grünen in unmittelbare Nähe des Faschismus zu
rücken. Der in Deutschland nach wie vor lebendige
antirationalistische Reflex gegen Aufklärung und Moderne
verband sich in seinen Augen dabei auf politischer Ebene mit einem Antiamerikanismus, der besonders im Pazifismus der
Friedensbewegung zum Ausdruck käme.
Wer Poppers Schriften kennt, der schwärmt von der Klarheit und
Einfachheit seiner Gedanken. Sein Schreibstil ist von geradezu
volkstümlicher Schlichtheit und versagt sich jeglicher
Versuchung zum virtuosen doch unklaren Ausdruck. Auch das
Popper-Portrait von Martin Morgenstern und Robert Zimmer ist von
sachlicher Selbstgenügsamkeit geprägt. Gegenstand des
Buches ist Leben und Denken des großen Philosophen, und dies
dem Leser auf anregende Weise zu vermitteln ist auf meisterliche Weise
gelungen.
Wer nun meint, dass Philosophie doch nicht so spannend sein
könne, ja, und was gäbe schon das Leben eines
Philosophen her, der es vorzog, sein Leben denkend zu verbringen, der
möge sich anhand dieser Popper-Biografie eines Besseren
belehren lassen.
In durchgehender vierfarbiger Untergliederung wird der Buchinhalt aufgeteilt in das eigentliche
Portrait, in eingehendere Besprechungen philosophischer Hauptwerke, in
Erläuterungen zu bestimmten Sach- und Themenkreisen wie auch
zu Denkansätzen anderer Philosophen und in Kurznotizen von und
über handlungsrelevante Personen. Zahlreiche Abbildungen
lockern einen Text auf, der sich jedoch vergnüglich liest und
nebenbei fast schon eine passable Einführung in das
philosophische Denken des 20. Jahrhunderts mitliefert. Denn gleich ob
Positivismus, Kritische Theorie, Neo-Marxismus, Evolutionäre
Erkenntnistheorie oder der so gewichtige Kritische Rationalismus von
Popper selbst, das Denken des 20. Jahrhunderts breitet sich in seiner
ganzen widersprüchlichen Vielfalt vor dem Leser aus und
vermittelt ihm eine erste Kompetenz in diesen Dingen, die unser Leben
mehr bestimmen, als wir glauben möchten. Drollige Anekdoten
wie das "Schürhaken-Duell" mit Ludwig Wittgenstein runden das
Gesamtbild ab, lassen zusätzlich zur ernsthaften
Beschäftigung schmunzeln und rufen in Erinnerung, dass selbst
noch die größten der Philosophen zuweilen Opfer
ihrer kleinlichen Gefühle, ja oft geradezu nur komische
Käuze waren, die uns jedoch eine wunderbare Welt des Denkens
hinterlassen haben.
Dem Autorenpaar Martin Morgenstern und
Robert Zimmer ist zu diesem Buch eine
überschwängliche Gratulation auszusprechen; dem Leser
wünsche ich damit großen Spaß. Und dieser
sei ihm hiermit verbürgt, denn dieses Porträt ist eine Perle
im Genre biografischen Schrifttums.
(Harald Schulz; 06/2002)
Martin Morgenstern u. Robert Zimmer: "Karl Popper"
dtv, 2002. 191 Seiten.
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