Antonij Pogorelskij: "Der Doppelgänger oder Meine Abende in Kleinrussland"
Ein
Kleinod der russischen Romantik
Der Doppelgänger, ein überaus beliebtes Motiv der
Romantiker, zu deren russischen Vertretern Antonij Pogorelskij
zählt, ein Autor, der im deutschsprachigen Raum bisher
weitgehend unbekannt geblieben ist, der aber durchaus wert ist, auch
hierzulande von einer größeren Leserschaft entdeckt
zu werden.
Gleich auf den ersten Seiten des Buches liefert uns der Autor sein
Bekenntnis zur Romantik ab. "Welcher Mensch auf dieser Welt kann sich
rühmen, irgendwann und irgendwo einmal ganz und gar
glücklich gewesen zu sein?" fragt er, um ein paar Zeilen
später hinzuzufügen: "Wenn dir das Glück
auch immer hold ist, wird es dich dennoch nicht dahin führen,
wohin du strebst." Das Entwurzelte, die Heimatlosigkeit des Romantikers
spricht aus diesen Worten, sein ewiges Suchen, das
Unerfüllbare seiner Sehnsucht und auch seine Einsamkeit. "Du
bist verdammt dazu, allein zu sein", schreibt Antonij Pogorelskij an
anderer Stelle. Aber gleichzeitig empfindet der romantische Mensch auch
ein Grauen vor dieser Einsamkeit, wie Ricarda Huch in ihrer Studie
über den romantischen Charakter treffend bemerkt. Und oft ist
eben das Bedürfnis nach Gesellschaft und Bindung, die er in
seinem fleischlich-menschlichen Gegenüber nicht finden kann,
so stark, dass er sich einen Doppelgänger erschafft. Die
Imaginationen der romantischen Fantasie verselbstständigen
sich und beginnen, ein Eigenleben zu führen,
schließlich kreißt die Einbildungskraft und gebiert
den immateriellen Leib des Doppelgängers. Novalis
äußerte sich wie folgt zu diesem Themenkomplex:
"Niemand kennt sich, insofern er nur selbst und nicht auch zugleich ein
anderer ist. Eine nicht synthetische Person ist eine Person, die
mehrere Personen zugleich ist, ein Genius. Sie vermag in mehrere
Personen geteilt, doch auch eine zu sein. Unser Denken ist also
Zwiesprache."
Auch Pogorelskij hält Zwiesprache mit seinem
Doppelgänger. Sie parlieren über philosophische
Themen oder erzählen sich gegenseitig Geschichten. In sechs
Kapitel ist der Roman, der im Grunde gar kein Roman ist, eingeteilt.
Jedes dieser Kapitel hat die Gespräche eines Abends zwischen
dem Ich-Erzähler und seinem Doppelgänger zum Inhalt.
Es sind Geschichten mit typisch romantischen Inhalten wie dem
Geheimnisvollen, Rätselhaften, der Liebe, Spuk und
übersinnlichen Erscheinungen. In der Tat handelt es sich hier
zumeist um Gespenstergeschichten oder diesem Genre verwandte
Erzählungen, die meist in knapper, anekdotischer Form gehalten
sind. Einige dieser Geschichten sind immerhin so originell, dass es
gelohnt hätte, sie literarisch weiter zu verarbeiten, sie etwa
in eine größere Form wie in eine Kurzgeschichte oder
Novelle münden zu lassen. Stilistisch wie auch inhaltlich
lehnen sich die Geschichten Pogorelskijs stark an die
Erzählungen E. T. A. Hoffmanns an. Auch unter Hoffmanns
Erzählungen findet sich eine mit dem Titel "Der
Doppelgänger", und auch sonst spielt das
Doppelgängermotiv eine zentrale Rolle in Hoffmanns
Werk. Hier, bei Pogorelskij, schlüpft der
Doppelgänger in die Rolle des Zweiflers. Ausgerechnet er, die
Erscheinung des Doppelgängers, bezweifelt immer wieder die
Möglichkeit von Erscheinungen überhaupt. Ein Schuss
Ironie also, die ja ebenfalls einen Wesenszug des romantischen
Charakters darstellt.
Eine Erzählung, die des dritten Abends, erinnert so stark an
Hoffmanns
"Sandmann", dass man fast schon von einem Plagiat sprechen
kann. Nathanael, Professor Spalanzani und seine Tochter Olimpia, sie
sind alle unschwer wieder zu erkennen in Pogorelskijs Figuren, und auch
Aufbau und Handlung der Geschichte sind dem "Sandmann" recht
ähnlich, den Hoffmann etwa fünfzehn Jahre
früher geschrieben hatte. Auch die vermenschlichende Karikatur
des Tieres, ganz besonders der Katze, der ja von jeher ein
dämonischer Einfluss auf den Menschen zugeschrieben wird,
lassen den Leser stark an Hoffmann denken. Von einer Äffin
schreibt Pogorelskij beispielsweise in seinem letzten Kapitel: "In
meinem ganzen Leben begegneten mir wenige Frauen mit einem solch
sanften und guten Charakter und einer derart ungezwungenen
Fröhlichkeit."
Ein etwas aus dem Rahmen fallendes Kapitel bei Pogorelskij beinhaltet
eine ziemlich obskure, pseudophilosophische Analyse des menschlichen
Verstandes und der mit dem Verstand verknüpften Tugenden und
Laster, die von Pogorelskij mit Hilfe von Diagrammen in verschiedene
Kategorien eingeteilt werden. Als Fazit lässt sich sagen: ein
leicht zu lesendes, unterhaltsam-kurzweiliges Buch. Empfehlenswert.
(Werner Fletcher; 12/2006)
Antonij
Pogorelskij: "Der Doppelgänger oder Meine Abende in
Kleinrussland" Antoni Antony
Anthony
Aus dem Russischen von Svetlana Schick und Roland Flammiger.
Illustrationen von Olena Fedotowa.
Mitteldeutscher Verlag, 2006. 192 Seiten.
Buch
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Antonij
Pogorelskij, (1787-1836), eigentlich Alexej Alexejewitsch Perowskij,
zählt zu den Vertretern der russischen Romantik. Er
studierte Philosophie und Literaturwissenschaft
in Moskau, promovierte
und arbeitete ab 1808 im Petersburger Senat.
Nach dem Krieg wurde er Mitglied der "Freien Gesellschaft der Liebhaber
der Russischen Literatur". Er schrieb unter Anderem "Die Mohnkuchenfrau
von Lafertowo", die Geschichtensammlung "Der Doppelgänger oder
Meine Abende in Kleinrussland", "Das schwarze Huhn oder Die Bewohner
der Unterwelt".
Der gebildete und einflussreiche Würdenträger diente
in der russischen Armee im Krieg gegen
Napoleon
und lebte 1813-1816 in Deutschland. 1822 trat er in den Ruhestand und
widmete sich seiner literarischen Arbeit sowie der Erziehung seines
Neffen, des späteren Schriftstellers Alexej K. Tolstoj, mit
dem er u. a. 1827
Goethe besuchte.
Noch ein Buchtipp:
Antonij
Pogorelskij (Text), Gennadij Spirin (Illustrationen),
Sybil
Gräfin Schönfeldt (Nacherzählung):
"Die kleine schwarze Henne"
Eines Tages rettet der Schüler Aljoscha einer
kleinen schwarzen Henne das Leben, indem er sie der Köchin
abkauft. Noch in derselben Nacht führt ihn eben diese Henne in
ein unterirdisches Reich und verwandelt sich dort in den Minister eines
Zwergenvolkes. Der König der
Zwerge
gewährt Aljoscha
als Dank einen Wunsch. Da wünscht sich Aljoscha, dass er von
nun an alle Schulaufgaben bewältigen kann, ohne je wieder
dafür lernen zu müssen. Zwar erfüllt der
König diesen Wunsch, aber nur unter einer Bedingung: Niemals
darf Aljoscha das Geheimnis der Zwerge preisgeben ...
Sybil Gräfin Schönfeldt ist es in ihrer
Nacherzählung gelungen, genau den Ton der russischen
Originalgeschichte von Antonij Pogorelskij zu treffen. Der
Künstler Gennadij Spirin hat detailreich eine
Lieblingsgeschichte aus seiner Kindheit illustriert und darin seinen
kleinen Sohn porträtiert. Das Buch entführt in ein
Russland vergangener Tage. (Esslinger Verlag. Kinderbuch)
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