Edgar Allan Poe
Christopher Lee (Sprecher), Ulrich Pleitgen (Sprecher): "Visionen"
(Hörbuchrezension)
Kann
Horror musikalisch verarbeitet werden? Dies ist eine Frage, die durch
das nunmehr vorliegende Doppelalbum mit Inbrunst bejaht sein mag. Es
ist freilich Geschmackssache, ob der Hörer mehr Gefallen an
den kompositorisch erweiterten Texten oder aber den
Gedichtinterpretationen findet. Das Besondere an diesem Projekt ist
(etwa zum Unterschied zum herrlichen
Rilke-Projekt)
die Gegenüberstellung musikalischer Raffinesse mit
lautmalerischer Rezitation.
Der Horror, welchen Edgar Allan Poe schuf, hat nichts gemein mit
billiger Darstellung von furchteinflößenden
Ungeheuern oder abartig veranlagten Unmenschen. Abseits von
sensationsgeiler Dekadenz beschäftigte sich Poe in seinen
"Geschichten des Grauens" mit Phänomenen, welche jeden noch so
"harmlosen" Spießbürger auf der Straße wie
ein Pfeil treffen können. Poe beschreibt die inneren
Zustände von Menschen, als sähe er deren Pein und
tiefe Trauer völlig unverzerrt. Dadurch wird die innere
"Wahrheit" des Menschen sichtbar gemacht, ohne ihn psychologisch deuten
zu wollen. Poes Schilderungen des Irrsinns gemahnen manchmal an
psychopathologische Zustände, die dem Leser oder
Hörer keineswegs fremd sein müssen, im Gegenteil: Oft
scheint es, als hielte einem das Spiegelbild unmaskiert eigenes
Fehlverhalten vor. Friedhöfe, Totenglocken, todbringendes
Gefieder, träumerische
Visionen und unglückliche Lieben spannen den Bogen
in abgründige Welten.
Die besondere Komponente der Rezitationen besteht darin, dass
Christopher Lee, der daran beteiligt war, den Horrorfilm als
Galionsfigur "salonfähig" zu machen, das berühmte
"The raven" im Original spricht. Er tut dies auf eine Weise, die dem
Hörer das Gefühl vermitteln kann, inmitten einer
lichtdurchfluteten Höhle stehend in einem fort von einer
schwarzgewandeten Gestalt ins Ohr geflüstert zu bekommen:
"nevermore"! Ja, dieser Rabe erweist sich als Unheilsbringer, sozusagen
"verkehrter" Talisman, aus dessen Fängen sich der noch so
tapfere Mensch nicht befreien kann. Wenn das Unglück sich in
das Leben eines Menschen spinnt, dann muss er sich mit allen
Kräften gegen den Absturz in den Schlund der absoluten
Verzweiflung wehren; ansonsten kann es gut sein, dass er nie mehr den
Weg an die Oberfläche findet.
Ulrich Pleitgen spricht zudem die deutsche Übersetzung, also
"Der Rabe", und tut dies sehr überzeugend, wenngleich der
mittlerweile über 80-jährige Christopher Lee die
Intensität an Gänsehaut-Garantie (aus subjektivem
Empfinden des Rezensenten erlebt) noch um einiges zu steigern vermag.
Renommierte Schauspieler wie Hannelore Hoger, Dietmar Bär, Kai
Wiesinger, Iris Berben, Jan Josef Liefers, Anna Thalbach und Gudrun
Landgrebe tragen das Ihrige dazu bei, dass der Spannungswert der
Geschichten von Edgar Allan Poe die Welt durchdringt.
Nun gut; ich gehöre der Fraktion an, die das musikalische
Erlebnis um einiges höher zu bewerten sich auserkoren
fühlt als die vergleichsweise "bekannte" Rezitationsweise. Das
Interessante an den künstlerischen Interpretationen ist
nämlich, dass es sich fast ausschließlich um
Auseinandersetzungen der Sängerinnen und Sänger mit
Gedichten von Edgar Allan Poe handelt. Eingebettet in die Klangteppiche
sind also großteils subjektive Textstellen, welche jedoch mit
der lyrischen Prosa von Poe verbunden sind. Hierbei sei auf Katharina
Franck verwiesen, die wohl neben den "jungen Tenören" als die
bekannteste Stimme anzusehen ist. Die Gründerin der 1986
zusammengetretenen "Rainbirds" ("Blueprint" war ein musikalischer
Leckerbissen der Sonderklasse) meldet sich auf eindrucksvolle Weise zu
Wort, und erzählt ihre eigene Vision von Poe. Wobei der Titel
des vorliegenden Doppelalbums mit "Visionen" die Intention insbesondere
des musikalischen Teils perfekt beschreibt.
Wenn Menschen sich für Visionen öffnen, kann etwas
Wunderbares entstehen, wie das hiermit zu empfehlende Werk des Edgar
Allan Poe Projekts eindrucksvoll beweist.
(Al Truis-Mus; 06/2006)
Edgar
Allan Poe
Christopher Lee (Sprecher), Ulrich Pleitgen (Sprecher): "Visionen"
Lübbe Audio, 2006. 2 CDs.
Hörbuch
bei amazon.de bestellen
Drei Buchtipps:
Wolfgang Martynkewicz: "Edgar Allan Poe"
Edgar Allan Poe (19.1.1809-7.10.1849) gilt als der große
Magier des Schreckens. Seine Werke sind aber weit mehr als spannende
Unterhaltungslektüre: Poes Prosatexte und Gedichte zeichnen
die Kehrseite des amerikanischen Traums, beschreiben die
selbstzerstörerischen Folgen eines grenzenlosen Willens und
entwerfen eindringliche Bilder von Katastrophenlust und Todessehnsucht.
(Rowohlt Monografie)
Buch
bei amazon.de bestellen
Hans-Dieter Gelfert: "Edgar Allan Poe"
zur Rezension ...
Eine Biografie
Edgar Allan Poe: "Phantastische Geschichten"
Mit Illustrationen
von Alfred Kubin.
Neben unvergesslichen Klassikern wie "Der Untergang des Hauses Usher",
"Der Mord in der Rue Morgue" und "Die Maske des Roten Todes" gibt es in
dieser umfassenden Sammlung auch weniger bekannte Erzählungen
und Gedichte
des Meisters des Grauens zu entdecken. Lassen Sie sich
entführen in die bizarre Welt des Edgar Allan Poe und werfen
Sie einen tiefen Blick in die Abgründe der menschlichen Seele.
(Gondrom)
Buch
bei amazon.de bestellen