Platon: "Symposion"

"Denn das ist ja gerade das Schlimme an der Unwissenheit, dass man, ohne ein rechter und verständiger Mensch zu sein, mit sich selbst zufrieden ist. Und wer da meint, ihm fehle nichts, der begehrt folglich auch nicht, was er gar nicht zu entbehren meint."


Platons wohl schönstes Werk, welches mit "Gastmahl", "Trinkgelage", "Gemeinschaftstrunk" oder auch gar nicht übersetzt werden kann, kreist um die Liebe, in altgriechischer Sprache "Eros" ("erws") genannt (im Neugriechischen hat sich das Wort erhalten, wurde aber teils von der christlichen "agape", welcher so wie dem deutschen Wort "Liebe" der dynamisch-drängende, begehrende Aspekt des "Eros" fehlt, verdrängt). Platon behandelt sein Thema so umfassend wie möglich, indem er sich ihm von den verschiedensten Richtungen nähert, um schließlich in die Vision eines Königswegs zu immerwährender oder zumindest dauernder Glückseligkeit, die sogenannte platonische Liebe, zu münden. In zweiter Linie beinhaltet das "Symposion" das Portrait seines einstigen Lehrers, des berühmten Filosofen Sokrates, das durch Farben-, Schattierungs- und Facettenreichtum bzw. (von der anderen Seite her gesehen) durch die beeindruckende Originalität des Portraitierten nach wie vor einmalig, in Bezug auf seine Authentizität nach wie vor umstritten ist. Einmalig ist das "Symposion" überhaupt als sprachliches Gesamtwerk, welches seine enorme Dichte scheinbar mühelos in einer gemäßen, polychron-polyfon-dramatischen Form ausdrückend in unmittelbarer Nachfolge Platons wie in neuerer Zeit (das heißt, seit das Werk dankenswerterweise von der florentinischen Renaissance der Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde) zahlreiche Epigonen gefunden hat.

Über eine hintergründige Zwischenstation nähert sich Plato dem besagten, im Jahre 416 vor Christus stattgefunden habenden (oder spielenden) Trinkgelage, einer Zeit also, da er selbst noch ein Knabe war:
Apollodoros, ein Sokrates-Schüler, wird (irgendwann zwischen dem Ende des Peloponnesischen Krieges 404 und dem Gifttod des Alten 399 v. Chr.) von Bekannten gefragt, wie denn damals jene legendäre Nacht bei Agathon verlaufen sei, und nach einem kurzen Wortscharmützel ("geldfixierte Kümmerlinge!" (die Bekannten); "negativer Spinner!" (Apollodoros)) hebt letzterer, die Geschichte selbst nur von einem anderen Sokrates-Schüler, dem dabeigewesenen Aristodemos kennend, an zu erzählen.
Typisch für Platon ist, dass er in seinen Schriften immer andere Personen für sich sprechen lässt und sie dabei in historisches Gewand kleidet. Weil (oder obwohl) nun der historischen Komponente im "Symposion" tatsächlich große Bedeutung zukommt, da einige heikle Punkte der jüngeren Geschichte Athens gleichsam nebenbei berührt werden, erlaubt er sich gerade darinnen einige ganz und gar offenkundige Anachronismen. Zum Teil beinhalten diese thematisch zusammenhängende Vorkommnisse, die Platon in der Zeit der Niederschrift (die nach dem jüngsten entdeckten Anachronismus um ca. 384 v. Chr. beendet worden sein dürfte) beschäftigten, bei anderen Zeitebenensprüngen und bei sonstigen seltsamen Verspieltheiten drängt sich allerdings der Verdacht auf, dass es sich um Andeutungen, versteckte Botschaften, mindestens um indirekte Stellungnahmen handelt, als kleines Beispiel wofür noch kurz bei dem Prolog verweilt sei: Apollodoros meint zu seinen Bekannten anderen Lebensstils, dass er die Geschichte, die sie von ihm hören wollen, kürzlich erst einem gewissen Glaukon erzählt habe, der schon Ungenaues darüber von einem Ungenannten, dieser von einem gewissen Foinix und der wiederum von jenem dabeigewesenen Aristodemos vernommen habe. Diese auf den ersten Blick vollkommen belanglose Ewähnung könnte bedeuten, dass Platon damit indirekt seine eigenen Quellen angibt, nämlich zwei auf denselben Zeugen zurückgehende mündliche Ereignisberichte, davon einer ungenau und mit einer Zwischenstufe, der andere genauer und ohne Zwischenstufe.
Typisch für Platon ist auch, dass die Personen, über die er schreibt, zuallermeist schon tot sind, wodurch sie zwar unstrittig nichts mehr entgegnen können (gerade das "Symposion" betreffend ist es gut möglich, dass Platon das Verstummen der gefürchteten Feder des Aristofanes abwartete), was aber andererseits, angesichts des beliebten Athener Gesellschaftsspiels, unsympathische Zeitgenossen ohne Gefahr von Ehrenbeleidigungsprozessen in den Schmutz zu ziehen, eher als noble Geste erscheint. Sagen wir angesichts der altfilologischen Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Authentizität des Symposion-Berichts und des Sokrates-Portraits vorsichtig: Platon hatte ein ausgeprägtes, aber sehr eigenwilliges und vermutlich auf das ihm Wesentliche des jeweiligen Gegenstands gerichtetes schriftstellerisches Ethos.

Dieser Agathon nun also, bei dem besagtes Trinkgelage stattfand, ein damals junger Tragödienschriftsteller, von dem uns leider keine Stücke erhalten sind, hatte den Tag vor jener Nacht bei den Theaterwettbewerben, die alljährlich während der Athener Dionysien stattfanden, erstmals den ersten Preis für seine Tragödie (eine Kategorie übrigens, die Sofokles mit 24 Siegen überlegen anführt) errungen. In der Nacht war Agathons Sieg ausgiebig im Kreis seiner Schauspieler gefeiert worden, die Feier der zweiten Nacht aber sollte nach dem Willen des Künstlers einem kleinen und umso erleseneren Kreis vorbehalten sein. So findet sich denn eine illustre, nur teilweise namentlich genannte Runde bei Agathon ein, als deren Bekannteste wohl der Komödienschriftsteller Aristofanes und der Filosof Sokrates gelten dürfen; spät nachts wird sich ihnen noch der Politiker Alkibiades zugesellen. (Frauen befinden sich zwar im Haus, nicht aber im Trinkgelageraum; wir befinden uns vielmehr mitten in einer Epoche dominanter Männlichkeit und gelebter Päderastie, da in Athen die Beziehung zwischen einem lehrenden Mann und einem lernenden Knaben oft auch eine körperliche war und man vor allem in den höheren Schichten offen homosexuellen Neigungen nachging.) Die Köpfe der meisten Geladenen schmerzen noch vom gestrigen Besäufnis, und so kommt es zum schier Unglaublichen: man beschließt, ohne Trinkzwang zu trinken. Stattdessen solle jeder reihum (man lag meist zu zweit auf einer Trinkliege) eine Lobrede auf den Eros halten. An alle Reden könne sich der Zeuge (Aristodemos) zwar nicht mehr erinnern, fünf davon hat er aber noch erstaunlich gut in Erinnerung behalten, und so kommen (beinahe) der Reihe nach der schwärmerische Faidros, der Aristokrat Pausanias, der Arzt Eryximachos, Aristofanes und schließlich Agathon zu Wort, preisen jeder auf seine Art die Kraft und Herrlichkeit des Eros. Faidros schwärmt für Liebesopfer, Pausanias streicht die Vor- und Nachteile diverser erotischer Praktiken für die Athener Polis heraus, Eryximachos die Bezüge zur Gesundheit. Aristofanes wartet mit einem Paradiesvertreibungsmythos auf, von dem ursprünglich runden, doppelgeschlechtlichen Menschen in den Varianten Mannmann, Mannweib und Weibweib, der voll Kraft, Selbstvertrauen und Übermut nach dem Olymp langte, zur Strafe vom zürnenden Zeus entzweigeteilt wurde, auf dass sich nun immer ein Teil auf der Suche nach seiner entsprechenden Hälfte befinde, und es ist dem Theatermann, der ein brutaler Spötter und womöglich auch ein erzreaktionärer Justizmörder war, hoch anzurechnen, dass in diesem Konzept ausdrücklich die besondere Spielart des Eros, welche in der Liebe zwischen einem Mann und einer Frau besteht und in dem homofilen Kreis sonst ziemlich untergeht, enthalten ist. Agathon schließlich, noch ganz im Zeichen des gestrigen Höhenfluges, ergeht sich über den Segen des Eros für die schönen Künste, fällt am Ende seiner Lobesrede gar in flammende Verse, und zwischen alledem, Platon deutet genug an, um sich die Atmosfäre so eines Trinkgelages gut vorstellen zu können, wird applaudiert, diskutiert, zitiert, mit Worten gespielt, gestichelt, gelacht und nicht zuletzt Dionysos, dem Gütigen, gehuldigt.

Der letzte an der Reihe ist Sokrates. Eine erste Vorstellung seines wunderlichen Wesens gab es schon eingangs, als der Filosof mit Verspätung bei Agathon erschien, weil er unterwegs etwas hatte bedenken müssen und einfach solange stehengeblieben war wie das Problem. Später, in einer Pause zwischen den einzelnen Reden, wird einmal ausdrücklich davor gewarnt, dem Sokrates auf seine Zwischenfragen zu antworten, weil das wär`s dann. Nun, in der geladenen Stimmung nach Agathons mitreißenden Versen, zeigt er sich von seiner ironischen Seite. Als ihm klar geworden sei, dass er nicht annähernd gleich Schönes von sich werde geben können wie sein Vorredner, meint Sokrates zu seinen Zechgenossen, wäre er am liebsten davongelaufen. Mit solchen Reden konkurrieren könne er nicht, wenn sie aber statt einer Lobrede die Wahrheit über den Eros hören wollten, dann würde er ihnen damit dienen. Man will.
Zunächst verwickelt er Agathon in einen Dialog, setzt bei dessen Begriff der Liebe zum Schönen an um schließlich übereinstimmend zu den Feststellungen zu kommen, dass der Eros, als Prinzip der begehrenden Liebe, unmöglich selber schön sein könne, denn man begehre nicht, was man schon besitze, es sei denn in dem Sinn, dass man es auch für alle Zukunft zueigen haben wolle, und erst recht nicht könne man das Hässliche begehren.

Der zentrale Begriff des Symposions für "das Schöne" ist "to kalon" ("to kalon"), welchem bereits zu Platons Zeiten die starke Nebenbedeutung von "gut" beiwohnte und heute (etwa wenn Sie im Sommer Ihrem Tavernenwirt eine gute Nacht wünschen) nur mehr die einstige Zweitbedeutung geblieben ist. Wenn nun etwas, das nicht schön ist, notwendigerweise auch nicht gut sein kann ("gut" wird in diesem Fall immerhin mit einem anderen Wort, welchem die ästhetische Komponente fehlt, bezeichnet), kann dies zwar als ein Schluss von bedenklicher Kürze gesehen werden, ist aber zum einen wohl ein kulturhistorischer Befund Platons, der ein zumindest unter den Teilnehmern des Trinkgelages ganz naheliegendes, erfahrungsgesättigtes Verhältnis beschreibt, das beredtes Zeugnis für die Schönheitsbesessenheit dieser Menschen und das Nichtvorhandensein eines Begriffs des Absolut-Bösen ablegt, zum anderen die Verdeutlichung einer notwendigen Moralisierung der Gesellschaft, an welcher der historische Sokrates buchstäblich bis zu seinem letzten Tropfen offenkundig großen Anteil hatte. Auf die etwaige Frage, wie denn die Liebe zu Reichtum, persönlicher Macht und dergleichen, wovon es auch damals mehr als genug abschreckende Kostproben gab, als Liebe zur Schönheit gewertet werden könne, nimmt Platon im "Symposion" nicht als Filosof, sondern als Schriftsteller bzw. Historiker, durch seine Behandlung der historischen Personen, Stellung.

Sokrates ergreift nun allein das Wort, berichtet von einer Zeit, da er als junger Mann (mit diesem dritten Schritt zurück in der Zeit befinden wir uns nun etwa in den Jahren 450/445 v. Chr.), ungefähr Agathons Ansichten vertreten habe und von einer weisen Frau (!), einer gewissen Diotima aus dem schönen Arkadien eines besseren belehrt worden sei, zunächst jene Begriffsklärung erhalten habe wie gerade Agathon von ihm. Dies ist einer der vielen kleinen rhetorischen Kunstgriffe des Symposions, insofern symptomatisch für Platon, als in seinen Texten zur Betonung der Allgemeingültigkeit des Geistes Gedankenketten unter den richtigen Bedingungen als beliebig wiederholbar gezeigt werden, in einem Fall wie diesem aber mit einiger Sicherheit sokratischen Ursprungs, indem er veranschaulicht, wie Sokrates durch Einbeziehung des Vorhergesagten Aufmerksamkeit bindet und in seine Richtung lenkt, die allgemeine Stimmung zu einer Art dramatischer Dialektik (die im "Symposion" insgesamt wahrlich auf die Spitze getrieben wird) intensivierend.
Als nun er, der junge Sokrates, diese Diotima gefragt habe, ob denn Eros nun hässlich sei, habe sie gemeint, er solle nicht lästern, als ob es nichts zwischen schön und hässlich, zwischen weise und unwissend gäbe. Solcher Natur sei auch der Eros, kein Gott nämlich, wie natürlich die meisten Vorredner in ihrer Lobpreisung behauptet haben, sondern nichts anderes als ein großer Dämon ("daimon megas" bzw. "
daimwn megas"), dem als einem solchen Mittler- und Dolmetscherfunktion zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen, zwischen dem Sterblichen und dem Unsterblichen eigne. Diese Wertschätzung des Dämonischen, worunter Platon Magie, Orakelkunst, Traumdeutung etc. und eben auch die Liebe versteht, verweist unzweifelhaft auf den historischen Sokrates und dessen berühmtes Daimonion, wie es auch in "Die Apologie des Sokrates" geschildert wird. Wenn nun im weiteren Diotima die in diesem umfassenden Gebiet und damit wahrhaft weisen Männer als dämonisch (o men peri ta toiauta sofos daimonios anhr, o de allo ti sofos ... banausos), die Filosofen (die Weisheitsliebenden) hingegen nur als Mittleres zwischen Weisen und Unwissenden bezeichnet, und Alkibiades den Sokrates später als dämonischen Mann, spricht dies dafür, dass Platon seinen Lehrer eher als Magier denn als Filosofen gesehen haben dürfte. Außerdem wird ein Wendepunkt in der Geistesgeschichte markiert, mit dem Tod des Sokrates zieht sich die von ihm so beispielhaft vertretene der Wahrheit verpflichtete Dämonie zunehmend aus dem öffentlichen Leben zurück oder fließt wie bei Platon in den längerfristigen, aber indirekteren und vor allem missverständlicheren Logos ein, Kultur und Politik driften zusehends auseinander. Mit dieser Abnahme an Unmittelbarkeit in Zusammenhang verliert auch das Mythische an Kraft; bei Aristofanes ist es gerade noch eine routinierte künstlerische Fingerübung mit einem bedenklich vergangenheitsorientierten Inhalt, während Diotima, vom jungen Sokrates nach den Eltern des Eros befragt, einen Zeugungsmythos mit viel Gestaltungspotential zum besten gibt:

"Als Afrodite geboren war, da hielten die Götter ein Festmahl, mit ihnen auch "Wegfinder" ("Poros"), der Klugheit Sohn. Wie nun das Mal zuende war, kam, um beim Schmause zu betteln, die "Armut" ("Penia") und stand an der Tür. Da ging Wegfinder, trunken vom Nektar - Wein gab`s ja damals noch nicht - hinaus in den Garten des Zeus und fiel alsbald in schweren Schlaf. In ihrer Mittel- und Ausweglosigkeit kam es nun der Armut in den Sinn, sich von dem Mann, der Mittel schafft und Wege findet, ein Kind zeugen zu lassen; so legte sie sich zu ihm und empfing den Eros. Deshalb ist ja auch Eros Begleiter und Knappe der Afrodite geworden, er, der an ihrem Geburtsfest gezeugt ward, und zugleich ist er von Natur ein Liebhaber des Schönen, weil ja auch Afrodite schön ist.
Als Sohn Wegfinders und der Armut lebt Eros nun auf solche Weise: erstlich ist er immer arm; und weit davon entfernt, zart und schön zu sein, ist er
vielmehr rauh und struppig, barfuß und obdachlos; er lagert immer auf der bloßen Erde ohne Decke; vor Türen, auf der Straße unter freiem Himmel nächtigt er; darin hat er die Natur der Mutter, dem Mangel ist er allzeit zugesellt. Hingegen stellt er nach Art des Vaters allem Schönen und Guten nach, ist mannhaft, verwegen und spannkräftig, ein gewaltiger Jäger und Ränkeschmied, nach Erkenntnis begierig, in Mitteln und Wegen ein findiger Kopf, weisheitsliebend sein Leben lang, dazu ein mächtiger Zauberer, Hexenmeister und Sofist. Und er ist weder wie ein Sterblicher noch wie ein Unsterblicher: bald blüht er auf und lebt er, sooft er Mittel und Wege findet, bald stirbt er ab - und dies an ein und demselben Tag; dann lebt er wieder auf dank der Natur des Vaters; doch was er gewonnen, ist immer rasch zerronnen. So ist Eros nie mittellos, aber auch niemals reichlich bemittelt".

Vom Mythos geht`s in die Sprachwissenschaft und zum Vergleich "Poiesis - Eros", der die These stützt, dass jedwedes Streben nach Gütern und Glück im Kern erotisch sei, dann kehrt Diotima vom allgemeinem zum besonderen, zum sexuellen Eros zurück. "Etwas Göttliches, das heißt im sterblichen Wesen das Unsterbliche ist es, Samen in sich zu tragen, zu zeugen und zu gebären." sagt sie zum jungen Sokrates, um den Eros schließlich als Liebesdrang "zum Zeugen und Hervorbringen im Schönen" ("ths gennhsews kai tou tokou en tw kalw") zu definieren. Zur Untermauerung des Gesagten erfolgt nun ein Ausflug in die Biologie, der auch die enge Verwandtschaft von Liebes- und Todestrieb erklärt und im weiteren dem modernen Evolutionsbegriff recht nahe kommt, und zuguterletzt enthüllt Diotima dem jungen Sokrates eine besondere Anwendung des Eros bei den Menschen als einer Stufenleiter der Sublimation, eines schrittweisen Aufstiegs vom reinen Trieb zu einer immer höherartigen und schließlich allumfassenden Liebe, wie sie der Anschauung des Schönen an sich entspringt, eines immer Seienden, das nicht entsteht und nicht vergeht und allein den erotischen Grundtrieb, immerwährend glücklich (eudämonisch bzw. "eudaimwn") zu sein, zu befriedigen vermag. Demnach ist die platonische Liebe also nicht unbedingt eine asexuelle, rein geistige, sondern eine solche mit einem steten Drang zum Höheren, wobei das gleichsam göttliche Potential von Zeugungstrieb und Sinnlichkeit zur Entwicklung von geistiger Leidenschaft, diese zu einer steten Annäherung an Schönheit, Tugend, Selbst- und Welterkenntnis genutzt wird, und das Ziel des Schönen an sich kein künstlicher Berggipfel ist, sondern mit dem Wahren, Guten, Gerechten, etc. an sich in einem eudämonischen Daseinsgefühl zusammenfällt. Freilich ist so eine Liebe, zumal in der stark endzweckbestimmten, aber äußerst knappen Form, in der Platon sie skizziert (mehr ins allerdings gleichnishafte Detail geht er in seinem Dialog "Faidros"), immer von einer gewissen Gefahr bedroht, als Magd (oder wenn wir beim Eros bleiben als Knecht) von Pädagogik, Politik, Religion oder gar, wie es damals in Theben und besonders Sitte gewesen sein soll, der Armee zu enden. Mindestens als Pädagoge, seinem Hauptbetätigungsfeld nach dem gescheiterten Sizilien-Abenteuer, dürfte Platon jedenfalls gute Arbeit geleistet haben, war die im Jahre 387 von ihm gegründete und wesentlich auf diesem Drang zum Höheren (und auf Ganzheitlichkeit) fußende Akademie doch über 900 Jahre lang ein Zentrum umfassender Bildung in Athen, ehe sie 529 n. Chr. im Namen der Religion der Liebe geschlossen werden musste.

Nach dieser religiös-gnostischen Vision als dem Höhepunkt des Trinkgelages folgt das Portrait des Sokrates als jenes Menschen, der nach Platons (und vieler anderer Zeitgenossen) Meinung dieser Paneudämonie am nächsten gekommen ist. Platon geht dabei zunächst so vor, dass er im Symposion vor allem Personen auftreten lässt (oder auf ein Ereignis mit Personen zurückgreift), die im weiteren Leben für Sokrates und/oder die Athener Polis eine bedeutsame Rolle gespielt haben, sodass das Licht des Geschehenen auf dieselben, da sie im Jahre 416 als größtenteils junge vielversprechende Männer bei ihrem Zechgelage liegen und gescheit reden, zwielichterzeugend hinzukommt. Die beiden offensichtlichsten Bezüge sind, dass die meisten Trinkgelagegäste später an der Tyrannei der Dreißig beteiligt waren und so zum Verruf des Sokrates einen ungewollten Beitrag leisteten, und dass Aristofanes einer der wenigen namentlich genannten Ankläger war, die dem Sokrates das späte Todesurteil einbrachten. Umso mehr erstaunt die recht positive Portraitierung des Aristofanes durch Platon, nicht allein mit der Bewunderung für dessen Komödienkunst (aus der Anti-Sokrates-Komödie "Die Wolken" wird sogar einmal, eine der wenigen realistischeren Passagen, zitiert) erklärbar.
Nach der Rede des Sokrates ist auch Aristofanes der einzige, der nicht beeindruckt scheint und etwas erwidern will, zumal ihm aufgefallen sein wird, dass Diotima in ihrer Rede von vor dreißig Jahre auf die gerade von ihm gehaltene angespielt hat. Dazu kommt er aber nicht, denn in Agathons Heim dringt zu spätnächtlicher Stunde ein Komos, ein nächtlicher Saufumzug, mit dem Politiker Alkibiades an allerdings eher tragikomischer Spitze. Damit wird der politisch-historische Bezug des Trinkgelages überdeutlich, der weit über eine erneute Apologie des Sokrates, als welche dieser Teil des Symposions gern verstanden wird, hinausgeht und das Werk auch zu einem Bericht über Ursachen und Stufen des allmählichen Niedergangs von Athen (nicht zuletzt des "Eros der Stadt") von seinem Goldenen Zeitalter bis zum Verlust seiner politischen Vorherrschaft macht.
Bei diesem Alkibiades (geb. 450 v. Chr.) handelt es sich um eine schicksalsschwere Figur der griechischen Geschichte, welcher zur Zeit des Trinkgelages kurz davor stand, den Athenern eine von zwei zu ihrem Niedergang erheblich beitragende politische Katastrofen zu bescheren, um schlussendlich zeitgleich mit dem Ende des Peloponnesischen Krieges 404, als er nach vielen Siegen, Niederlagen und Seitenwechseln sämtliche Freundschaften auf griechischem Boden aufgebraucht hatte, von einem persischen Satrapen auf Ersuchen Spartas hin getötet zu werden. Der Mann hatte nicht nur ein bewegtes Leben, sondern auch, jedenfalls zeichnet ihn Platon so, einiges an Charisma, dieses jedoch letztlich im Dienst von Selbstgefälligkeit, Unmäßigkeit und Ruhmsucht. Sokrates, sein ehemaliger Lehrer, auf den er nun in Agathons Gesellschaft stößt, weckt in ihm das schlechte Gewissen, weit entfernt von seinem Vorbild zu leben, außerdem zeigt er sich eifersüchtig auf die schönen Männer in Sokrates` Nähe, und schwerbetrunken ist er auch. So kommt es, dass er, als er aufgefordert wird, seinen Eintritt in die Zechgemeinschaft nun ebenfalls mit einer Lobrede auf den Eros zu besiegeln, stattdessen eine solche auf den Sokrates zu halten beginnt. Auf diese Rede sei hier nicht eingegangen, dieses nur erwähnt, dass Alkibiades den doch etwas nervös werdenden Sokrates auffordert, Sokrates möge ihn sofort unterbrechen, falls er irgendeine Unwahrheit von sich geben sollte, und dann keine Unterbrechung erfolgt, was zumindest die Vermutung nahelegt, dass Platon selbst seinen Lehrer so oder sehr ähnlich gesehen hat, eine Meinung, wie sie übrigens einer der führenden Platon-Exegeten der Neuzeit, der byzantinische Kardinal Bessarion, vertreten hat.
s Nach Alkibiades` freimütiger Rede macht ein weiterer eindringender Komos das Chaos komplett, der Zeuge verliert das Bewusstsein, kommt aber rechtzeitig wieder zu sich, um den vollständigen Triumph des sokratischen Daimonions mitzuerleben, welches sich zum Schluss in seiner körperlichsten Form, als gewaltiger Energiespeicher zeigt.

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(stro)


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Ergänzende Literaturempfehlung:
Peter Gardeya: "Platons 'Symposion'. Interpretation und Bibliographie"

Im SYMPOSION dreht sich alles um die Liebe, obwohl der Titel ein Trinkgelage erwarten lässt, das tatsächlich nach dem philosophischen Gespräch stattfindet. Die Gäste einer festlichen Tafel beim preisgekrönten Dramaturgen Agathon beschließen eine mythologische Rednerrunde über den Gott der Liebe, ohne Rausch und Musik. Die Vorträge bilden eine Kette rhetorischer Meisterwerke, die allesamt das berühmte Körnchen Wahrheit enthalten. Schließlich beginnt mit einem kurzen Gespräch zwischen Sokrates und Agathon die philosophische Analyse, die in der von Sokrates referierten Begegnung mit seiner Freundin Diotima gipfelt, Priesterin von Mantineia, die ihrem Liebhaber die Wahrheit über die Liebe ungeschminkt präsentiert. Aber auch der letzte Teil des wohl bekanntesten Platonischen Dialogs spart nicht an philosophischen Einsichten, die in Ergänzung der vorhergehenden Theorie praxisorientiert nachdenklich stimmen. Die vorliegende Monographie führt durch den Gedankengang Platons SYMPOSION und einer sekundärliterarischen Resonanz. Der Autor Peter Gardeya ist Altphilologe und legte bereits eine Reihe von "Interpretationen dun Bibliographien" von platonischen Dialogen bei K&N vor, so zum LACHES, PARMENIDES, SOPHISTES, PHILEBOS, PHAIDROS, MENON und THEAITETOS
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