Markus Gasser: "Die Sprengung der platonischen Höhle"

Roman und Philosophie im Widerstreit


Realer als Realität

Befinden sich denn tatsächlich 'Roman und Philosophie im Widerstreit' (Untertitel), wenn es darum geht, die Wirklichkeit abzubilden - bzw. dies eben zu vermeiden? Ist nicht der Roman eher so etwas wie eine Illustration der Philosophie?! Freilich geht es Gasser hier speziell um groteske, fantastische Romane etwa von Cervantes, Gogol, Bulgakow, Borges, Calvino, Nabokov und Rushdie. Die Grundthese dabei lautet: "Wirklichkeit ist gar nicht so wirklich, wie die Philosophie es gerne hätte." Der tradierte Vorwurf der Philosophie lautet: "Erzählende Literatur verwirrt und könnte zum Schlimmsten verleiten." Und so geht es also um die Urfrage: soll Literatur eher realistisch (mimetisch) oder fantastisch sein, soll sie eine Botschaft vermitteln oder sich selbst zweckfrei ästhetisch genügen.

Am Beispiel der 'Buddenbrooks' von Thomas Mann wird erläutert, wie hier Realität und Fiktion zusammenwirken - wie das Gegensatzpaar Leben und Kunst den Roman als von Philosophie beeinflusst auf eine höhere Ebene des Lesevergnügens hebt - was ja etwa im 'Zauberberg' noch viel eindrucksvoller gegeben ist. Ernüchternd registriert Gasser: "Erzählen ist immer Willkür." Aber ist das nicht gerade das Positive daran?! Nur so kann der Leser auch Überraschungen erleben! Das erfundene Erzählen hat zumindest den Vorteil, dass man nie das Gegenteil beweisen kann. Und so ist es geradezu egal, ob man sich in oder außerhalb von Platons Höhle befindet - ob man hinaus- oder zurückstrebt - immer werden Illusionen dominieren, die man gerne als Realitäten zurechtdefinieren möchte. Oder man muss die Frage so formulieren, ob das Heraustreten aus der Höhle der entscheidende existenzielle Erkenntnisakt ist?! Aber warum sollte die Realität außerhalb der Höhle höherwertiger sein als die im Inneren?!

Freilich könnte man am Höhlengleichnis auch die dialektische Beziehung zwischen Immanenz und Transzendenz erläutern - oder anders gewendet: zwischen ideologischem Autismus und utopistischer Aufklärung. Heutzutage bräuchte man ohnehin nicht mehr zu unterscheiden zwischen Fantasie, Moral und sogenannter Realität - letztendlich ist alles virtuell - man betrügt sich und andere freiwillig mit einer Stellvertreterwelt, in der Moral und Philosophie ersetzt werden durch digital generierte Pseudofakten. Authentizität entsteht durch Selbstbetrug - bei Gasser heißt das 'Ein Vergnügen für Idioten'. Die Wirklichkeit ist der Fiktion ausgeliefert - und das Imaginationsbedürfnis schafft sich eine metaphorische Realität. Die Kompromissforderung lautete spätestens seit Gottsched: Wahrscheinlichkeit. Mit einer Wahrheitsaura ausgestattet wird Täuschung zelebriert. Bei Nabokov hieß das dann die "künstlerische Wahrheit", während Wittgenstein die "Naturwahrheit" forderte. Eigentlich befinden wir uns in einem Don-Quijote-Dilemma: Sachverhalt und Deutungsraster stimmen nicht überein - Autor, Erzähler, Figuren und Inhalt sowie Leser finden selten zu einer gemeinsamen Identität - es sei denn im übelsten Trivialschinken.

Die Welt, die wir wahrnehmen, ist nicht unbedingt diejenige, die existiert, weil wir nur durch Wahrnehmung wahrnehmen können und uns einbilden, dass das, was wir für wahr halten, genauso existiert. Das ist ein existenzielles und auch ein philosophisches Problem - warum aber sollte es ein literarisches Problem sein?! Es ist doch vielmehr die eigentliche Chance der Literatur, mit Wahrnehmung zu spielen - denn im Grunde geht es ja um kognitiv erfasste Sinnesreize und deren Interpretation. Die Frage bleibt, ob der Roman die Welt erfassen soll - und wenn ja: so wie sie war oder so wie sie ist oder so wie sie sein wird bzw. (gewesen) sein könnte. Roman und Menschheit arbeiten sich aneinander ab. Die Frage bleibt, ob die Gattung Roman über einen originären Wirklichkeitsbegriff verfügt. Oder ist die Frage, ob der Roman oder die Realität das Paradoxon darstellt - die Existenz mit oder ohne Erlösung. Originell funktioniert nur die Karikatur der Erlösung. Was wir womöglich begreifen müssen: das Fantastische ist nicht das Gegenteil des Reellen - es ist nur eine absurdierende Variante.

Gasser zeigt auf, dass man 'Ulysses' sowohl als Fortführung des Realismus ("hypernaturalistisch") deuten könne als auch als dessen Überwindung ("Sprengung des mimetischen Rahmens"). Und da werden eben die Kriterien suspekt. Paul Valéry hatte da konsequenter argumentiert: "Das einzig Wirkliche an der Kunst ist die Kunst. Wer einen Roman wahr nennt, beleidigt Kunst und Wahrheit zugleich." Besitzt ein Romanstoff sozusagen eine "vorfiktionale Tatsächlichkeit", oder ist sein Motiv reine ästhetische Autonomie? Dieses Spannungsfeld leuchtet Gasser mit zahlreichen Beispielen aus - und man wird Romane anders lesen, wenn man diese Abhandlung verstanden hat.

(KS; 08/2007)


Markus Gasser: "Die Sprengung der platonischen Höhle. Roman und Philosophie im Widerstreit"
Wallstein Verlag, 2007. 321 Seiten.
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Markus Gasser, geboren 1967, Studium der Germanistik und Anglistik in Innsbruck. Lehraufträge an der Universität Innsbruck, Autor der Zeitschrift für Germanistik.