Erhard Scheibe: "Die Philosophie der Physiker"

Physiker und Philosophie - die erste große Gesamtdarstellung


Empirie und Spekulation

"Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkung alle Menschen" - so lautet der 16. Punkt zu den 'Physikern' Dürrenmatts - es geht ihm bekanntermaßen um die Verantwortlichkeit bei Erkenntnissen, mit deren Anwendung man die gesamte Menschheit vernichten könnte. Oder wie Möbius es gegen Ende des besagten Stücks formuliert: "Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnis tödlich. Es gibt für uns Physiker nur noch die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Sie ist uns nicht gewachsen. Sie geht an uns zugrunde. Wir müssen unser Wissen zurücknehmen." Dass Letzteres nicht geht, haben wir wohl inzwischen begriffen. Dass Physiker zu Philosophen wurden bzw. werden, zeugt von einer gewissen Konsequenz. Verantwortungsbewusste Physiker haben einerseits die Bescheidenheit entdeckt, indem sie auch die Physik als anzweifelbare Unternehmung offenbaren - andererseits sagen sie, man dürfe die Philosophie nicht allein den Philosophen überlassen.

Eigenartigerweise wird im vorliegenden Buch jemand wie Harald Lesch, seines Zeichens Professor für Theoretische Astrophysik an der Universität München, überhaupt nicht erwähnt, wo gerade er via TV versucht, die Wissenschaft und unsere Existenz philosophisch und interdisziplinär zu erläutern und zusammenzubringen. Er repräsentiert doch eigentlich das zeitgenössische Bild des geistes- und naturwissenschaftlich gebildeten Universalgelehrten - und gehört zu denen, die den Bogen von der Quantenphysik über die Kosmologie vorbei an der Metaphysik bis ins tägliche Leben spannen. Nun, Erhard Scheibe ist als emeritierter Professor für Philosophie der Naturwissenschaften an der Universität Heidelberg sicherlich auch ein engagierter Intellektueller, der versucht die Grenzen von Wissen und Erkenntnismöglichkeit auszuloten. Seine reichhaltig recherchierte Studie über philosophierende Physiker gibt hier Zeugnis davon, warum gerade Physiker zu Philosophen werden, damit die komplexen Zusammenhänge unserer Existenz überhaupt noch diskutierbar werden.

Zwar grenzt Scheibe den Leserkreis dieses Buchs auf "insbesondere Physiker, Physiklehrer sowie an der Physik interessierte Wissenschaftsphilosophen" ein (vgl. Vorwort), andererseits gehört es sich wohl in einer aufgeklärten Gesellschaft, dass wir uns auch als Laien für die Zusammenhänge unserer Praxis interessieren. Grundsätzlich geht es hier um "die Vermittlung von Meinungsbildern zu grundlegenden philosophischen Fragen der Physik, wie sie sich unter Physikern herausgebildet haben" (Einleitung) - wobei der Schwerpunkt auf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt. Berücksichtigt sind hier u.a. die Nobelpreisträger für Physik Max Planck, Albert Einstein, Max Born, Niels Bohr, Erwin Schrödinger und Werner Heisenberg.

Scheibe begründet die Hinwendung vieler Physiker zu philosophischen Fragestellungen damit, dass diese selbige als notwendig erachtet hätten, nachdem die beiden Relativitätstheorien (1905 und 1916) und die Schaffung der Quantenmechanik (1927) die traditionelle Physik revolutioniert und einen neuen Blick auf die Parameter Raum und Zeit notwendig gemacht hätten. In einem eigenen Kapitel referiert Scheibe auch das problematische Verhältnis Naturwissenschaften - Philosophie, da von beiden Seiten in den letzten zwei Jahrhunderten Vorbehalte geäußert wurden, indem man sich gegenseitig die Kompetenz zur interdisziplinären Grenzüberschreitung abgesprochen hatte. Es war u.a. Einstein, der in seinem Denken zu vermitteln versuchte zwischen Empirismus/Kausalität und Spekulation/Metaphysik.

Ein erkenntnistheoretisches Grundproblem ist beiden Disziplinen gemeinsam: die Frage nach einer hinsichtlich ihrer Existenz vom menschlichen Bewusstsein unabhängigen, realen Außenwelt. Dabei gilt die Auffassung, dass es ohne die Annahme einer realen Außenwelt keine Naturwissenschaft gäbe. Und kein Geringerer als Max Planck hat 1926 konzediert, dass die Naturwissenschaft "ohne eine gewisse Dosis Metaphysik" nicht auskommen könne. Max Born sah als Endziel seiner exakten Begriffsbildung in den Naturwissenschaften die Ausschaltung des Ich, die vollständige Objektivierung. Im Prinzip müssen einer Vermittlung von Philosophie und Physik eine allgemeine Erkenntnistheorie und eine spezifische Wissenschaftstheorie vorausgehen.

Scheibe führt in mehreren Kapiteln quasi durch einen wichtigen Teil der Wissenschaftsgeschichte und konstatiert, dass es nach Max Planck eine "Drei-Welten-Theorie der Erkenntnis" gibt: die Sinnenwelt, die reale Welt und das physikalische Weltbild. Für Einstein stand fest, dass "dem reinen Denken das Erfassen des Wirklichen möglich" sei - wobei Scheibe auch die Frage diskutiert, was ein Naturgesetz bzw. ein physikalisches Gesetz sei bzw. wie die Wirklichkeit durch Kausalität bestimmt werde. Voraussetzung für die Arbeit eines Wissenschaftlers ist die Annahme, dass die Natur sich verstehen lässt. Erwin Schrödinger (Nobelpreis 1933 für seine quantentheoretische Gleichung) postuliert in aller Grundsätzlichkeit: "Ich betrachte die Wissenschaft als einen integrierenden Teil unserer Bemühungen, die eine große philosophische frage zu beantworten, die alle anderen einschließt ... : wer sind wir? Mehr noch sehe ich dies nicht als eine der Aufgaben, sondern als die Aufgabe der Wissenschaft an, die einzige, die wirklich zählt." Damit lässt sich der Ansatz des vorliegenden Buches auf den Punkt gebracht sehen - und so wollen und können wir es auch lesen: etwas von der Physik zu lernen, um uns gezielter an philosophische Fragestellungen heranzuwagen und dabei den Antagonismus Empirie - Spekulation quasi dialektisch aufzulösen.

(KS; 08/2006)


Erhard Scheibe: "Die Philosophie der Physiker"
C.H. Beck, 2006. 368 Seiten.
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