Nathaniel Philbrick: "Im Herzen der See. Die letzte Fahrt des Walfängers Essex"
Die detailgenaue Schilderung des Überlebenskampfes der Mannschaft des gesunkenen Walfängers "Essex" wie auch der wirtschaftlichen und sozialen Hintergründe des Walfangs - eine historische Reportage
Die Geschichte von Moby
Dick und Kapitän Ahab ist sicherlich eine der bekanntesten der Welt, aber
weniger bekannt ist vielleicht, dass sich
Herman
Melville beim Schreiben dieses Romans von einem realen Fall inspirieren ließ
- er lernte nämlich den Sohn eines der Überlebenden kennen und erhielt dessen
Aufzeichnungen. Und da, wo "Moby Dick" aufhört, fängt diese Geschichte sozusagen
an.
Eingangs wird das Leben der Menschen in der kleinen Walfängergemeinde
auf der Insel Nantucket vor der Küste Neuenglands zu Beginn des 19. Jahrhunderts
beschrieben. Hierbei erfährt man sowohl eine Menge über die Lebensumstände in
dieser von Quäkern geprägten Gemeinde, als auch über die frühe Entwicklung des
kommerziellen Walfangs ebendort. Überdies gewinnt man Einblicke in die
Mentalität der an diesem Beruf verdienenden Menschen und auch, wie eine
Fangfahrt vorbereitet wurde, wird geschildert.
Bezugnehmend auf
Tagebucheinträge und Berichte verschiedener Besatzungsmitglieder wird dann die
Ausrüstung und Mannschaft der "Essex" beschrieben, eines Walfängers, der bereits
mehrere erfolgreiche Fahrten hinter sich gebracht hat. Nun, im Jahre 1820,
bricht dieses Schiff mit einigen unentdeckten Beschädigungen des Rumpfs und
einer teilweise noch unerfahrenen Besatzung zu einer neuen Fahrt auf, die auch
seine letzte sein soll. Im Folgenden wird dann ausgiebig zunächst das Leben an
Bord beschrieben und auch die verschiedenen Probleme, die sich innerhalb der aus
Weißen und Schwarzen zusammengesetzten Mannschaft ergaben, sind Thema. Und
natürlich erlebt man auch einige der ersten erfolgreichen Fänge und deren
anschließende Verarbeitung mit.
Im November des Jahres 1820 befindet sich
die "Essex" im Pazifischen Ozean, wo sie auf einen Pottwal trifft. Bei der Jagd
wendet sich dieser plötzlich der "Essex" zu und rammt das Schiff so heftig, dass
es Leck schlägt. Den Männern gelingt es, einigen Proviant und etwas Trinkwasser
mitzunehmen, und dann können sie nur noch hilflos zusehen, wie die "Essex"
sinkt. In kleinen Fangbooten macht sich die zwanzigköpfige Besatzung auf die
Suche nach Festland, das im Pazifik allerdings ziemlich rar ist.
Was folgt, ist eine Schreckensfahrt, die zunächst die Trennung der Boote in
der Nacht mit sich bringt und schließlich, durch einige navigatorische Irrtümer,
die völlige Orientierungslosigkeit aller Boote; eine dreimonatige Odyssee nimmt
ihren Lauf. Nach einigen Tagen sind die Lebensmittel aufgebraucht, und als die
ersten Besatzungsmitglieder sterben, werden diese zunächst über Bord geworfen,
bis man beschließt, sie zu Vorräten zu erklären. An Bord eines der Boote werden
schließlich unter den Schiffbrüchigen sogar Lose gezogen um zu entscheiden,
wer unmittelbar anschließend den Anderen als Nahrung dienen soll.
Die vielen Exkurse in wissenschaftliche Betrachtungen von Krisenbewältigung,
Einflüsse von Hunger
und Durst auf
Körper und Geist und die allgemeine Einstellung der Menschen am Anfang des 19.
Jahrhunderts zu Kannibalismus auf See sorgen dafür, dass dem Thema weitestgehend
das Sensationslüsterne genommen wird, was die Lektüre zum Teil wesentlich eindringlicher
macht, als es ein entsprechender unkommentierter Bericht durch einen Überlebenden
wäre.
Am
Ende soll es derer nur noch wenige geben - im Februar 1821 greift die "Dauphin"
vor der chilenischen Küste völlig ausgemergelte, fast wahnsinnige Seeleute in
einem kleinen ruderlosen Beiboot auf.
"Im Herzen der See" basiert auf den
Berichten und Aufzeichnungen des Obermaats auf der "Essex", Owen Chase, und des
Kajütenjungen Thomas Nickerson.
Nathaniel Philbrick ist Direktor des
Institute of Maritime Studies und Mitglied der Nantucket Historical Association.
Er ist ein leidenschaftlicher Segler und lebt auf Nantucket.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 11/2003)
Nathaniel Philbrick: "Im Herzen der
See. Die letzte Fahrt des Walfängers Essex"
(Originaltitel "In the Heart of the Sea - The Tragedy of the
Whaleship Essex")
Aus dem Amerikanischen von Andrea Kann, Klaus Fitz.
btb,
2002. 352 Seiten.
ISBN 3-442-72971-8.
ca. EUR 10,-.
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Ergänzender Buchtipp:
Owen Chase: "Der Untergang der
Essex"
Der Wendepunkt in der Geschichte des Walfangs: Am Morgen des 20.
November 1820 greift zum ersten Mal ein Wal zur Gegenwehr und rammt
ein Schiff,
das Jagd auf ihn macht, die "Essex". Drei Tage versucht die Mannschaft, das
Schiff zu halten, dann rettet sie sich in die Boote. Die "Essex" sinkt, und die
nächste Festlandküste liegt über tausend Seemeilen entfernt ...
Owen Chase,
einer der wenigen Überlebenden, die Monate später gefunden werden, hat in diesem
packenden Bericht davon erzählt.
Owen Chase, 1798 in Nantucket geboren, fuhr
sehr früh auf den traditionellen Walfangschiffen seiner Heimat zur See. 1819
Einschiffung auf der "Essex" als erster Maat. Ab 1832 war er Kapitän auf
verschiedenen Walfängern und starb 1869 in seiner Heimatstadt.
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