Per Petterson: "Pferde stehlen"


Zwei Monate sind es noch bis zur Jahrtausendwende. Der 67-jährige Trond hat sich im Norden Norwegens nahe der schwedischen Grenze eine Hütte gekauft. Drei Jahre zuvor ist seine zweite Frau bei einem Verkehrsunfall, den er selbst nur knapp überlebte, ums Leben gekommen. Trond ließ sich nach diesem Unglück pensionieren und suchte nach einem Ort, wo er sich zusammen mit seinem Hund niederlassen und für den Rest seiner Tage noch etwas glücklich sein könnte. Seinen beiden Kindern aus erster Ehe erzählt er davon nichts, er bricht mit seinem Wegzug den Kontakt zu ihnen vollständig ab.
Dennoch freut er sich sehr, als ihn am Schluss des Romans seine Tochter an seinem neuen Wohnort aufspürt.

Bei seiner Suche nach einer Hütte im Norden als Ort für seinen Lebensabend leitet ihn bewusst oder unbewusst eine Erinnerung, die er doch auf seine alten Tage gerade nicht heraufbeschwören will. Denn der Ort und die Gegend, in die es ihn nach langer Suche schlussendlich verschlägt, ist jenem Ort täuschend ähnlich, an den ihn 1948, also genau 50 Jahre zuvor, sein Vater ohne die Mutter und die Geschwister in die Ferien mitgenommen hatte, jener Ort, wo Tronds Vater in den Jahren 1942 bis 1945 während der Besatzung Norwegens durch Nazideutschland geheime Botenaufträge ausführt und Flüchtlingshilfe leistet, wobei er eine Frau trifft, die er nicht mehr vergessen kann.

Genau in diesen Zeitebenen handelt das Buch, wobei während des Aufenthaltes 1948 ein Nachbar namens Franz, ein ehemaliger Bundesgenosse seiner Vaters, Trond die Geschichte aus dem Krieg erzählt, im speziellen Auftrag des Vaters übrigens.

Wie gesagt, Trond lässt sich, 67-jährig, zwei Monate vor dem Jahrtausendwechsel in einer Hütte im Norden Norwegens nieder und trifft schon nach einigen Tagen auf einen etwas jüngeren Mann, der etwa 500 Meter weiter eine benachbarte Hütte bewohnt. Beide kommen einander bekannt vor und geben sich vorsichtig zu erkennen. Der Nachbar ist Lars, ein Bruder von Tronds Ferienfreund Jon, der 1948 während Tronds Aufenthalt mit seinem Vater seinen Zwillingsbruder mit einem von Jon fahrlässig abgestellten, geladenen Jagdgewehr erschoss. Sie sprechen nicht darüber, auch nicht über Tronds Vater und sein Verhältnis zu Lars' Mutter. Sie helfen sich gegenseitig in der Gegenwart, machen zusammen Holz, und der Leser hat das Gefühl, dass sie dort als Nachbarn miteinander alt werden.

Doch Tronds Erinnerung kehrt zurück. Und so blendet Per Petterson immer wieder zwischen 1999 und 1948 hin und her. 1948, als Trond, 15-jährig, mit seinem Vater mehrere Wochen in dem Dorf verbrachte, in dem sein Vater Flüchtlingshilfe leistete und sich in eine andere Frau als Tronds Mutter verliebte. Niemals hatte er, nach Kriegsende nach Oslo zurückgekehrt, davon erzählt, aber nun kann Trond gar nicht anders, als sukzessive diese alte Geschichte zur Kenntnis zu nehmen, zumal er spürt, dass zwischen der Mutter seines Ferienfreundes Jon und seinem Vater irgendetwas schwingt, das ihn beunruhigt.

Kurze Zeit nach der Beerdigung von Lars' Zwillingsbruder wird Trond Zeuge eines seltsamen und stummen Wettbewerbs zwischen seinem und Jons Vater. Sie versuchen sich in Gegenwart von Jons Mutter beim Baumfällen gegenseitig zu übertrumpfen, bis ein Unglück geschieht und Jons Vater schwer verletzt ins Krankenhaus kommt. Trond spürt genau, dass hier zwei Männer um eine Frau gekämpft haben.

In der folgenden Nacht verschwindet Tronds Vater aus der Hütte, und nach einer langen Suche findet Trond ihn in den Armen von Jons Mutter. Geschockt flüchtet er zu Franz, der ihm noch in der Nacht die Geschichte seines Vaters erzählt, das Doppelleben schildert, das jener zwischen 1942 und 1945 geführt hat.
Eindrucksvoll schildert Petterson Franz' Bericht einer dramatischen Flucht und Verfolgung durch die Deutschen, bei der er selbst, Tronds Vater und Jons Mutter beteiligt waren. Trond gewinnt den Eindruck, dass es dieses Erlebnis war, das die beiden endgültig zu einem Paar werden ließ.

Von Franz' Hütte zurückgekehrt, findet Trond seinen Vater in der eigenen Hütte vor und wird von ihm kurzerhand nach Oslo zurückgeschickt. Er habe hier noch einige Tage zu tun und werde dann nach Hause kommen. Doch Trond wird seinen Vater nie wieder sehen.

Einige Wochen später trifft in Oslo ein Brief ein, in dem Tronds Vater seiner mittlerweile schwermütig gewordenen Frau mitteilt, er werde nie wiederkommen.

"Pferde stehlen" (das Codewort für die geheimen Grenzaktionen während des Krieges) ist ein großartig geschriebener Bericht von Menschen, die es sich nicht leicht gemacht haben in ihrem Leben. Die Sprache dieses Buches glänzt von einer Poesie, wie man sie in anderen Romanen selten findet.
Die Beschreibung der Lebens- und Erfahrungswelt der Menschen und die sprachliche Abbildung von Naturphänomenen sind einzigartig. Die Lektüre lässt den Leser mit dem nachdenklichen Bewusstsein zurück, wie zerbrechlich das Leben ist und welche wunderbaren Schönheiten und Erfahrungen es dennoch an jedem Tag bereithält, an dem die Sonne aufgeht.
Und es ist ein Buch von der tiefen Weisheit, dass alles Verdrängte wieder an die Oberfläche zurückkehrt - sei es auch erst nach 50 Jahren - und bearbeitet, bewältigt - ja, gelebt werden will.

"Im Erinnern liegt das Geheimnis der Versöhnung" , sagt eine alte jüdische Weisheit. Dieses wunderbare Buch ist voll davon.

(Winfried Stanzick; 02/2006)


Per Petterson: "Pferde stehlen"
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.
Hanser, 2006. 248 Seiten.
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Per Petterson, geboren 1952 in Oslo, ist ausgebildeter Bibliothekar und arbeitete als Buchhändler und Übersetzer, bevor er sich als Schriftsteller etablierte.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Ich verfluche den Fluss der Zeit"

Als Arvids Mutter im November 1989 erfährt, dass sie Krebs hat, beschließt sie, noch einmal ein paar Tage in der Heimat, in ihrem Sommerhaus auf Jütland zu verbringen. Weder ihren Mann noch die erwachsenen Söhne will sie in Dänemark dabeihaben. Doch Arvid, der schon immer das Sorgenkind der Mutter gewesen ist und nun vor der Scheidung steht, reist ihr Hals über Kopf nach.
In raffinierten Rückblenden erzählt der in Norwegen mehrfach ausgezeichnete Roman eine Geschichte von Mutter und Sohn, Alter und Jugend, Kränkungen und nachgetragener Liebe. Wo den Figuren die Worte fehlen, beschreibt Per Petterson in dichter Sprache und unvergesslichen Szenen, was sie bewegt. (Hanser) zur Rezension ...
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"Sehnsucht nach Sibirien"
Sie träumt von einer Reise nach Sibirien, ihn zieht es nach Marokko. Die Geschichte eines Geschwisterpaares in Dänemark zur Zeit des Einmarsches der Deutschen. Der rebellische Jesper bewirft die Eindringlinge mit Kuhmist und seine Schwester ohrfeigt Gestapomann Jorensen, der ihr unterstellt, sie schlafe mit ihrem Bruder. In einer Zeit politischer und privater Katastrophen gibt ihr die Freundschaft mit Jesper den einzigen Halt. Bis er bei Nacht und Nebel übers Meer vor der Gestapo flieht. Und tatsächlich kommt er nach Marokko, während sie es niemals bis Sibirien schafft ... Die Geschichte einer ungewöhnlichen Geschwisterliebe und zugleich das faszinierende Porträt einer starken und eigensinnigen Frau.
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Leseprobe:

(...) Ich spürte, wie sie da stand, warme Haut und ausgewaschenes Kleiderblau, und weil sie nicht wie gewohnt direkt zum Boot ging, sich hineinsetzte und die Riemen in die Hand nahm, war ich sicher, daß etwas passieren würde, daß es ein Zeichen war, und ich dachte darüber nach, meinem Vater zuzurufen, er solle mit dem Quatsch, in den er sich hineinmanövriert hatte, aufhören. Aber ich war nicht sicher, ob er es so sehr mögen würde, auch wenn er oft auf meine Meinung hörte und auf sie Rücksicht nahm, wenn ich etwas Vernünftiges vorbringen konnte, was häufig geschah. Ich drehte mich um und betrachtete Jons Mutter, die jetzt nichts mit Jon zu tun hatte, oder vielleicht hatte sie es doch, war zwei verschiedene Personen, und wir waren gleich groß und hatten nach mehreren Wochen in der glühenden Sonne gleich helle Haare, aber das Gesicht, das gerade offen gewesen war, ja entblößt, war jetzt verschlossen, nur die Augen hatten einen verträumten Ausdruck, als wäre sie nicht da und würde nicht das gleiche sehen wie ich, sondern etwas, was dahinter lag, etwas Größeres, für das ich keine Worte hatte, aber mir wurde klar, daß auch sie nichts sagen wollte, um die beiden Männer zu stoppen, daß sie ihretwegen bis zum Äußersten gehen konnten, um ein für allemal etwas zu entscheiden, wovon ich keine Ahnung hatte, dass es vielleicht genau das war, was sie wollte. Und es erschreckte mich ein wenig. Doch anstatt mich davon abstoßen zu lassen, ließ ich mich einfangen, wo sonst sollte ich mit mir hin? Ich konnte nirgendwohin, nicht allein, und ich trat einen Schritt näher und stand ganz dicht neben ihr, so daß meine Hüfte ihre Hüfte leicht berührte. Ich glaube nicht einmal, daß sie es merkte, aber ich merkte es wie einen Stoß, der durch den Körper ging, und die beiden auf dem Holzstapel merkten es, und sie sahen zu uns herunter und stockten einen Augenblick, und dann tat ich etwas, was mich überraschte. Ich legte ihr den Arm um die Schulter und zog sie zu mir heran, und die einzige, bei der ich das bisher getan hatte, war meine Mutter, aber das hier war nicht meine Mutter. Es war Jons Mutter, die nach Sonne und Harz duftete, wie ich sicher auch, aber noch nach etwas anderem, was mich schwindeln ließ, wie mich der Wald schwindeln ließ und fast zu Tränen rührte, und ich wollte nicht, daß sie jemandes Mutter war, weder lebend noch tot. Und das Merkwürdige war, daß sie sich nicht entzog, sondern meinen Arm liegen ließ und sich leicht an meine Schulter lehnte, und ich verstand nicht, was sie wollte, was ich selbst wollte, aber ich hielt sie noch fester, sterbensbange und glücklich, und vielleicht geschah es nur, weil ich am nächsten stand und einen Arm hatte, den sie brauchte, oder weil ich jemandes Sohn war, und zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich nicht jemandes Sohn sein. Nicht der Sohn meiner Mutter in Oslo, nicht der Sohn des Mannes, der dort auf dem Holzstapel stand und so überrascht aussah über das, was er zu sehen bekam, daß er sich aufrichtete und ihm der Flößerhaken ein winziges Stück aus den Händen glitt, obwohl sie mitten in einem Hauruck-Vorgang waren, aber es reichte schon, und Jons Vater, der ebenso überrascht aussah, versuchte, nicht locker zu lassen. Aber er schaffte es nicht, und der Stamm schwang wie ein Propeller herum und traf ihn an den Füßen, bevor er schräg über die Kante rollte, und ich hörte, daß sein Bein wie ein trockener Ast brach, bevor er vornüber kippte, mit den Schultern zuerst auf die Seite des Holzstapels fiel und mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden landete. Das alles ging so schnell, daß ich es erst begriff, als es vorbei war. Ich sah es nur. Mein Vater stand allein und um sein Gleichgewicht ringend auf dem Polter, wedelte mit dem Flößerhaken in der einen Hand, der Fluß strömte hinter ihm vorbei, und der wolkenlose Himmel war fast weiß vor Hitze. Jons Vater lag auf der Erde und stöhnte herzzerreißend, und seine Frau, die ich einen Augenblick zuvor noch so hart und weich um die Schulter gefaßt hatte, war aus ihrem Traum erwacht, hatte sich losgerissen und lief zu dem Stapel hinüber. Sie sank auf die Knie, beugte sich über ihren Mann und legte seinen Kopf in ihren Schoß, aber sie sagte nichts, schüttelte nur den Kopf, als wäre er zum siebenhundertfünfzigsten Mal ein ungehorsamer Junge gewesen, und sie würde nun resignieren, zumindest sah es so aus, von dort, wo ich stand. Und zum ersten Mal spürte ich meinem Vater gegenüber einen Hauch von Bitterkeit, weil er den vollkommensten Augenblick in meinem bisherigen Leben zerstört hatte, und plötzlich war ich ganz davon erfüllt, bis zur Grenze der Raserei, meine Hände zitterten, und ich begann mitten an dem heißen Sommertag zu frieren, und ich weiß nicht einmal mehr, ob mir Jons Vater leid tat, der sichtbar Schmerzen hatte: in dem Bein, das er gebrochen hatte, und in der Schulter, auf der er gelandet war. Und dann begann er zu brüllen. Das trostlose Brüllen eines erwachsenen Mannes, der Schmerzen hatte und der gerade einen Sohn verloren hatte und dem ein zweiter von zu Hause fortgegangen war, vielleicht für immer, was wußte er schon, und für den im jetzigen Augenblick alles nur trostlos aussah. Das war nicht schwer zu verstehen. Aber ich glaube trotzdem nicht, daß er mir leid tat, denn ich war so erfüllt von meinen eigenen Dingen, daß ich kurz vorm Bersten war, und seine Frau schüttelte nur den ihm zugeneigten Kopf, und hinter mir hörte ich Franz, der mit ausholenden Schritten den Weg herunterkam. Sogar Brona schüttelte ihre Mähne und zerrte am Geschirr. Von jetzt an wird nichts mehr so sein wie früher, dachte ich. (...)

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