Francesco Petrarca: "Ich bin im Sommer Eis, im Winter Feuer"

Eine (zweisprachige) Auswahl aus der 366 Texte umfassenden Gedichtsammlung, die der Dichter "Francisci Petrarche laureati poetae rerum vulgarium fragmenta" ("Fragmente in der Volkssprache von Francesco Petrarca, dem lorbeergekrönten Dichter") betitelte, welche auch als "Canzoniere" bekannt ist.


Anno 2004 sorgte eine Entdeckung für einiges Aufsehen: Im Marmorsarg des 1374 verstorbenen Francesco Petrarca fanden Forscher nämlich nicht des italienischen Dichters Kopf, sondern jenen einer Frau! Immerhin konnten die anderen sterblichen Überreste (aufgrund einer belegten Beinverletzung) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dem neben Dante und Giovanni Boccaccio berühmtesten Dichter Italiens zugeordnet werden. 
Doch niemand kann (oder will?) enthüllen, wann dieser "seinen Kopf verloren" hat; geschweigedenn, wo er geblieben ist! Bedenkt man, dass es im 17. und 18. Jahrhundert in gehobenen Schichten als geradezu schick galt, Schädel wohlbekannter (verblichener) Persönlichkeiten sein Eigen zu nennen, wobei man keineswegs vor Grabräuberei zurückschreckte, ist die Annahme durchaus nicht von der Hand zu weisen, dass sich der Schädel des Francesco Petrarca seit Jahrhunderten wohlbehütet "in Privatbesitz" befindet.
Das in der Vergangenheit bereits mehrmals geöffnete Grab war übrigens erneut inspiziert worden, um einerseits eine DNS-Analyse an den Überresten des humanistischen Gelehrten und Dichters vorzunehmen, und andererseits mit zeitgemäßen Hilfsmitteln dessen Erscheinungsbild zu rekonstruieren. Petrarca soll für seine Zeit mit einer Körpergröße von mehr als 1,80 Metern auffallend hochgewachsen gewesen sein. Man kann sich die Überraschung der emsigen Forscher ausmalen, als sie feststellten, dass der im Sarg befindliche Kopf nicht jener Petrarcas gewesen sein kann ...

Derlei Oberflächlichkeiten hinter sich lassend, wendet man sich im vorliegenden Gedichtband "Ich bin im Sommer Eis, im Winter Feuer", (hierbei handelt es sich um die Übersetzung folgender Verszeile: "e tremo a mezza state, ardendo il verno"), einem Teil jenes Nachlasses zu, der garantiert von Petrarca stammt: seinem dichterischen Schaffen nämlich.
366 Texte der Gattungen Sonett, Canzone, Sestine, Madrigal und Ballade umfasst der "Canzoniere" - eine Gedichtsammlung, an welcher Petrarca bis zu seinem Tod arbeitete, übrigens ohne sie vollendet zu haben, gegliedert in die Abschnitte "Gedichte an Madonna Laura in vita" und "Gedichte an Madonna Laura in morte". Im ersten Teil wird im weitesten Sinn um die unnahbare Schöne geworben, die unerfüllte Liebe (mitunter dem Minnesang nicht unähnlich) thematisiert, im zweiten Teil steht das Gedenken an der Angehimmelten Tod im Zentrum der Texte. Wer "Laura" war, ist ungewiss; nicht einmal die leibhaftige Existenz der Muse als Frau aus Fleisch und Blut ist belegt. Einigermaßen auffällig ist, dass nicht wenige Dichter jener Zeit - zumindest gerüchteweise - ausgerechnet in Kirchen atemberaubend schöne Frauen erblickten, für welche fortan ihr Herz schlug.
Wie dem auch sei, (man gestehe jedem Dichter sein Ideal zu), - entstanden sind 366 Gedichte, welche die weitere Entwicklung der europäischen Schreibkultur prägten; für jeden Tag des Jahres eines, sowie ein zusätzliches Eingangsgedicht, woraus der vorliegende Band eine Auswahl bietet.
Mit tiefer Hingabe, sich der mannigfaltigen Möglichkeiten der einmal kantigen, dann wieder geschmeidigen, jedoch stets musikalischen italienischen "Volkssprache" bedienend, um deren Verwendung er sich Verdienste erwarb, verfasste Francesco Petrarca für "Canzoniere" Gedankenlyrik von die Zeiten überdauernder Kraft und Eleganz.
Das lyrische Ich empfindet die Innen- wie Außenwelt, auf sich zurückgeworfen, bisweilen verstärkt durch die geheimnisvolle Laura, und ihr Wesen ist es auch, das der Welt Glanz und Tiefgang verleiht, den Dichter nach Vergleichen suchen lässt, seine Sinne schärft. Laura ist des Dichters Kaleidoskop, durch welches er die Wahrnehmungsfragmente, zu neuen Bildern arrangiert, erblickt.
Der Band beinhaltet - zusätzlich zu den italienischen Originaltexten - fein gewirkte Übertragungen derselben ins Deutsche, deren Zustandekommen der Leser dem Engagement des international anerkannten Petrarca-Spezialisten Karlheinz Stierle verdankt.

Petrarcas aus dem Geist der Antike gespeiste Versunkenheit in den Gegenstand der Betrachtung öffnet, im Zusammenspiel mit inniger Unmittelbarkeit, kontemplativen Naturbetrachtungen (Freiheit in der Ruhe), Heimatliebe, grundlegender Einsamkeit und erfrischender Klarheit den "Fragmenten in der Volkssprache" das Bewusstsein auch einer heutigen Leserschaft. Freilich stützte sich jener Mann, der - wie Giovanni Boccaccio, der Verfasser des "Decamerone", - als "Vater der italienischen Renaissance" bezeichnet wird, nicht auf die Antike, um seinen eigenen Weg zu gehen, bestenfalls lehnte er sich gelegentlich an, sozusagen zu den Wurzeln zurückkehrend.

Randbemerkungen: Während Boccaccio (1313-1375) Petrarca und Dante (1265-1321) gleichermaßen bewunderte, stand Francesco Petrarca Dantes Werk, um dessen literarische Bedeutung er zweifellos wusste, aufgrund des vermittelten Weltbildes ablehnend gegenüber.
Dante war, zusammen mit Petrarcas Vater, der als Notar tätig war, im Jahr 1302 aus Florenz verbannt worden. Francesco Petrarca erblickte 1304 das Licht der Welt. Er begann ein Jurastudium, brach dieses jedoch ab. Später betätigte er sich als Sekretär und Diplomat, vor allem freilich als Schriftsteller. 1341 ließ sich der humanistische Gelehrte in Rom zum Dichter krönen (poeta laureatus).
Francesco Petrarcas Gedichte wurden von Komponisten vertont, darunter Guillaume Dufay, Claudio Monteverdi, Franz Schubert und Franz Liszt.

(kre; 05/2004)


Francesco Petrarca: "Ich bin im Sommer Eis, im Winter Feuer"
Zweisprachige Ausgabe.
Herausgegeben und aus dem Italienischen übertragen von Karlheinz Stierle.
dtv, 2004. 204 Seiten.
ISBN 3-423-20717-5.
ca. EUR 9,-. Buch bestellen

Ergänzende Buchtipps:

Hans Grote (Hrsg.): "Canzoniere - Triumphe - Verstreute Gedichte"

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