Hans-Harald Müller: "Leo Perutz"
Biografie
Perutz' Werk steht im
Vordergrund der Betrachtungen
Weniges ist vom Schriftsteller Leo Perutz an Persönlichem und Privatem überliefert.
Im 44. Kapitel erst - wir befinden uns bereits in der Zeit nach dem Zweiten
Weltkrieg - liefert uns die vorliegende Biografie nähere Informationen über
den Menschen Leo Perutz, über seine menschliche und sittliche Größe. Da
erfahren wir zum Beispiel, dass Perutz, der als Jude vor den Nazis geflohen und
nach Palästina emigriert war, keinerlei Rache- oder gar Triumphgefühle hegte,
am Ende auf Seiten der Sieger zu stehen. Ganz im Gegenteil, er setzte sich sogar
öffentlich für ehemalige Nazis ein, was bei vielen Unverständnis ausgelöst
hat. Perutz nach einer von ihm gemachten Zeugenaussage zugunsten eines Nazis:
"Das war ich ihm schuldig. Ich vergesse vornehmes Verhalten nicht, auch
wenn es sich um einen Nazi handelt. Ich habe mir wahrscheinlich sehr viel Feinde
mit dieser Zeugenaussage gemacht, aber darauf ist’s mir nie angekommen."
Eine weitere Aussage, die Perutz’ menschlich-vornehme Haltung dokumentiert:
"Ich kann Lumpereien eines Menschen restlos vergessen, aber ich bin nicht
imstande, eine mutige, anständige und freundschaftliche Handlung einfach aus
meinem Gedächtnis zu streichen." Zu einem anderen politisch brisanten
Thema, der Gründung des Staates Israel, äußerte er sich wie folgt: "Wir
sind nicht sehr glücklich über all das vergossene Blut und über das Blut, das
noch fließen wird. Als Anti-Nationalist hätte ich einen binationalen Staat,
ein Zusammenleben zwischen Juden und Arabern, lieber gesehen." Als
Konsequenz aus seiner kritischen Haltung gegenüber dem Staat Israel verzichtete
Leo Perutz auf die israelische Staatsbürgerschaft und erwarb gemeinsam mit
seiner Frau die österreichische. Eine Verhaltensweise, die man von einem Mann,
dem vom Naziterror übel mitgespielt worden war, nicht unbedingt erwartet hätte.
Auf beinahe zynisch-sarkastische Weise hat er einmal sein persönliches
ambivalentes Verhältnis zum neu gegründeten Judenstaat zum Ausdruck gebracht:
"Wien ist nicht mehr das, was es war. Es fehlen mir auf Schritt und Tritt
die Juden, das Salz jeder Stadt. Tel Aviv ist leider zu arg versalzen."
Dies zu Perutz' politischer und moralischer Haltung nach dem Zweiten Weltkrieg,
die einiges über den Menschen, den Privatier Leo Perutz verrät, der zwar auch
vor dem Krieg immer politisch interessiert war, sich aber nie in einer Partei
oder einer politischen Bewegung engagiert hat. Und nun zum Schriftsteller Leo
Perutz. "Bitte, schreiben Sie nichts über mich und alles über meine
Romane", schrieb er einst an seinen literarischen Agenten Josef Kalmer, der
ihn um biografisches Material gebeten hatte. Dazu nun auch ein wörtliches Zitat
des Autors der hier vorliegenden Perutz-Biografie: "Kein Zweifel, ginge es
nach dem erklärten Willen von Perutz, so gäbe es keine Perutz-Biographie."
Und auch Perutz' Werk ist frei von Autobiografischem, da er sein Leben lang eine
rigorose Trennung von Werk und Autor aufrecht hielt.
Nun rechtfertigt Hans-Harald Müller seine - in gewissem Sinne -
Nichtachtung gegenüber Perutz' erklärtem Willen mit dem Hinweis, dass Indizien
vorlägen, die vermuten lassen, dass er vielleicht doch den uneingestandenen
Wunsch hatte, dass eines Tages eine Biografie über ihn geschrieben würde. Aber
wie dem auch sei, ich glaube, hätte Leo Perutz diese Biografie gelesen, dann hätte
er sich wohl damit einverstanden erklärt. Die Privatsphäre des Dichters wird
hier sicherlich in keiner Weise verletzt. Zudem hat es Perutz seinem Biografen
nicht leicht gemacht, da er nur wenige Spuren hinterlassen hat, die in sein persönliches
und familiäres Umfeld weisen, besonders aus seinen ersten dreißig Lebensjahren
gibt es kaum Quellen, aus denen man verlässliche Informationen hätte schöpfen
können.
Und so stellt denn auch Hans-Harald Müller das schriftstellerische Werk des Leo
Perutz in den Mittelpunkt seiner biografischen Arbeit, ganz dem Wunsche des
verstorbenen Autors gemäß. Jeder Roman wird durch eine mehr oder weniger ausführliche
Besprechung gewürdigt. Hans-Harald Müller gewährt uns auch einen Blick in die
Schreibwerkstatt des Autors Leo Perutz, indem er uns Interessantes und
Wissenswertes über die Arbeitsweise des Dichters, die durch ständige
Unterbrechungen gekennzeichnet war, mitteilt. Und selbstverständlich wird auch
die Frage aufgeworfen, ob es sich bei Perutz um einen
Unterhaltungsschriftsteller oder um einen ernsthaften Literaten, einen Dichter
handelt. Für mich persönlich habe ich die Beantwortung dieser Frage ja schon
in
meiner Besprechung anklingen lassen. Tatsache ist, dass seine Romane auch
von vielen arrivierten Schriftsteller- und Dichterkollegen eine hohe Wertschätzung
erfuhren.
Eine besondere Beziehung verband Leo Perutz mit dem Verleger Paul Zsolnay, der
sich wie kaum ein Zweiter um das schriftstellerische Werk dieses außergewöhnlichen
Autors verdient gemacht hat. Noch heute werden Perutz' Bücher vom Zsolnay
Verlag immer wieder neu aufgelegt, und auch die Biografie von Hans-Harald Müller
ist bei Zsolnay erschienen. Eine Biografie, die eine sehr schöne und kompetente
Einführung in die Romanwelten des Leo Perutz gibt, die einen Autor würdigt,
der es gewiss verdient hätte, noch sehr viel höher in der allgemeinen
Lesergunst zu stehen, eine Biografie, der eine möglichst weite Verbreitung zu wünschen
ist.
(Werner Fletcher; 08/2007)
Hans-Harald Müller: "Leo Perutz.
Biografie"
Zsolnay, 2007. 408 Seiten.
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Hans-Harald Müller wurde 1943 in
Hamburg geboren, wo er Germanistik, Anglistik und Sprachwissenschaft studierte.
Seit 1977 Professor am Literaturwissenschaftlichen Seminar der Universität
Hamburg, zahlreiche Gastprofessuren im In- und Ausland. Herausgeber der Werke
von Leo Perutz.
Ein weiteres Buch des Autors (gemeinsam mit Frank Thomsen und Tom Kindt):
"Ungeheuer Brecht. Eine Biographie seines Werks"
Zum 50. Todestag:
Bertolt
Brecht im Spiegel seines Werks.
Wer war Bertolt Brecht? In den 50 Jahren seit seinem Tod hat die internationale
Forschung eine kaum überschaubare Fülle von Informationen zu Brechts
Biografie, seinen Gedichten und Dramen, theoretischen Schriften, Romanen und Erzählungen
zusammengetragen. Dem gewaltigen Zuwachs an Wissen entspricht freilich die Auflösung
des Bildes von Autor und Werk. Während die Forschung ihr Heil in Einzelstudien
und Handbüchern sucht, wird immer unklarer, welchen Impulsen Brechts Werk seine
Entwicklung verdankt und worin die Bedeutung seines Gesamtwerks besteht.
Diese und andere Fragen beantwortet "Ungeheuer Brecht". Das Buch
zeichnet die Evolution von Brechts Werk nach: Von seinem Erstling "Baal"
über die Opern und Lehrstücke aus den Jahren der Weimarer Republik bis hin zu
den klassischen Exildramen "Mutter Courage", "Der gute Mensch von
Sezuan" und "Der Kaukasische Kreidekreis". (Vandenhoeck &
Ruprecht)
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Leseprobe:
Annäherungen
(...) Im Unterschied zu vielen Schriftstellern der Zeit
vernichtete er sorgfältig alle Exzerpte und Vorstudien zu seinen Romanen
und Erzählungen und hinterließ von ihnen nur die handgeschriebenen
Reinschriften. Nach seinem Tod zog Perutz sich so
gewissermaßen in sein Werk zurück.
Am auffälligsten ist die Trennung von seinem Leben jedoch in der Bestimmung
und im Charakter des literarischen Werks selbst. Schon in
der Art der Verwahrung seines Nachlasses machte Perutz unmißverständlich
deutlich: Zum Werk gehören ausschließlich seine Romane
und Erzählungen, nicht aber seine frühen Beiträge zur Presse,
seine Reiseberichte, Filmskripts, die mit Kollegen verfaßten Romane
und Theaterstücke, nicht die Briefe, Notizbücher und persönlichen
Dokumente. "Denn das Werk ist nicht all das, was ein Romancier
geschrieben hat - Briefe, Notizen, Tagebücher, Artikel. Das
Werk ist die Vollendung einer langen Arbeit an einem ästhetischen Projekt"
- dieser Bestimmung des Werkcharakters von
Milan
Kundera hätte Perutz sich zweifellos angeschlossen. Daß in dessen
Romanen "kein Raum für intellektuelle Meditation und persönliche
Konfession" war, hatte der Schriftsteller und Essayist Schalom
Ben-Chorin, der Perutz in Palästina kennengelernt hatte, schon
in einer frühen Charakteristik hervorgehoben. Persönliche Erlebnisse
fanden keinen Einlaß in Perutz’ Romane, und im Gegensatz
zur expressionistischen Schriftstellergeneration betrachtete er
sein Werk nicht als Ausdruck seiner persönlichen Existenz. Ist es zum
Beispiel bei Franz Kafka kaum möglich, zwischen seinen autobiographischen
Zeugnissen und seinem Werk strikte Trennungslinien
zu ziehen, weil seine Briefe und Tagebücher im selben
Maße literarisch gestaltet sind wie seine Romane und Erzählungen
autobiographisch geprägt, so sind diese Grenzen bei Perutz
deutlich erkennbar: Weder seine Notizbücher noch seine Briefe
sind literarisch stilisiert, seine Romane und Erzählungen haben keinen
autobiographischen Fundus. Das für Kafkas Lektüren und Schreiben
charakteristische Bedürfnis nach Darstellung seiner selbst, nach
Selbstanalyse, Selbstmitteilung und Selbstverhüllung fehlte Perutz
völlig - vielleicht liegt hier ein Grund dafür, daß ihm Kafkas Werk
zeit seines Lebens fremd blieb. Waren für Kafka "die Erinnerungen
an Kindheit und Jugend Bestandteile seiner unablässigen
Selbstdarstellungen und Selbstreflexionen", waren seine
lebensgeschichtlichen Konflikte - in welch komplexen Variationen
und Überformungen auch immer - zugleich der Stoff seiner
Werke, wurden ihm also Leben und Werk zu einem einzigen gigantischen
existentiellen literarischen Projekt, so gehörten für Perutz
Leben und Werk prinzipiell getrennten Welten an. Die kontingente,
von letztlich kaum beeinflußbaren Zufällen bestimmte Welt
des Lebens und die nach strengen Konstruktionsprinzipien geordnete
Welt der Kunst wiesen kaum Berührungen auf. Anders als für
Kafka war das Schreiben für Perutz keine innere Nötigung, sondern
eines der mit Leidenschaft und Überlegung betriebenen Projekte
seines Lebens, vermutlich das wichtigste. Anders als sein Freund
Ernst Weiß, der zeitweilig auch ein Freund Kafkas war, scheint
Perutz auch keine ethische Verpflichtung zum Schreiben verspürt
zu haben - einen "Quartalschreiber" nannte ihn Ben-Chorin
in seinem Nachruf, und Ben-Chorin wußte, daß Perutz strengste
ethische und ästhetische Maßstäbe an seine Texte anlegte. Aber
die Tatsache, daß er sich nicht ausschließlich zum Schreiben berufen
fühlte, war einer der Gründe für die Entfremdung zwischen Perutz
und Weiß, der nur den Schriftsteller in Perutz sehen wollte und
kein Verständnis dafür hatte, daß dieser, wie Weiß schrieb, "Wert
darauf legte, als einfacher Privatmann und Kaffeehausbesucher
angesehen zu werden". Wie weit Perutz es mit der
Trennung seiner verschiedenen Rollen trieb, hob auch der bekannte
Zeichner Benedikt F. Dolbin hervor: "Wenige seiner Tischgenossen
hatten davon Kenntnis, daß der zwar besessene, doch mittelmäßige
Tarockspieler Perutz sich in seinen Mußestunden mit Studien
der Archäologie des Mittelmeerraums und japanischen Miniaturen
des 17. und 18. Jahrhunderts abgab, geschweige denn unheimliche
Kurzgeschichten schrieb." Ernst Weiß ermahnte Perutz
wiederholt, den Schriftstellerberuf ernst zu nehmen, gab schließlich
aber alle "Bekehrungsversuche" im Hinblick auf Perutz' "System,
Arbeitsmethode und Selbsteinschätzung" auf.
Obgleich er sich also bemühte, sein Werk von
seinem Leben nach Kräften unabhängig zu
machen, beseitigte Perutz in seinem Nachlaß nicht
alle Spuren dieses Lebens. Sowohl unveröffentlichte frühe Arbeiten
als auch seine umfangreiche Korrespondenz und seine Notizbücher
mit Eintragungen aus den Jahren 1909 bis 1957 sind in im
Nachlaß akribisch verwahrt. Hatte er vielleicht doch den uneingestandenen
Wunsch, daß eines Tages eine Biographie über ihn geschrieben
würde? Die Frage ist schon deshalb schwer zu beantworten,
weil Perutz am 25. August 1957 unerwartet an den Folgen
eines Herzinfarkts starb und über seinen Nachlaß in Tel Aviv keine
ausdrückliche Verfügung getroffen hatte. Ob bestimmte Teile daraus
entfernt worden wären, wenn Perutz die Gelegenheit dazu gefunden
hätte, ist ungewiß. Perutz war ein äußerst diskreter Mensch, und
er ging zweifellos davon aus, daß die Nachwelt seine Privatsphäre
respektieren würde. Ein Blick in die Dichterbiographien des
letzten Jahrzehnts zeigt, wie unbegründet diese Vermutung war:
Verletzungen des Diskretionsgebots gegenüber
Verstorbenen werden selten als das gewertet,
was sie in der Regel sind: Verstöße gegen die guten
Sitten, für die es kaum eine überzeugende Rechtfertigung gibt. Wenn
Perutz je den Wunsch nach einer ihm gewidmeten Biographie hatte,
dann hat er es möglichen Biographen sehr schwer gemacht, ihn zu
erfüllen. Über die ersten 27 Jahre seines Lebens hat er, sieht man von
einem Volksschulzeugnis aus Prag, einem Gymnasialzeugnis in Wien
und der Wäscherechnung eines Internats in Krumau (Krumlov) ab, nichts
hinterlassen. Seine Notizbücher aus den Jahren 1909
bis zu seinem Tod 1957 sind, wenngleich mit Lücken, erhalten.
Es sind jedoch keine Tagebücher, sondern kleine Taschenkalender, die
pro Tag Eintragungen in der Höhe von etwa zwei Zentimeter erlauben.
Die winzigen Einträge sind in einer nur schwer lesbaren Gabelsberger
Kurzschrift gehalten, die Perutz durch eigene Kürzel noch
so modifiziert hat, daß die Entzifferung äußerst schwierig ist. Die
meisten dieser Notizbücher liegen heute in einer - gelegentlich selektiven - Rohtransskription vor, aber sie enthalten nur in seltenen Fällen
einen durchgeschriebenen Text. Meist handelt es sich um trockene
Notizen, die sich auf die äußeren Ereignisse des Tages beschränken.
Die Kalender registrieren Tätigkeiten und Begegnungen,
sie halten nur selten Reflexionsprozesse fest. Perutz
notiert literarische Ideen und Einfälle, schildert aber nicht, wie er
sie bearbeitet; er vermerkt lediglich, an welchem Kapitel welchen Romans
er schreibt. Welche Vorarbeiten er für seine Bücher unternimmt
und was er liest, berichtet er nur ganz selten. Getreulich hält
er aber fest, wie oft er sich mit dem Oberbibliothekar der Nationalbibliothek
trifft, der ihm Bücher empfiehlt und ausleiht. Sorgfältig
registriert Perutz auch seine Liebschaften, aber meist hält er
nur die Namen der Freundinnen fest, selten seine Gefühle. Die Notizbücher
sind so die wichtigste Quelle für Perutz’ äußeres Leben: seine
Tätigkeiten, Reisen, Publikationen, seine Lebensgewohnheiten, Einkünfte
und Ausgaben, seine Gesundheit, das Wohlergehen seiner Familie
und Freunde. (...)