Leo Perutz: "Zwischen neun und neun"
"Wer Perutz ausgelassen hat, hat
viel versäumt und sollte das schleunigst nachholen."
(Die
Zeit)
"Freiheit"
So lautet,
vielleicht durch die Kriegswirren des Ersten Weltkriegs beeinflusst, der
ursprüngliche Titel dieses 1917 entstandenen Romans. Ob es dabei ausschließlich
um die persönliche Freiheit des Protagonisten Stanislaus Demba geht oder
symbolisch um die Freiheit der geschlagenen Menschheit, wie es Leo Perutz im
Jahre 1921 in der Wiener Arbeiterzeitung angedeutet hat, bleibt der
Interpretation der Leserschaft überlassen. Der Roman ist gleichzeitig schelmisch
und tragisch angelegt, womit ein großer Leserkreis angesprochen wird. Worum geht
es im Einzelnen?
Im Wien der k. u. k. Monarchie wird der Student
Stanislaus Demba von der Polizei verhaftet, als er einem Antiquitätenhändler ein
wertvolles altes Buch, das er aus der Universitätsbibliothek gestohlen hat, zum
Kauf anbietet . Der Händler wird misstrauisch und benachrichtigt die Polizei.
Demba wird verhaftet, und ihm werden Handschellen angelegt. Nach einer kleinen
Rangelei entkommt er der Polizei, flüchtet auf den Dachboden des Hauses des
Händlers und springt vom Dach. Es ist neun Uhr morgens. Seine Odyssee durch Wien
beginnt.
Diese für das Verständnis von Dembas seltsamen Verhaltensweisen
notwendige Vorgeschichte wird erst in der Mitte des Buches beschrieben. Er
erzählt seiner Freundin Steffi, einem der wenigen Menschen, denen er vertraut,
davon.
Demba lässt kein Fettnäpfchen aus bei seinen Irrungen durch Wien,
wo er seine Hände einen ganzen Tag lang versteckt halten muss, um wegen der
Handschellen keinen Verdacht zu erregen. Er wird zum Meister der Improvisation
und ist um Ausreden nicht verlegen, bei seinen Versuchen, Essen zu bestellen,
Briefe in Empfang zu nehmen, Menschen zu begrüßen oder Gegenstände aufzuheben.
In der ersten Hälfte der Geschichte dominiert der Schelm Demba.
Er ist
ein impulsiver Mensch, der seine Ziele recht forsch verfolgt. Dadurch bringt er
sich ständig in Situationen, in denen er Missverständnisse provoziert und
improvisieren muss. Die Situationen sind amüsant, manchmal grotesk. Demba
entwickelt sich zum Choleriker, besonders bei seinen Versuchen, seine Geliebte
Sonja, die sich von ihm getrennt hat und mit einem anderen Mann verreisen will,
zurück zu gewinnen.
In der zweiten Hälfte des Romans häufen sich die
tragischen Situationen. Demba verliert mehrmals Geld, verscherzt es sich mit
Sonja und gerät mit zwielichtigen Gestalten zusammen. Seine Verzweifelung
wächst. Er reizt seine Möglichkeiten aus. Kann er sich von der Schlinge
befreien, die sich langsam um seinen Hals legt?
Die Geschichte beginnt um
neun Uhr und sie endet um neun Uhr des gleichen Tages. Sie nimmt ein
überraschendes Ende. Perutz hat eine Traumsequenz in seinen Roman eingebaut, die
ich an dieser Stelle nicht erläutere, um dem Leser nicht einen Teil der Spannung
zu nehmen. Sie ist aber verantwortlich dafür, dass der Begriff "Freiheit" neu
gedeutet werden muss. Hat der Mensch die Freiheit endgültig verloren, auch über
den Tod hinaus?
Leo Perutz wurde 1882 in Prag geboren und siedelte 1899
mit der Familie nach Wien über. 1938 emigrierte er nach Tel Aviv. Perutz starb
1957 in Bad Ischl. Sein Werk umfasst zahlreiche Romane und Erzählungen und wurde
in viele Sprachen übersetzt.
(Klemens Taplan; 08/2004)
Leo
Perutz: "Zwischen neun und neun"
Mit einem Nachwort von Hans-Harald
Müller.
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