Inês Pedrosa: "Du fehlst mir"
"Wir sind uns zu früh in einer Zivilisation begegnet, die nicht an endgültige Begegnungen glaubt. Wir verstanden einander ganz und gar. Wir wunderten uns über dieses innige Verstehen, das einem Verbrechen ohne Schuld glich. Für uns gab es kein Eheleben mit seinen Gewohnheiten und den als Leidenschaft getarnten Umwegen der Langeweile, daher trafen wir uns schnell als Geschwister wieder. Wir konnten nicht geschwisterlich leben, weil wir Liebende waren, konnten aber auch nicht Liebende sein, weil wir Geschwister waren. Gemeinsam waren wir ein einziges, mindestens zweihundertmal vergrößertes Wesen."
Wie die eingangs zitierte Passage
zeigt, wird auf ein "Wir" zurückgeblickt, dessen Konturen, innewohnende
Möglichkeiten und Vergeblichkeiten Inês Pedrosa teils gestochen scharf, teils
verschwommen zeichnet. Die Ausgangsposition, aus welcher sich "Du fehlst mir"
entfaltet, ist rasch umrissen:
Eine Frau, Ende 30, seit ihrer Jugend
Vollwaise, Katholikin, Geschichtsdozentin, chaotisch-idealistische
Neopolitikerin, engagierte Frauenrechtlerin, kürzlich infolge einer unbemerkten
ektopischen Schwangerschaft verstorben, und ein 60jähriger Mann, Kriegsveteran,
Atheist mit zynischen Anwandlungen, zweifach geschieden, wohlhabend, ehemaliger
Gasthörer an der Universität, teilen abwechselnd ihre Gedanken über Leben und
Tod, Religion, Freundschaft, Liebe, Politik, u. dgl. mehr mit. Er nennt sie
"Tinker Bell" - wie Peter Pans Elfe, sie sieht ihn als Vater- und Sohnfigur
zugleich.
Nach Jahren innigster (platonischer) Beziehung zueinander
litten die Beiden unter der selbstverschuldeten Entfremdung voneinander; der
Gang der Geschehnisse hatte ihre Wege entzweit. Nun, nachdem ein bislang
zumindest theoretisch vorstellbarer Brückenschlag im Leben ein Ding der
Unmöglichkeit geworden ist, quälen sich die Tote, deren Geist weder Ruhe noch
das christliche Paradies findet, und
der im Leben Verbliebene einerseits mit Schuldgefühlen und Zweifeln, mühen sich
mit dem Skizzieren persönlicher Wahrheiten ab, andererseits bringen sie in
bewegenden Worten ihre ungebrochen tiefen Gefühle füreinander zum Ausdruck. Es
ist kein leiser werdendes, kontinuierliches Abschiednehmen, kein sich Abfinden
mit der Endlichkeit des irdisch-menschlichen Lebens, wie man es bei einer
derartigen Konstellation womöglich erwarten würde, vielmehr binden sich die
beiden Icherzähler mit jedem Kapitel enger, ja unausweichlicher
aneinander.
Umgesetzt wurde diese Konstruktion so, dass jeder der Icherzähler
50 Kapitel für innere Monologe zur Verfügung hat, wobei die Abschnitte der Frau
jeweils kursiv gedruckt sind.
Hatten die Seelenverwandten im Leben noch den
(unverwirklicht gebliebenen) Plan, einen Roman "vierhändig" zu schreiben,
gelingt dies doch erst indirekt, als beide ihre Protokolle der Erinnerungen, der
individuellen Bestandsaufnahmen, aufzeichnen. Gedanken umkreisen Vereinendes,
Trennendes, Verletzungen, Missverständnisse, Unausgesprochenes und kehren
letztlich immer zur Unerträglichkeit des Ohne-den-Anderen-Seins
zurück.
Sie sehen, "Du fehlst mir" ist eines jener Bücher, die neben Lust
an ausladender Reflexion und poetisch-pathetischer Sprache Geduld und - nicht zu
unterschätzen - die entsprechende Stimmung voraussetzen, oder vielmehr wünschen,
denn: es findet sich kein erzählerischer "roter Faden", kein Handlungsstrang,
keine spannungserzeugende Chronologie. Vielmehr ist ernsthafte Versenkung
angesagt, von nadelstichkleinen Erinnerungsmomenten ausgehend, breiten sich die
Gedanken der Frau und des Mannes wie konzentrische Kreise auf einer
Wasseroberfläche aus, deren unversehrte Ruhe vorübergehend von Regentropfen
gestört wird, bis sich die Wogen wieder geglättet haben.
Geruhsame
Betrachtungen entsprechen Pedrosas Herangehensweise an Ereignisse;
nichtsdestoweniger tastet sie sich beharrlich zum Kern der Beziehung vor - eine
Erzähltechnik, die Muße erfordert.
Inês Pedrosa bezaubert vor allem
sprachlich: stimmungsvolle Umschreibungen, bildhafte Vergleiche, behutsames
Herausschälen schicksalhafter Begebenheiten und ein betont sanfter Umgang mit
ihren Protagonisten kennzeichnen ihren Schreibstil.
Auf etwa den halben
Umfang gekürzt, wäre "Du fehlst mir" ein intensiver Text von sprachlicher
Eleganz ohne schleppende Längen; für 299 Seiten jedoch erscheint die
Tragfähigkeit des Konzepts zumindest zweifelhaft.
Lesenswert ist "Du fehlst
mir" also vorwiegend für Sprachfeinspitze, die sich mit Ernsthaftigkeit einem
Buch widmen wollen, das unaufgeregt Schilderungen von Wegen und Irrwegen,
jedoch keine Lösungen, bietet; einem Buch, das in spirituelle Regionen zu spähen
vorgibt, welche erst noch zu entdecken sind.
Als nachgerade literarische
Notbremse mag man - bei allem Respekt für die Bemühungen der Autorin - das Ende
von "Du fehlst mir" einstufen, welches die voneinander getrennten Leidenden
unweigerlich wieder auf einer spirituellen Ebene vereint, was das Kartenhaus der
Konzeptstruktur endgültig zum Einsturz bringt; die Szenerie fällt in sich
zusammen. Leere hallt nach, die in krassem Gegensatz zur wortgewordenen Zeit der
vorangehenden Buchseiten steht.
Inês Pedrosa umkreist durchaus gekonnt die
altbekannten Themen der Weltliteratur, jedoch finden sich in der
Schmuckschatulle, als die ich das Buch trotz aller Kritik bezeichnen möchte,
keine den sprachlichen Formjuwelen entsprechenden Inhaltsrahmen; sattsam
bekannte Ansätze (Identitätssuche, Hadern mit Gott und dem Schicksal,
Betrachtungen vertaner und vergebener Gelegenheiten, dem Leben eine andere
Richtung zu verleihen, Liebe, Eifersucht, Rivalität, Einsamkeit, ...) werden ein
weiteres Mal routiniert bespiegelt.
Bücher, die sich mit Leben und Tod
auseinandersetzen, gibt es bekanntlich zuhauf - darunter ist "Du fehlst mir"
immerhin in sprachlicher Hinsicht eine schimmernde Perle, wobei sich mir die
Frage aufdrängt, ob nicht der eine oder andere Satz eher ein Dasein als
Keimzelle eines prachtvollen Gedichts denn als Stecknadel im Prosaheuhaufen
verdient hätte.
Abschließend noch eine Anmerkung, die freilich nicht Inês
Pedrosa betrifft: Wenig gediegen an der Übersetzung der ansonsten
sprachsensiblen Maralde Meyer-Minnemann sind Formulierungen wie diese: "Im
fliegenden Körper Teresas erinnere ich deine Flüge ...", "Dein Freund Pascoal
hat mir gesagt, dass ich alles aufschreiben soll, was ich von dir erinnere",
"Aber jetzt, in diesem Unort, in dem ich schwebe, erfreut sich mein auf
Bedeutungslosigkeiten hungriger Geist daran, solche Sätze zu erinnern ..." -
"erinnern" bedingt, jedenfalls im Deutschen, bekanntermaßen einen anders
gelagerten Satzbau. Bei einem Buch, das in erster Linie sprachlich beeindruckt,
schmerzen solche Fehltritte natürlich besonders.
(Felix; 04/2004)
Inês Pedrosa: "Du fehlst mir" Ines
(Originaltitel "Fazes-me Falta")
Aus dem
Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann.
Luchterhand, 2004. 299
Seiten.
ISBN 3-630-87158-3.
ca. EUR 20,-.
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Inês Pedrosa wurde am 15. August 1962
in Coimbra geboren. Sie verbrachte ihre ersten Lebensjahre in Tomar und Algés.
Schon während des Studiums der Kommunikationswissenschaften in Lissabon begann
sie 1983 ihre berufliche Laufbahn mit einem Volontariat in der Wochenzeitschrift
"O Jornal". Sie arbeitete in den Redaktionen verschiedener Zeitschriften wie
"Jornal de Letras", "Artes e Ideias" und bei "O Expresso", wo sie heute noch
tätig ist, und war Gründungsmitglied der Wochenzeitschrift "O Indepente". Von
1993 bis 1996 war Inês Pedrosa zudem Chefredakteurin der portugiesischen Ausgabe
der Zeitschrift "Marie Claire" und arbeitete für Radio und Fernsehen.
Für ihre berufliche Tätigkeit wurde Inês Pedrosa unter anderem mit dem Prémio
Sampaio Bruno des Journalistenverbandes Porto für kulturelle Berichterstattung
ausgezeichnet.
Inês Pedrosas Liebe zur Schriftstellerei begann mit Übersetzungen von Autoren
wie Yukio Mishima,
Henry James,
Jack London,
Guy de Maupassant
und Philippe Delerm. 1991 publizierte sie ihr erstes Buch "Mais ninguem Tem",
ein Kinderbuch. Im Jahr danach folgte der erste Roman "A Instrução dos Amantes",
in dem sie über die rationale Erfahrung und die Entdeckung des Gefühlslebens
einer Gruppe Jugendlicher schreibt. Es folgten Reportagen und Kurzgeschichten,
Biografien und eine Anthologie portugiesischer Liebesgedichte ("Poemas de Amor",
2001). Ines
1997 erschien ihr Roman "Nas Tuas Mãos" (dt. "In deinen Händen"), der 1998 den
Prémio Máxima de Literatura erhielt.
Ergänzender Buchtipp:
"In deinen
Händen"
Eine Familiensaga um drei starke Frauen: Jenny leidet in einer unbefriedigenden
Dreierbeziehung, der Geliebte ihrer Ziehtochter Camila wird vom Blitz erschlagen,
und ihre Enkelin, eine erfolgreiche Architektin, muss sich endlich auf ihre
Wurzeln besinnen, um Glück zu finden und die Liebe, nach der sie sich so verzehrt.
Die Schicksale der drei Frauen sind auf wunderbare Weise verwoben eine weibliche
Geschichte Portugals.
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