Norbert Lammert (Hrsg.): "Verfassung, Patriotismus, Leitkultur"
Was unsere Gesellschaft zusammenhält
Typisch
deutsch?
Der Begriff "Leitkultur" hat Adrenalinqualität in Deutschland:
für die Konservativen bedeutet er einen
(christlich-fundierten) Wertekanon, für die politisch
Korrekten bedeutet er Diskriminierung "anders" Denkender. Der Begriff
und die Diskussion darüber sind entstanden in einem Klima der
Verunsicherung: der Angst vor Parallelgesellschaften in Deutschland -
wobei solche aktiv erzeugt wurden ("Ich habe nichts gegen
Ausländer, aber ...") bzw. passiv erduldet werden
müssen (Berlin-Kreuzberg ist z.B. die
zweitgrößte türkische Stadt). Da hat einmal
jemand auf den Tisch gehauen und behauptet, Deutschland sei ein
deutsches Land, und hier herrsche Ordnung, und da gibt es eine
(deutsche) Leitkultur seit
Jesus und
Goethe, jawoll, basta! Und schon
sind alle zusammengezuckt: aber um Himmels willen, wir können
doch nicht - oder: höchste Zeit, dass einmal jemand die
Wahrheit sagt und aufräumt!
Abgesehen von alledem könne die Debatte viel an Aufgeregtheit
verlieren, wenn man sich einfach einmal den umgekehrten Fall
vergegenwärtigt, dass man als Deutscher in ein anderes Land
umsiedelt: es wird eine Selbstverständlichkeit sein, dass man
sich dort nach den Gepflogenheiten orientiert. Weder China, Indien,
Somalia, Kuba oder die Türkei werden sich
bemüßigt fühlen, sich nach uns Migranten zu
richten und ihr Land umzukrempeln! Nur in Deutschland finden immer
solche überreizten Bedenken ihren Nährboden. Man
macht es den Deutschen zum Vorwurf, im eigenen Land einen gewohnten
Lebensstil pflegen zu wollen - kein Mensch käme auf die Idee,
das einem Italiener oder Franzosen vorzuwerfen.
Dieses ganze Gezerre war offensichtlich dem
Bundestagspräsidenten Norbert Lammert zuviel - und so entstand
auf seine Initiative hin das vorliegende Buch. Hier geben 42 Prominente
aus Politik, Kultur und Wirtschaft - mit und ohne
"Migrationshintergrund" - ihre Stellungnahmen ab - mehr oder weniger
berufene Münder, die sich nicht nur privat, sondern oft auch
beruflich mit der Thematik beschäftigen müssen. In
seinem Vorwort bemerkt Lammert zum neuen Deutschland-Gefühl im
WM-Jahr: "Anderswo gilt ohnehin als normal, was in Deutschland als
Ausnahmezustand erscheint." Und er verweist darauf, dass gerade im
Klima der Globalisierung das Bedürfnis nach nationaler und
kultureller Identifikation wachsen wird. Die Identität eines
Menschen ist überhaupt eine existenzielle und
gesellschaftspolitische Kategorie, an der sich nicht
vorbeiargumentieren lässt!
Lale Akgün, gebürtig in Istanbul, jetzt u.a.
migrationspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Bundestag, sieht
eher eine soziale als eine ethnische Milieubindung - und die
verschiedenen Milieus haben "unterschiedliche Werte und Kulturen".
Ihrer Meinung nach braucht Deutschland etwas, das "als Kitt zwischen
den sozialen Milieus fungieren kann" - ein "Verfassungspatriotismus"
könne ein "neues Wir-Gefühl" schaffen. Alois
Glück (CSU), Präsident des Bayerischen Landtags
erinnert an die Definition des Begriffs Leitkultur durch seine Partei:
"Unsere Leitkultur beruht auf der freiheitlichen Demokratie,
rechtsstaatlichem Denken, dem Geist der Toleranz und dem Schutz der
Menschen und der Minderheitenrechte." Für den
stellvertretenden Chefredakteur des Stern, Hans
Ulrich Jörges, dient eine Neubestimmung des Begriffs
Leitkultur v.a. der "Selbstvergewisserung der Deutschen", denn eine
"deutsche Leitkultur" bedeute eben auch mehr als nur
christlich-abendländische Tradition - er sieht als Kennwerte
"Toleranz, Respekt, Partizipation und Solidarität". Wichtig
erscheint ihm auch, dass der "Dialog der Kulturen" nicht auf einen
"Dialog der Religionen" reduziert werden kann.
Der gebürtige Türke Hakki Keskini von der Partei DIE
LINKE ist überzeugt, dass das Erlernen der deutschen Sprache
"jedem Menschen das Leben in Deutschland erleichtert" - er
befürchtet aber, dass eine "Leitkultur" nicht nur Integration,
sondern sogar Assimilation einfordern würde - was er ablehnt.
Fritz Kuhn, einer der Vorsitzenden der Grünen
Bundestagsfraktion, spricht von "multikultureller Demokratie" - er
möchte, dass "Normen, um die es geht, begründet
werden müssen". Das erfordere von den Deutschen auch,
"Gewohntes in Frage zu stellen" und die "Fähigkeit zur
Übernahme zur anderen Perspektive und zum Diskurs". In seinem
Beitrag bringt der Bundestagspräsident Norbert Lammert eine
Grundmaxime ein: "Die begründeten Zweifel an dem Begriff
dürfen aber nicht verdrängen, dass jede Gesellschaft
einen Mindestbestand an gemeinsamen Überzeugungen und
Orientierungen braucht, ohne die auch ihre Regeln und ihre gesetzlichen
Rahmenbedingungen auf Dauer keinen Bestand haben." Lammert registriert
bei den Deutschen einerseits eine "Sehnsucht nach gültigen
Werten", andererseits einen "Unwillen zur Bindung" - wobei er die
"Bereitschaft zum Konsens (als) Voraussetzung der
Konfliktfähigkeit einer Gesellschaft" charakterisiert. Ganz
weise gesprochen, Herr Präsident - das Dumme ist nur, dass die
Immigranten Konflikte ins Land schleppen, die es ohne sie gar nicht
gäbe!
Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel bringt bemerkenswerte
Einsichten zu Protokoll: "Die Erfahrung der Grenzenlosigkeit ruft in
den Menschen das Bedürfnis nach stärkerem
Zusammenhalt hervor." Sie sieht die Beherrschung der deutschen Sprache
als Voraussetzung für die "Zukunftsfähigkeit der
ganzen jungen Generationen in Deutschland". Und sie reklamiert eine
"Kraftquelle" und "Antriebskräfte" und denkt an die
"tieferliegenden Bindungskräfte der Nation". Sie
möchte sich allerdings orientieren an einer
"europäischen Leitkultur" und plädiert für
die "Einheit in Vielfalt". Letztendlich ist dies der
Schmelztiegel-Gedanke der USA, der sich dort immer heftiger als
Illusion erweist. Die Grüne Claudia Roth warnt davor, dass der
Begriff Leitkultur ein Freund-Feind-Denken produziert. Im Grunde geht
es dabei ja immer um eine Bestandswahrung bzw. eine Neueroberung - wenn
die nativen Deutschen das Gefühl bekommen, im eigenen Land
zurückgedrängt zu werden, dann schafft das
natürlicherweise Aggressionspotenzial.
Bei aller Toleranz gegenüber Politikern (& innen)
liefert doch ein Schriftsteller auch intelligente
Denkanstöße - nämlich der Schweizer
Adolf
Muschg fragt sich und uns, ob der Begriff "Leitkultur" als "Bedrohung"
oder als "Warnung" zu verstehen sei - ob er ein defensiver oder ein
offensiver Begriff sei. Muschg verweist auf die Generation der Kinder
der Zugewanderten, die weder die elterliche noch die deutsche
Identität annehmen wollen. Grundsätzlich
dürfe man zur Verteidigung einer freien Gesellschaft nicht die
Freiheit aufgeben. Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer fordert gar statt
einer Leitkultur die "Ausweitung kultureller Vielfalt". Für
den Filmemacher Wim Wenders steht sowieso die "europäische
Identitätsfrage im Mittelpunkt". Und so werden die Aspekte
hin- und hergebetet - wobei eines klar wird: verordnen lässt
sich eine "Leitkultur" sowieso nicht. In Deutschland wird sich im
Zusammenhalt mit Europa eine Kultur des Zusammenlebens
weiterentwickeln, die sich sukzessive aus vielen Facetten speist.
Wenn man den Deutschen ein paar liebgewonnene Gewohnheiten
belässt, sind sie doch ganz erträgliche und
zugängliche "Sozialpartner" im Sinne eines friedlichen und
produktiven Zusammenlebens. Quasi kabarettistisch gedacht
könnten die Deutschen den Verzicht auf die Tradition des
Schweineschnitzel-Konsums und der Blasmusik anbieten, wenn die
"Zugereisten" auf Genitalbeschneidung und Kopftuch verzichten.
Letztendlich wird doch die Menschenwürde der Maßstab
sein (müssen) für eine künftige Kultur des
Miteinander. Und die Menschenwürde ist sowieso international
und multikulturell - und nach dem Grundgesetz sogar typisch deutsch, na
also, geht doch.
(KS; 01/2007)
Norbert
Lammert (Hrsg.): "Verfassung, Patriotismus, Leitkultur"
Hoffmann und Campe, 2006. 300 Seiten.
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