Orhan Pamuk: "Istanbul"
Erinnerungen an eine Stadt
Zwischen
den Welten
Als Orhan Pamuk 1952 in Istanbul geboren wird, ist die Metropole am
Bosporus schon seit Jahrzehnten dem Verfall preisgegeben - einem
Verfall, der etwas Malerisches, Melancholisches hat und mit dem Ende
des Osmanischen Reichs einsetzte.
Pamuks Familie ist sehr wohlhabend, doch sein Vater und dessen Bruder
bringen ihr reiches Erbe allmählich mit verfehlten
Geschäftsgründungen durch; die Familie spiegelt auf
diese Weise den Wandel der Stadt wider. Zunächst
wächst der Junge in einem großen Haus auf, von der
Großfamilie und einem an die europäische Mode
angelehnten, distinguierten Ambiente umgeben; die Stadt selbst erlebt
er nur selten. Das ändert sich, als er in die Schule kommt.
Mit den Jahren wächst er mehr und mehr in seine Stadt hinein,
er beginnt, sie zu zeichnen und zu malen, und auch seine erste Liebe
ist eng mit dem Umfeld der Stadt verwoben, da er und seine Freundin
sich fast nur an öffentlichen Plätzen treffen
können.
Doch die Liebe scheitert, als der Vater des Mädchens davon
erfährt. Orhan Pamuk, ein Möchtegernmaler, der sein
ungeliebtes Architekturstudium vernachlässigt und aus einer
Familie stammend, die unaufhaltsam die soziale Leiter hinabsteigt,
eignet sich nicht als Schwiegersohn für einen Mann aus der
besten Gesellschaft.
Pamuks Mutter nötigt den jungen Mann, sich für einen
künftigen Weg zu entscheiden. Er weiß mittlerweile,
dass er es als Maler in der Türkei, die er nicht verlassen
will, nicht einmal dann zu etwas bringen könnte, wenn er ein
außergewöhnliches Talent besäße.
Aber das Beschreiben, die Darstellung, das Erzählen sind seine
Welt, wenn nicht mit Farbe, so mit Worten, die Farben vermitteln
können. Und so sagt er seiner Mutter: "Ich werde nicht Maler.
Ich werde Schriftsteller."
Seine Entscheidung wurde 2006 mit dem
Nobelpreis für Literatur
belohnt.
Orhan Pamuk lebt auch heute noch in Istanbul, in dem Haus, in dem er
den Beginn seiner Kindheit verbracht hat. Mit dem heranwachsenden Kind
beobachtet der Leser staunend die Stadt, wird mit ihr vertraut, weitet
seinen Blick. Der Autor webt jedoch auch wunderbare Exkurse in seine
Erzählung hinein, erzählt von europäischen
Reisenden und Künstlern, die sich vom Charme Istanbuls
einfangen ließen und die Stadt porträtierten, von
der wechselhaften Geschichte der Metropole an der Brücke
zwischen Europa und Asien, von einheimischen Autoren, die versuchten,
alles Wissen und alle Anekdoten und Erzählungen aus Istanbul
aufzuschreiben. Der Alltag in dieser Stadt, deren Bewohner ganz
selbstverständlich mit den Ruinen umgehen, die von
längst vergangenem Glanz berichten, und die sie
gleichmütig verfallen lassen, die großen und kleinen
Sensationen wie Tankerunglücke auf dem Bosporus und
Schneefall, Stimmungen in Pastell oder Grellbunt: Pamuk bringt all dies
dem Leser auf eine bei aller Ruhe packende Weise bei, die tief
anrührt und ein eigenartiges Gefühl von Vertrautheit
aufkommen lässt, als handle es sich um ein
Déjà-vu. Und über den erzählten
Episoden schwebt "hüzün", eine charakteristische Art
von Melancholie.
Orhan Pamuks Schreibkunst ist wie sein Gegenstand eine bezaubernde
Mischung aus westlichem Faktenreichtum und orientalischer Farbigkeit.
Man könnte auch sagen, er schreibe konkreter als ein
orientalischer Erzähler und wesentlich bunter, ornamentreicher
als die meisten europäischen Romanciers. Es verwundert nicht,
dass er einst Maler werden wollte.
Das Buch ist mit zahlreichen Fotografien der Familie sowie von
Sehenswürdigkeiten, Alltagssituationen und besonderen
Augenblicken illustriert, die den Text widerspiegeln und mit ihm
zusammen die Liebe des Autors zu seiner Stadt verständlich
werden lassen.
Pamuks Erinnerungen an Istanbul ergeben eine der charmantesten,
stimmungsvollsten Autobiografien. Gleichzeitig sind sie die Biografie
einer Stadt zwischen den Welten.
(Regina Károlyi; 11/2006)
Orhan Pamuk:
"Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt"
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier.
Hanser, 2006. 432 Seiten.
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Hörbuchausgabe:
Der Hörverlag, 2006. 11 CDs.
Gelesen
von Ulrich Noethen.
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