Orhan Pamuk: "Die weiße Festung"


Eine Ode an den Geist kosmopolitischer Weltsicht

Einmal mehr hat Orhan Pamuk mit "Die weiße Festung" einen Text magischen Sprachgepräges verfasst; geschmeidig im wörtlichen Ausdruck, doch von wuchtigem, wiewohl keineswegs hochtrabendem Gestus, wenn es um das Manifest des hierin transportierten terrestrischen Tugendideals geht. Die mit unaufgeregter Raffinesse zur Hochspannung entflochtene Geschichte einer seltsamen Gelehrtengemeinschaft versteht denjenigen zu fesseln, der nach dieser Lektüre gegriffen hat, obgleich denn die Handlung selbst in gewisser Weise einem Reduktionismus zur Schlichtheit frönt, einem sehr feinsinnigen allerdings. Der Leser wird jedenfalls meinen, einer Erzählung von wahrlich dramatischer Dimension beizuwohnen.

Die besagte Handlung spielt zu einer Zeit, als die Türkei noch in Gestalt des osmanischen Reiches mit Zielstrebigkeit und unter Einsatz von Waffengewalt um die Herrschaft über das christliche Abendland bemüht war. Es war die Epoche der groß angelegten Feldzüge im Zeichen des türkischen Halbmonds, die zweite Türkenbelagerung Wiens von 1683 - so ist aus dem Text zu erlesen - steht noch bevor, welche die Macht des Sultans (des nominellen Herrschers über das Osmanenreich) über weite Teile des südöstlichen Europas ausdehnten.

In diesem historischen Kontext gesehen, gerät nun ein junger, leidlich gebildeter doch mit einem hellwachen Geist begnadeter Venezianer in türkische Gefangenschaft. Bei diesem jungen Mann handelt es sich um den Ich-Erzähler, welcher als Sklave einem Hodscha, also einem Gelehrten, zu dessen vermögendlichem Eigentum beigestellt wird. Was auffällt ist, dass der Venezianer und jener Hodscha einander äußerlich wie eineiige Zwillinge gleichen, wie denn auch das Verhältnis der beiden Männer weniger eines von Herr und Knecht denn mehr eines von Brüdern im Geiste ist.

Aus dieser Grundverfasstheit heraus entwickelt sich ein Handlungsgeschehen von heiterer Gelassenheit. So scheint es fast, obgleich zuweilen die Emotionen brodeln und die Dramatik überschäumt, überhaupt als die Pest jenes Istanbul der Handlung mit tödlichen Schrecknissen heimsucht, denn wie auch immer das Leben den beiden zentralen Handlungsfiguren mitspielt und so töricht unsinnig auch immer ihre Ambitionen scheinen, wahrt der Erzähler doch stets eine Art von philosophischer Distanz zu all dem Treiben in der Menschen kleinen Welt.

Wie schon gesagt, ist der Ich-Erzähler Venezianer von Geburt und aufgrund seiner Sozialisierung und höheren Bildung im Geiste abendländischer Christenheit geformt. Womit auch schon der Grundinstinkt zu dieser Schrift zur eindrücklichen Manifestation gelangt ist: Es geht um Identitäten und einen spielerischen Umgang damit. Wovon sich der tatsächlich türkische Autor, Orhan Pamuk, eben keineswegs ausnimmt, wenn er nun seinen Roman, und solcherart die - übrigens keineswegs unkritische - Sichtweise auf seine türkische Heimat und deren historischen Werdegang, aus der Perspektive eines christlichen Europäers zur literarischen Entfaltung bringt.

Worin eine, gleichermaßen im Detail wie in der Gesamtschau, keineswegs nur unterschwellige Botschaft kosmopolitischer Brüderlichkeit zu erkennen ist, zumal dem Leser derart zur Vermittlung gebracht sei, dass, egal ob muslimischer Türke oder christlicher Europäer, bei etwas gutem Willen zur Weltoffenheit letztlich nicht die kulturelle Verwurzelung in der heimatlichen Scholle, sondern einzig die humanistisch-terrestrische Gesinnung entscheidend ist. Völkische Identitäten jedoch, die sind fürwahr auswechselbar - eine entsprechende geistige Reife vorausgesetzt. Doch gerade um diese sollte sich der Mensch wohl mühen, will er der vornehmen Idee eines zur Mündigkeit gelangten Menschentums jemals näher kommen.

Ein reges, niemals in selbstgenügsamer Bequemlichkeit erschlaffendes Interesse für alles Andersartige, eben jener in die ferne schweifende, forschende Blick des Sternengreifers, mag dann auch die grundlegende Tugend sein, welche den in allemal beschränkten Lebensverhältnissen sozialisierten und sohin völkisch geprägten Menschen im günstigen Fall zum Weltbürger formt, welcher Grenzen des Volkstums und der aus dieser Begrenztheit sich ergebenden geistigen Enge überschreitend, in seiner Gestalt ein höheres Ideal von Menschlichkeit Wirklichkeit werden lässt.

Der Hodscha und sein italienischer Freund geben somit also ein singuläres Beispiel für ein überaus wünschenswertes Kosmopolitendasein ab, dessen stiller Triumph nun aber doch ob ihres einsamen Tuns wegen melancholisch stimmt. Was großer Männer und Frauen Taten sind, müssen noch lange nicht dem breiten Volke und dessen herrschaftlichen Eliten eine ebensolche Neigung sein, doch wer sich ob der Aussichtlosigkeit des dargelegten Unterfangens in Missmut fallen lässt, es sei ihm nicht verübelt, wird nichtsdestotrotz immer noch seine Freude mit diesem Märchen haben, das uns Orhan Pamuk in seiner betörenden Weise erzählt und dessen sphärischer Geist eben weder wirklich orientalisch noch wirklich abendländisch, sondern im besten Wortsinn kosmopolitisch ist.

(Harald Schulz; 12/2005)


Orhan Pamuk: "Die weiße Festung"
Aus dem Türkischen von Ingrid Iren.
Hanser, 2005. 224 Seiten.
ISBN 3-446-20736-8.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Der Blick aus meinem Fenster. Betrachtungen"

Orhan Pamuk ist nicht nur als Romancier bekannt, sondern auch als glänzender Essayist. Der vorliegende Band veranschaulicht die Vielzahl von Themen, über die er schreibt: Politik, Literatur und immer wieder Istanbul, die Stadt, die auch in den meisten seiner Romane präsent ist. Der autobiografische Bezug, der sich in seinen Romanen nur erahnen lässt, wird hier in den bewegenden Texten sichtbar, die seiner Kindheit gelten und der Erinnerung an seine Eltern. (Hanser)
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Leseprobe:

Wir gingen sofort ans Werk. Der Hodscha besaß jetzt die Entschlusskraft eines Menschen, der sein Ziel klar vor Augen hat. Mir gefiel diese Entschiedenheit, die ich zuvor nie so recht bei ihm wahrgenommen hatte. Da man ihn, wie wir wussten, am nächsten Tag wieder rufen würde, entschieden wir uns fürs Zeitgewinnen. Über eines aber einigten wir uns sogleich, nicht allzuviel mitzuteilen nämlich, doch müsste, was wir mitteilten, sich auch umgehend bewahrheiten. Mit seinem von mir so bewunderten Scharfsinn war der Hodscha sehr schnell zu der Ansicht gelangt: "Weissagen ist Narrheit, doch gut dafür, den Toren zu imponieren!" Er ließ seine Zustimmung erkennen, als ich ihm erklärte, die Pest sei ein Verhängnis, dem man nur mit vorbeugenden Maßnahmen beikommen könne. Gleich mir bestritt auch er nicht den Willen Allahs in dieser Katastrophe, doch war dies nur etwas Mittelbares, weswegen wir Sterblichen ohne Skrupel tätig werden und gegen die Seuche vorgehen konnten, und das würde Allah in seinem Stolz auf keine Weise verletzen. Hatte nicht auch der heilige Omar den Ebu Übeyde von Syrien nach Medina beordert, um dessen Heer vor der Pest zu bewahren? Der Hodscha würde vom Sultan zu dessen eigenem Schutze erbitten, seinen Umgang mit anderen auf ein Mindestmaß zu beschränken. Uns kam sehr wohl der Gedanke, dem Herrscher Furcht vor dem Tod ins Herz zu senken, um ihn zum Verordnen der notwendigen Maßnahmen zu zwingen, doch war dies gefährlich. Man ließ den Padischah nicht zur Genüge allein, so dass es kaum möglich sein würde, ihn mit poetischen Darstellungen vom Sterben in Furcht zu versetzen, und selbst wenn ihn des Hodschas Beredsamkeit bewegen sollte, so gab es noch die stupide Menge um ihn herum, mit welcher er diese Furcht teilen und am Ende wieder besiegen konnte. Zudem vermochten jene ebenso Unverschämten wie Dummen jederzeit den Hodscha des Unglaubens zu bezichtigen. Wir griffen aus diesen Gründen auf meine Kenntnisse der Literatur zurück und erfanden eine Geschichte.

Was dem Hodscha am meisten Sorgen machte, war die Forderung nach einer genauen Voraussage für das Ende der Pestilenz. Ich ahnte, dass wir die tägliche Zahl von Pesttoten beachten mussten, doch machte dies wenig Eindruck auf den Hodscha, als ich's ihm sagte. Er werde, um Zählungen davon zu erhalten, den Padischah um Hilfe bitten, das aber musste wieder mit einer anderen Geschichte maskiert werden. Ich glaube nicht unbedingt an die Mathematik, doch waren uns die Hände gebunden.

Er machte sich am nächsten Morgen auf den Weg zum Palast, ich ging in die Stadt, mitten hinein in die sich ausbreitende Seuche. Meine Furcht vor der Pest war unverändert groß, doch der Wunsch, den gewaltigen Strom des Lebens, die Geschicke der Welt, wenn auch nur ein klein wenig, mit eigener Hand zu lenken, hatte mir den Kopf verdreht. Es war ein kühler, windiger Sommertag, und während ich zwischen Toten und Sterbenden umherlief, dachte ich, dass mir das Leben seit Jahren nicht mehr so lieb gewesen war. Ich betrat die Höfe der Moscheen, notierte die Zahl der Särge auf einem Zettel, lief dann durch die umliegenden Viertel und suchte nach dem, was meine Beobachtungen und die Zahl der Toten verband. Es war nicht leicht, in all den Häusern, den Menschen, dem Gedränge, der Fröhlichkeit, der Trauer und der Freude einen Sinn zu erkennen. Außerdem gewahrte mein seltsam hungriges Auge nur Teilstücke aus anderer Leute Leben, erfasste glückliche, ausweglose, gleichgültige Momente, die die in einem Hause beisammenwohnenden Menschen als einander Nahestehende, als Geschwister erlebten.

Gegen Mittag setzte ich, betäubt vom Andrang der Lebenden und der Toten, auf das andere Ufer nach Galata über, ging in die Kaffeehäuser der Werkleute nahe der Werften, rauchte verstohlen eine Pfeife Tabak, und bloß weil ich die Sache verstehen wollte, aß ich in einer Garküche, suchte die Märkte auf und die Geschäfte. Ich wollte jede Einzelheit in mein Gedächtnis eingraben, um aus dem Ganzen ein Ergebnis zu ziehen. Todmüde kam ich nach dem Dunkelwerden heim und hörte mir an, was der Hodscha aus dem Serail zu berichten hatte.

Alles war wie geplant verlaufen. Die von uns erfundene Geschichte hatte den Sultan tief betroffen gemacht. Er war jetzt überzeugt davon, dass die Pest, um die Leute zu überlisten, dem Teufel gleich in Menschengestalt daherkam, und er hatte beschlossen, nicht mehr jedem Fremden Einlass zum Palast zu gewähren und das Kommen und Gehen streng überwachen zu lassen. Befragt, wann und wie die Plage enden werde, habe er, der Hodscha, so großartige Worte gefunden, dass der Padischah furchtsam bekannt habe, er könne sich den wie trunken in der Stadt umherschweifenden Todesengel leibhaftig vorstellen, auf wen sein Auge falle, den ergreife er bei der Hand und ziehe ihn mit sich fort. Erschrocken hatte der Hodscha sofort korrigiert: Es sei nicht der Todesengel, sondern der Satan, welcher die Menschen zum Sterben verleite, und er sei nicht betrunken, sondern sehr listig. Dann hatte der Hodscha ganz wie geplant zum Ausdruck gebracht, dass man Krieg gegen den Satan führen müsse. Man müsse das Umherschweifen der Pest beobachten, um daraus folgern zu können, wann sie die Stadt freigeben werde. Obwohl manche aus der Umgebung des Sultans vorbrachten, dass man sich mit Maßnahmen gegen die Pest gegen Allah versündige, sei der Herrscher darauf nicht eingegangen. Er habe sodann nach den Tieren gefragt, ob der Teufel seine Falken, Habichte, Löwen und Affen mit der Pest behelligen könne? Gleich habe der Hodscha geantwortet, dass der Teufel zu den Menschen in ihrer Gestalt, zu den Tieren aber in der einer Ratte komme. Worauf der Herrscher befohlen hatte, aus einer weit entfernten, von der Pest verschonten Stadt fünfhundert Katzen bringen zu lassen, und auch, dem Hodscha so viele Leute zur Seite zu stellen, wie er für notwendig hielt.

Die nunmehr unseren Befehlen unterstellten zwölf Männer verteilten wir unverzüglich über ganz Istanbul, ließen sie durch jedes einzelne Viertel gehen, uns die Anzahl der Toten melden und alles, was sie sonst noch beobachten konnten. Eine Karte von Istanbul, die ich, sie nach anderen Büchern korrigierend, skizziert hatte, lag ausgebreitet auf unserem Tisch. Voll Angst und Wonne verzeichneten wir in den Nächten die Umtriebe der Pest und überlegten uns, was wir dem Sultan berichten sollten.

Anfangs war unsere Hoffnung gering. Nicht wie ein schlauer Teufel spazierte die Pest durch die Stadt, sondern wie ein zielloser Vagabund. Heute holte sie vierzig Seelen in Aksaray, ließ wieder ab von dort und suchte morgen Fatih auf, um gleich anschließend auf dem gegenüberliegenden Ufer in Tophane und Cihangir zu erscheinen, und am nächsten Tag stellte sich heraus, sie hatte dort kaum einen Fuß hingesetzt, war nach Zeyrek gezogen, war eingedrungen in unser aufs Goldene Horn hinabschauende Viertel und hatte zwanzig Leben genommen. Auch aus der Anzahl der Toten ließ sich nichts schließen, fünfhundert Menschen starben an dem einen, hundert am nächsten Tag. Viel Zeit war schon verflossen, als wir endlich begriffen, dass man dort suchen musste, wo die Plage ihr Opfer zuerst angefallen und infiziert hatte, und nicht da, wo sie es schließlich umbrachte. Wieder ließ der Padischah nach dem Hodscha rufen. Wir entschieden nach einigem Hin und Her, dem Herrscher vorzutragen, dass die Pest im Basargedränge umherstreife, auf den Märkten, wo die Leute einander betrogen, in den Kaffeehäusern, wo sie dicht beisammensaßen und tratschten. Damit ging der Hodscha fort und war abends zurück.

"Was kann man tun?" hatte der Padischah den Hodscha gefragt, der darauf erklärte, dass für Basare, Märkte, die ganze Stadt alles Kommen und Gehen wo nötig mit Stockhieben beschränkt werden müsse. Das neunmalkluge Gefolge des Sultans war natürlich sofort dagegen gewesen: Wie könne die Stadt mit Nahrung versorgt werden, das Leben stehe still, wenn der Handel zum Stillstand komme, wer hören würde, dass die Pest in Menschengestalt umherschweife, könne in Panik geraten, man würde meinen, der Jüngste Tag sei gekommen, und manche würden die Zügel ganz und gar schießenlassen, außerdem wolle niemand in einem Viertel eingesperrt sein, wo der Pestteufel umgehe, es werde zum Aufstand kommen. "Sie hatten recht!" sagte der Hodscha. Als dann aber ein Dummkopf fragte, woher man denn so viele Leute nehmen wolle, um das Volk dermaßen streng überwachen zu können, sei der Sultan höchst ärgerlich geworden und habe gedroht, jeden zu bestrafen, der an seiner Macht zweifle. In seinem Zorn habe er auch befohlen, des Hodschas Weisungen auszuführen, obwohl er dabei nicht versäumt habe, den Rat seiner Umgebung einzuholen. Der oberste Sterndeuter Sitki Efendi habe voll tödlichem Hass auf den Hodscha daran erinnert, dass von diesem noch immer keine genaue Voraussage für das Ende der Pest gemacht worden sei. Aus Furcht, der Sultan könne dem beistimmen, hatte der Hodscha versprochen, einen Kalender bei der nächsten Audienz vorzulegen.

Die Karte auf dem Tisch war von uns mit Zahlen und Zeichen gefüllt worden, doch ließ sich in den Wanderungen der Plage durch die Stadt durchaus nichts Logisches erkennen. Der Padischah hatte inzwischen die Restriktionen angeordnet, und sie wurden schon mehr als drei Tage angewandt. Janitscharen sperrten die Zugänge zu den Basaren, den großen Straßen und den Bootsstegen, sie heischten Auskunft nach dem Woher und Wohin: "Wer bist du? Wohin gehst du? Warum?" hatten sie jeden zu fragen begonnen. Sie schickten Reisende und Müßiggänger, damit die Pest sie nicht treffe, verwirrt und eingeschüchtert nach Hause zurück. Als wir vernahmen, das pulsierende Leben sei schwächer geworden im Großen Basar und in Unkapani, da waren die Toten des letzten Monats gezählt, verzeichnet, die Papiere an die Wand geheftet, und wir standen brütend davor. Wir würden wohl, sinnierte der Hodscha, vergeblich darauf warten, dass die Pest sich logisch verhalte, und wir müssten uns etwas ausdenken, um den Padischah hinzuhalten und unseren Kopf retten zu können. (...)

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