Orhan Pamuk und Ihsan Oktay Anar
Zwei türkische Schriftsteller
Die Türkei,
ein Land, das sich über 779.452 Quadratkilometer erstreckt, stellt für
deutschsprachige Leser in literarischer Hinsicht tendenziell terra incognita dar. Zu den im
deutschen Sprachraum bekannten türkischen Literaten des 20.
Jahrhunderts zählen der Lyriker Nazim Hikmet (1902-1963) und der 1923 geborene
Romancier Yasar Kemal (Werke z.B.: "Der Grantapfelbaum", "Töte
die Schlange", "Die Ameiseninsel", "Salman").
Wie dem Band "Duden Familiennamen. Herkunft und Bedeutung von 20000 Nachnamen"
zu entnehmen ist, stellen unter den fremdsprachigen Familiennamen in Deutschland
die türkischen die jüngste Gruppe dar. "Bei ungefähr 2,1 Millionen Türkinnen
und Türken, die in Deutschland leben (Stand von Anfang des Jahres 2000), finden
sich ca. 80 türkische unter den 10 000 häufigsten Familiennamen in Deutschland.
Die meisten der türkischen Familiennamen fallen dadurch auf, dass sie leicht
verständlich, sprachlich durchsichtig sind. Das hängt mit ihrem geringen Alter
zusammen: Erst im Jahr 1934 erließ die noch junge türkische Republik ein Gesetz,
das jeden Türken dazu verpflichtete, außer seinem Vornamen einen festen Familiennamen
zu tragen. Der größte Teil der türkischen Familiennamen ist aus dem allgemeinen
Wortschatz gebildet, und zwar mit Vorliebe aus Wörtern, die ein mannhaftes Wesen
und kriegerische Tugenden ausdrücken oder symbolisieren wie Ates ("Feuer; Eifer"),
Celik ("Stahl"), Cetin ("hart"), Coskun ("feurig, lebhaft"), Demir ("Eisen"),
Erol ("Sei ein Mann!"). Das türkische Nationalbewusstsein zur Zeit der Gründung
der Republik spiegelt sich auch in Familiennamen wie Türk ("Türke"), Öztürk
("reiner Türke") oder in den Namen historischer oder mythologischer Helden wieder:
Arslan (Alp Arslan), Cengiz (Dschingis
Khan), Dede (Dede Korkut) und Yildirim (Beiname von Sultan Bayazid I.).
Aber auch poetische Namen wie Ay ("Mond"), Aydin ("licht, hell"), Ceylan ("Gazelle"),
Cicek ("Blume"), Gül,
Günes ("Sonne") sind häufig."
Als das große türkische Volksepos gelten die Geschichten über Dede Korkut,
einen Wanderheiligen. In den auf das 12. Jahrhundert zurückgehenden
Erzählungen wird vom Kampf der Turkstämme gegeneinander und gegen das christliche oströmische Reich sowie von der
Lebensweise und dem Brauchtum der turkischen Nomadenstämme berichtet. Dieses
Werk ist übrigens im anno 2004 erstellten türkischen Literaturkanon, der 100
Bücher umfasst, enthalten. Diese Literaturliste wurde vom türkischen
Erziehungsministerium zusammengestellt und beinhaltet u.a. Atatürks Rede zur Gründung
der Republik und die Schwänke um
Nasreddin
Hoca.
Ich möchte Ihnen nun zwei türkische Schriftsteller vorstellen: Orhan Pamuk und Ihsan Oktay Anar.
Orhan Pamuk
Orhan Pamuk, geboren am 7. Juni 1952 in Istanbul, ist einer der
international
renommiertesten türkischen Schriftsteller, wenngleich in seiner Heimat
durchaus
nicht unumstritten. Er studierte Publizistik und Architektur und lebt
nach einem längeren Aufenthalt in New York wieder in Istanbul.
Seine Romane sind raffinierte, bisweilen mystisch-bizarre Geschichten,
welche die Frage nach der Identität der Türkei zwischen Orient und
Okzident,
Islamismus und Verwestlichung, Tradition und Moderne thematisieren.
Mit "Kara Kitap" (dt. "Das schwarze Buch") gelang Orhan Pamuk 1990 der
schriftstellerische Durchbruch. Darin sucht der Anwalt Galip in Istanbul nach
seiner plötzlich verschwundenen Frau und deren Bruder, verliert sich jedoch
zunehmend in
den Abgründen des großstädtischen Labyrinths voller mysteriöser Hinweise
sowie sonderbarer Gestalten und gleitet in eine neue Identität.
Die verdichtete Darstellung der urbanen
Atmosphäre, der modernen Stadt als Organismus sui generis in Pamuks Romanen ist
jener in Alfred Kubins Roman "Die andere Seite", Franz Kafkas
eindringlichen Schilderungen von Prag und James Joyces Dublin-Beschreibungen vergleichbar.
Auch "Yeni Hayat" (dt. "Das neue Leben") handelt von
Identitätsverlust und Suche. "Eines Tages las ich ein Buch, und mein ganzes Leben
veränderte sich." Der junge Architekturstudent Osman verfällt einem
geheimnisvollen Buch sowie der anmutigen Kommilitonin Canan. Nachdem die junge
Frau und auch ein Freund Osmans, beide wie er selbst Leser des rätselhaften
Buches, verschwunden sind, beschließt der Student, sich auf die Suche zu machen
und gerät in Verschwörungen innerhalb einer Welt, wie sie im Buch beschrieben
wird.
"Rot ist mein Name" (2001 auf Deutsch
erschienen), ein vielstimmig angelegter historischer Kriminalroman,
angereichert mit einer reizvollen Liebesgeschichte, schildert einen
mit ideologischen Mitteln ausgetragenen
Konflikt zwischen
"Ost" und "West" aus der Perspektive des Islam. |
Ein Toter bin ich nun, eine
Leiche auf dem Grund eines Brunnens. Schon längst tat ich meinen
letzten Atemzug, schlug mein Herz ein letztes Mal, doch niemand weiß,
was mir geschah, nur mein ruchloser Mörder. Der aber, widerlicher
Schuft, hat auf meinen Atem gehorcht und mir den Puls gefühlt, um
sicherzugehen, dass ich wirklich tot war, dann hat er mir einen Tritt in
die Weiche versetzt, mich zum Brunnen geschleppt, hochgezerrt und
hineinfallen lassen. Mein Schädel, eingeschlagen von einem Stein, wurde
beim Sturz in den Brunnen gänzlich zertrümmert, meine Stirn, meine
Wangen wurden zerdrückt und waren hin, meine Knochen brachen, mein Mund
füllte sich mit Blut. |
Der im Jahr
2005 auf Deutsch erschienene politische Roman "Schnee"
(Originaltitel "Kar") beschäftigt sich mit dem gärenden Konflikt zwischen Verwestlichung und
Islamismus sowie Nationalismus. Wieder geht es um die Identitätssuche
des Einzelnen in einer gespaltenen Gesellschaft. Schauplatz ist diesmal
nicht die Metropole Istanbul, sondern die verarmte, von der
Modernisierung vergessene Provinzstadt Kars in Ost-Anatolien, wohin der
seit einigen Jahren in Deutschland lebende türkischstämmige Dichter
und Journalist Ka wegen einer Reihe von Selbstmorden zu Recherchezwecken
reist und im Zuge dessen zwischen die politischen und religiösen
Fronten gerät. Junge Fundamentalistinnen haben aus Protest gegen das
"fortschrittliche" Kopftuchverbot an der Schule Suizid
begangen. |
Mit einer Klarheit des
Verstands und einem Optimismus, wie er sie seit Jahren nicht mehr empfunden
hatte, begriff Ka sofort, dass das eigentliche Thema Scham war. In Deutschland
war das auch für ihn selbst jahrelang das Thema gewesen, aber er hatte
die Scham vor sich selbst verborgen. Weil Ka jetzt eine Hoffnung auf
Glück in sich trug, konnte er sich diese Tatsache eingestehen. |
Ihsan Oktay Anar
Ihsan Oktay Anar wurde 1960
in Yozgat geboren, studierte Philosophie in Izmir, promovierte dort 1994 und ist heute
als Dozent an der Philosophischen Abteilung tätig. Bisher sind drei Romane
Anars in der Türkei veröffentlicht worden, ein vierter ist in Arbeit. "Puslu
Kitalar Atlasi" (dt. "Der
Atlas unsichtbarer Kontinente"), 1995 in seiner Heimat erschienen, ist
Ihsan Oktay Anars erster Roman und seine erste Publikation in deutscher Sprache.
Das
Leben als Traum inspirierte Dichter seit jeher. |
Bünyamin hatte geträumt und
wieder die gleichen Gestalten gesehen. Die Janitscharen, deren eiserne
Panzerhemden längst verrostet waren, bewegten sich, mit Fackeln in den
Händen, in einem finsteren Nebel auf ein unbekanntes Ziel zu. Die
Visiere ihrer Helme waren heruntergelassen und ihre Gesichter von einem
eisernen Kettenvorhang bedeckt. Ihre Schilde waren vom Rost zerfressen,
ebenso wie ihre Dolche und Schwerter. Bünyamin war aus diesem Traum,
den er in letzter Zeit immer wieder geträumt hatte, durch einen von der
Haustür herkommenden Lärm erwacht. Da begehrte jemand mit großem
Nachdruck Einlass. Doch sein Vater, der auf der Bettmatte direkt neben
der seinen schlief, machte keine Anstalten aufzuwachen. Bereits in der
vorangegangenen Nacht hatte dieser Mann sich zu Bett begeben, um im
Traum einige theoretische Probleme zu lösen. Der junge Mann, der mit
seinem blonden Bart und den großen Augen seinem dunkelhäutigen Vater
in nichts ähnelte, zog also vorsichtshalber seinen Krummdolch unter der
Matratze hervor und begab sich nach unten. Dort wurde noch immer mit
aller Macht an die Tür gehämmert. Bünyamin rief: "Wer ist da?"
Doch als der Einlassbegehrende vom Klopfen abließ und gegen die Türe
zu treten begann, da war es sonnenklar, um wen es sich hier handelte.
Tatsächlich sah Bünyamin, als er die Tür öffnete, seinen Großonkel
vor sich stehen. |
"Ich wollte zeigen, dass der Mensch nicht nur in der realen Welt lebt,
sondern ebensosehr auch in seinen Träumen. Denn wenn das Leben ihn so hart an
den Abgrund führt, dann muss er sich, um zu überleben, eine Welt der Mythen
und Träume schaffen", sagte der eingangs erwähnte Yasar Kemal über seinen Roman "Das
Unsterblichkeitskraut".
Durch die Pforte der Lektüre gelangt man spornstreichs in die schillernde Welt der
Mythen und Träume - nicht nur - der Türkei!
(kre; 02/2005)
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Orhan Pamuk: "Schnee" Aus dem Türkischen von Christoph Neumann. Hanser. Buch bei amazon.de bestellen |
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