Amira Hass: "Morgen wird alles schlimmer"
Berichte aus Palästina und Israel
In
ihrem Roman "Emoticon" lässt Jessica Durlacher ihre
männliche Hauptfigur an einer Stelle ein engagiertes und
leidenschaftliches Votum zum Thema des zu besprechenden Buches abgeben.
Daniel, in Holland aufgewachsenes Kind mit einem israelischen Vater,
entdeckt seine jüdischen Wurzeln und befasst sich ausgiebig
mit dem Nahost-Konflikt, speziell mit der Situation der
Palästinenser. Er spricht in einem Streitgespräch mit
Ester, der Freundin seiner Mutter, die in dieser Frage eine eher
ausgeglichenere Meinung vertritt, aus, was Jessica Durlacher vielleicht
selbst meint, was jedenfalls nicht nur bei Juden eine weit verbreitete
Ansicht darstellt:
"Es ist einfach unerträglich, dass die Araber dieses
Land zu zerstören versuchen, es ist unser Land. Ich kann das
ganze Problem mit den Palästinensern nicht verstehen,
weißt du. Ich habe alles über die Geschichte,
über die Staatsgründung, die Balfour Declaration und
so gelesen. Wie können sie sich als Opfer hinstellen? Hier
lebten doch kaum Araber, als die Juden kamen und das Land erschlossen
und fruchtbar machten! Und als dann alles wuchs und gedieh, riefen sie
plötzlich, wir hätten es ihnen weggenommen! Also wenn
du mich fragst, ist das total simpel: Sie hassen uns und sie wollen
nicht, dass wir, die Juden, auch ein eigenes Land haben. Sie sind
neidisch, weil wir, die Juden, die sie immer verachtet haben, einen
modernen Staat aufgebaut haben, und sie das nicht schaffen."
Wenn man die Berichte der israelischen Journalistin Amira Hass liest,
von denen der Verlag C.H. Beck nun den mittlerweile vierten Band
vorlegt, stellt sich die Situation und die Ursache des Konflikts ganz
anders dar.
Als Korrespondentin der großen liberalen israelischen
Tageszeitung "Ha'aretz" zog sie 1993 nach Gaza und lebt seitdem in
Ramallah. Damals, so berichtet sie am 18. Juni 2004, als ihr in
Stockholm der Anna-Lindh-Preis verliehen wird, hatte sie die Hoffnung,
in den kommenden Jahren von einem Friedensprozess berichten zu
können, der endlich Gerechtigkeit und Demokratie für
die Palästinenser bringen würde. Doch es kam anders,
wie sie schreibt:
"Meine Frustration begann nicht erst im September 2000 (Beginn
der zweiten Intifada; Anmerkung des Rezensenten). Schon lange
vor diesem Zeitpunkt machte ich von dem Vorzug Gebrauch, unter
Palästinensern zu leben, und lieferte Fakten, die der
allgemeinen Annahme widersprachen, dass ein Friedensprozess im Gange
sei und jedermann glücklich sein müsste. Ich sprach
von Israels Politik vor Ort, die in krassem Gegensatz zu jeder
Vorstellung von Frieden stand, so zum Beispiel von den Siedlungen und
davon, wie eine Politik der Abriegelung entwickelt wurde, welche die
israelische Version des Apartheidsystems ist. Ich interviewte
palästinensische Intellektuelle, die davor warnten, dass die
Situation auf der Kippe stehe, dass es jederzeit zu einer Explosion
kommen könne. Ich sorgte dafür, dass dies
veröffentlicht wurde. Ich konnte nicht garantieren, dass meine
Berichte gelesen würden, und noch viel weniger, dass die
richtigen Schlüsse daraus gezogen würden. Zum
Beispiel der Schluss, dass Israel nicht daran arbeitete, Frieden zu
schließen, sondern daran, vom Friedensprozess zu profitieren,
die Zeit der Verhandlungen als Gelegenheit zu nutzen, die Siedlungen zu
erweitern und dafür zu sorgen, dass nur ein
geschwächter, nicht lebensfähiger
palästinensischer Staat entstehen kann."
Amira Hass entwickelt eine Haltung eines engagierten Journalismus,
dessen Aufgabe es sei, die Machthaber zu beobachten,
Unterdrückung aufzuspüren und ihre Merkmale sowie
ihre Wirkung auf die Menschen zu verfolgen, die Beziehungen zu
beobachten, die sich zwischen den Machthabern und den
Unterdrückten entwickeln.
Und so beschreibt sie jede Woche Szenen und Menschen, die
erschütternd sind. Sie zeichnet ein Bild eines geschundenen
Volkes und einer israelischen Gesellschaft, die sich durch den Konflikt
immer weiter von ihrem inneren Kern entfernt.
Mit flammenden Worten beschreibt Amira Hass die Rolle der israelischen
Armee und die absolute
Unverhältnismäßigkeit, mit der diese
auftritt. Sie schildert den Hass einer ganzen Generation von
Palästinensern, der sich notgedrungen in Gewalt und
Selbstmordattentaten Luft verschaffen müsse. Wohlgemerkt:
Anders als etwa der kanadische Moralphilosoph Ted Honderich in seinem
vom Markt genommenen Buch "Nach dem Terror"
rechtfertigt Amira Hass diese Anschläge nicht. Dennoch greift
sie meiner Meinung nach mit ihrer historischen Analyse des Konflikts
viel zu kurz. Und man muss weit, sehr weit zurückgehen, um
wirklich zu begreifen, wie die ganze Sache angefangen hat. In dem von
Doron Rabinovici bei Suhrkamp mitherausgegebenen Band "Neuer
Antisemitismus?", der sich vor allen Dingen mit dem
historischen und aktuellen Antisemitismus der Linken auseinandersetzt,
sagt der amerikanische Philosoph Michael Walzer in einem
Gespräch unter anderem:
"Gewiss, die Juden wurden aus Europa vertrieben, und die
Palästinenser sind in einem gewissen Sinne die Opfer des
europäischen Antisemitismus. Doch in der Geschichte des
Nahostkonflikts gab es mehrere Schlüsselmomente, in denen ein
palästinensischer Staat hätte entstehen
können, ein souveräner Staat, der die Opferrolle des
palästinensischen Volkes beendet hätte. Wenn die
Palästinenser auch weiterhin Opfer sind, dann ist
dafür zu einem großen Teil die Politik ihrer eigenen
nationalen Befreiungsbewegung verantwortlich. Die arabischen Staaten
haben 1948 den Krieg begonnen, gegen den Teilungsbeschluss der
Vereinten Nationen. Sie haben sich anschließend geweigert,
die Flüchtlinge einzugliedern, und sie haben jeden Versuch der
Vereinten Nationen, die Flüchtlinge aus ihren Lagern
herauszubekommen, abgelehnt. Wessen Opfer sind also die
Palästinenser?"
Dieser Blickwinkel muss meiner Meinung nach eingenommen werden, sonst wird das Bild schief.
Amira Hass schreibt (zumindest im vorliegenden Buch) nichts
über die Milliardensummen, die aus UN- und EU-Mitteln in der
Vergangenheit in den Gaza-Streifen und das Westjordanland geflossen
sind, vor allen Dingen nichts darüber, wohin sie geflossen
sind, in die Taschen korrupter Funktionäre wie
Arafat, denen das Leiden ihres Volkes notwendiger Bestandteil ihrer
eigenen Machtsicherung war und nach wie vor ist.
Sie schreibt wohl über innerpalästinensische
Konflikte zwischen PA, Fatah und der Hamas, sie benennt die Korruption,
aber sie dringt nicht in die sozialpsychologischen Ursachen vor, wie
dies jüngst Henryk M. Broder in seiner genialen Polemik "Hurra,
wir kapitulieren!" getan hat.
Amira Hass' Reportagen haben trotz ihres Engagements einen resignativen
Unterton, der sich daraus speist, dass sie in ihrem eigenen
israelisch-jüdischen Volk so wenig Aufbruch spürt:
"Aber die wirtschaftliche Misere, die Wut und die
ständige Angst vor palästinensischen
Anschlägen münden in Israel nicht in eine
emanzipatorische Massenbewegung. All diese Dinge führen nicht
zu einem allgemeinen Protest, einem rebellischen Bewusstsein und der
Ablehnung der israelischen Besatzung, der apartheidähnlichen
Politik und der offenen Diskriminierung nach ethnischer Herkunft. All
das sind Gründe für den Titel dieses Buches."
Vielleicht schafft es ja die Wirkung von David Grossmanns Klagerede am
Jahrestag der Attentats auf Premier Jitzhak Rabin. Der Schriftsteller
Grossmann, der im jüngsten Krieg gegen die Hamas einen Sohn
verloren hat, zieht eine bittere Bilanz und benennt, ähnlich
wie Amira Hass, dass der Staat Israel in erstaunlich kurzer Zeit in
Hartherzigkeit, ja schiere Grausamkeit gegenüber den
Schwachen, Armen und Leidenden verfallen ist. Er fürchtet, es
könne für eine vollständige Genesung jenes
Gemeinwesens, das Hoffnung und Haltepunkt für die Juden in der
Welt ist, bald schon zu spät sein.
Und er richtet seine Worte direkt an den anwesenden
Ministerpräsidenten Olmert:
"Wenden Sie sich an die Palästinenser, Herr Olmert.
Sprechen Sie sie über die Köpfe von Hamas hinweg an.
Wenden Sie sich an die Gemäßigten unter ihnen,
diejenigen, die Hamas und ihre Politik ebenso ablehnen wie Sie und ich.
Wenden Sie sich an das palästinensische Volk. Sprechen Sie die
tiefe Verwundung dieser Menschen an, erkennen Sie ihre
fortwährenden Leiden an ... dem schlichten menschlichen
Mitgefühl wohnt die Kraft einer Naturgewalt inne, gerade bei
Stilstand und Feindschaft. Sie werden ein Volk erblicken, das nicht
weniger gepeinigt ist als wir. Ein besetztes, deprimiertes Volk ohne
Hoffnung. Gewiss sind die Palästinenser mit schuld, dass wir
in der Sackgasse gelandet sind. Gewiss haben auch sie erheblichen
Anteil am Fehlschlagen des Friedensprozesses. Aber betrachten Sie sie
einen Moment anders. Nicht nur die Extremisten unter ihnen. Nicht nur
diejenigen, die ein Interessenbündnis mit unseren Extremisten
haben. Schauen Sie auf die entscheidende Mehrheit dieses
bedauernswerten Volkes, dessen Schicksal mit unserem verknüpft
ist, ob wir wollen oder nicht. Sprechen Sie sie an. Machen Sie ihnen
ein Angebot, das die Gemäßigten unter ihnen
akzeptieren können. Legen Sie ihnen ein Angebot vor, das sie
vor die Entscheidung stellt, ob sie es annehmen oder weiterhin als
Geiseln des fanatischen Islams bleiben wollen. Wenn Sie zögern
, werden wir uns bald in die Zeiten zurücksehnen, in denen der
palästinensische Terror noch dilettantisch war."
(Aus "DIE ZEIT" 46/06, S. 3)
Möge dieser leidenschaftliche Aufruf, dem Amira Hass mit
Sicherheit zustimmen würde, seine Wirkung in die israelische
Gesellschaft hinein nicht verfehlen. Vielleicht kann Amira Hass dann in
ihrem nächsten Band von Zeichen einer Entwicklung zum Besseren
berichten.
(Winfried Stanzick; 11/2006)
Amira
Hass: "Morgen wird alles schlimmer"
Aus dem Englischen von Sigrid Langhaeuser.
C.H. Beck, 2006. 213 Seiten.
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Amira
Hass wurde für ihre ungewöhnlichen und mutigen
Reportagen mit dem "World Press Hero Award" ausgezeichnet. 2002 erhielt
sie den niederländischen "Prince Claus Award" sowie den
österreichischen "Bruno Kreisky Preis für Verdienste
um die Menschenrechte". Im Verlag C.H. Beck erschien 2003 ihr Buch
"Gaza - Tage und Nächte in einem besetzten Land"
Dieses Buch über den Nahost-Konflikt ist ein
besonderes, weil es von einer ungewöhnlichen Frau und aus
ungewohnter Perspektive geschrieben wurde. Amira Hass ist
natürlich nicht die einzige, die in Israel über das
Leben in den Palästinensergebieten berichtet. Aber sie ist die
einzige unter den israelischen Reportern, die ihren Alltag mit den
Palästinensern teilt. Als Israelin freiwillig unter
Palästinensern zu leben, gilt nicht wenigen ihrer Landsleute
als Kollaboration mit dem Feind, wie ihr andererseits viele
Palästinenser mit tiefem Misstrauen begegnen. Doch ist es
gerade diese Existenz als Grenzgängerin zwischen den Fronten,
die ihr dieses Buch ermöglicht hat.
Amira Hass verleiht dem gewöhnlichen
palästinensischen Leben ein Gesicht. Hier erfährt
man, was es bedeutet, als Taxifahrer oder Arzt, als Bauer oder Hausfrau
in den besetzten Gebieten zu leben. Hass dokumentiert den
palästinensischen Alltag ebenso genau wie das Mit- und
Gegeneinander palästinensischer Organisationen. Sie beschreibt
die ohnmächtige Wut auf die israelischen Besatzer ebenso wie
die Selbstherrlichkeit des autoritären Regimes Yassir Arafats.
Entstanden ist damit ein bedrückend-plastisches Bild jener
Mischung aus Fatalismus und Hoffnung, aus Verzweiflung und Zorn, die
dem israelisch-palästinensischen Konflikt immer neue Nahrung
zufließen lässt.
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Informationen über einige in der Rezension
erwähnte Bücher:
Jessica Durlacher: "Emoticon"
"Emoticon" handelt von der komplizierten Freundschaft zweier Frauen:
Ester und Lola, die ein halbes Leben lang alles miteinander geteilt
haben - die Liebe, die Männer, die Eifersucht, das Misstrauen,
die Neugier auf Israel, die Liebe zu einem Kind namens Daniel, Lolas
Kind. "Emoticon" ist die Geschichte dieses Daniel, der zum Jugendlichen
heranwächst, sich von seiner ersten großen Liebe
enttäuscht fühlt, der vor allem aber eine Sehnsucht
hat: seinen Vater, einen Israeli, kennen zu lernen, was die Mutter ihm
bislang verwehrt hat. In zweiter - hart kontrastierender - Linie ist
der Roman zugleich die Geschichte von Aischa, einer
Palästinenserin und radikalen Aktivistin Mitte zwanzig aus
Ramallah, die die Verzweiflung über die Misere ihres Volkes
zum Äußersten treibt. Sie möchte
für die Weltöffentlichkeit ein Zeichen setzen, und
das Schicksal spielt ihr die Gelegenheit dazu in die Hände:
Aischa lockt einen niederländisch-israelischen Jungen -
Daniel! - in eine tödliche Falle. Ihr Lockmittel: das Internet
und seine Zeichensprache, die Emoticons. Der Roman handelt auch von
einem faszinierenden, vitalen, zerrissenen Land, das nicht zur Ruhe
kommen kann. Er besticht durch seine komplexe und dennoch
atemberaubende Dramaturgie, die den Leser bis zur letzten Seite in
Hochspannung hält. (Diogenes)
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Ted Honderich: "Nach dem Terror" (Ein Traktat)
Der angesehene kanadische Philosoph Ted Honderich zeigt mit diesem
ethisch-politischen Traktat, was man als angewandte philosphische Ethik
bezeichnen könnte.
Der Anschlag vom 11. September 2001 wird zum
Anlass genommen, um vergessene ethische Grundfragen neu zu stellen.
Nach dem Terror erschien in Großbritannien als After the Terror
komplikationslos. Als er bei Suhrkamp 2003 auf deutsch erschien - die
Veröffentlichung war unter anderem durch die Befürwortung von
Jürgen Habermas ermöglicht worden -, gab es eine heftige
Kontroverse. Der Frankfurter Professor Micha Brumlik warf dem Werk
"antisemitischen Antizionismus" vor. Der Frankfurter Verlag gab die
Rechte am Buch zurück. Es erschien neu übersetzt im Dezember
2003 bei Melzer. (Melzer Verlag)
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Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Natan Sznaider
(Hrsg.): "Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte"
Wo liegt die Grenze zwischen legitimer Kritik an Israel und
Antisemitismus? Hat sich der Antisemitismus in der Ideenwelt des Islam
etabliert? Inwieweit spielen bei linker Israel-Kritik antisemitische
Topoi eine Rolle? Seit einigen Jahren gibt es eine neue, weltweit
geführte Debatte über den Antisemitismus. Nicht mehr
Rechtsextremismus und
Vergangenheitsbewältigung stehen dabei
im Vordergrund, sondern die kontroversen Positionen gegenüber
dem Nahostkonflikt.
In zahlreichen Originalbeiträgen dokumentiert der Band den
internationalen Stand der Debatte erstmals für das deutsche
Publikum. Mit Texten von Omer Bartov, Ulrich Beck, Micha Brumlik, Ian
Buruma, Judith Butler, Dan Diner, Daniel Jonah Goldhagen, Thomas Haury,
Jeffrey Herf, Tony Judt, Gerd Koenen, Matthias Küntzel, Antony
Lerman, Andrei Markovits, Michael Walzer, Robert Wistrich und Moshe
Zimmermann. (Suhrkamp)
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Noam Chomsky: "Keine Chance für Frieden" zur Rezension ...
Lien: https://image.guardian.co.uk/sys-files/Guardian/documents/2007/06/12/DeSotoReport.pdf