Amos Oz: "Plötzlich tief im Wald"

Ein Märchen


Amos Oz hat neben seinen großen Romanen und seinen politischen Essays und Vorlesungen (zuletzt: "Israel und Deutschland" und "Wie man Fanatiker kuriert") immer wieder auch Bücher für Kinder geschrieben.

"Plötzlich tief im Wald" ist ein Märchen für Kinder und Erwachsene. Es erzählt die Geschichte eines namenlosen Dorfes irgendwo am Ende der Welt. Umgeben von hohen Bergen und undurchdringlichen Wäldern, liegt das Dorf wie verlassen da. Eine seltsame Ruhe herrscht dort, Stille und Traurigkeit haben sich wie eine Decke über alles gelegt. Früher war es ein ganz normales Dorf, aber irgendwann, es war weit bevor die Kinder, die in dem Märchen die Hauptrollen spielen, geboren wurden, geschah etwas sehr Rätselhaftes. Quasi von einem auf den anderen Tag verschwanden in einer Nacht mitten im Winter alle Tiere aus dem Dorf; die zahmen Haus- und Nutztiere, die wilden Tiere des Feldes und des Waldes, aber auch die Spinnen, Fliegen und Würmer. Kein Vogel zeigte sich seit jener denkwürdigen Nacht mehr am Himmel über diesem unglücklichen Ort. Doch die Bewohner begreifen ihr Unglück nicht. Die Erwachsenen, die sich an jene Nacht erinnern können, tun es nicht und schweigen eisern. Es ist ein mächtiges und gewaltiges Schweigen, das nicht wahrhaben will, was geschehen ist, und sich weigert, sich irgendwelche Fragen danach zu stellen oder stellen zu lassen. Seit diesem Tag herrscht auch die Angst vor der Nacht im Dorf; alle schließen sich bei Anbruch der Dunkelheit in ihre Häuser ein. Den Kindern haben die Erwachsenen eingeschärft, niemals den das Dorf umgebenden Wald zu betreten. Denn die Nacht und der Wald gehören Nehi, dem Bergteufel.

Es gibt einige Menschen, die vorsichtig versuchen, sich diesem Bannfluch zu entziehen, darunter auch Maja und Mati. Der fragt eines Abends seinen Vater, warum alle Tiere aus dem Dorf verschwunden seien.
"Der Vater antwortete nicht gleich. Er stand von der Küchenbank auf, ging ein paar Minuten lang hin und her, dann blieb er stehen und fasste Mati an den Schultern. Doch er schaute seinen Sohn nicht an, sondern richtete seinen Blick auf die dunkle Stelle über der Tür, wo der Verputz feucht geworden war. Dann sagte er: Also, Mati, es ist so. Hier sind einmal alle möglichen Dinge geschehen. Dinge, auf die wir nicht stolz sein können. Aber nicht jeder ist schuldig. Und bestimmt sind wir nicht alle gleichermaßen schuldig. Außerdem, wer bist du, dass du über uns richten könntest? Du bist noch klein. Du hast kein Recht, über uns Erwachsene zu richten. Und wer hat dir überhaupt erzählt, dass es hier einmal Tiere gab? Vielleicht gab es sie. Vielleicht aber gab es sie nie. Es ist so viel Zeit vergangen. Wir haben es vergessen, Mati. Wir haben es vergessen, das ist alles. Lass es. Wer hat schon die Kraft, sich zu erinnern? Jetzt geh und hole ein paar Kartoffeln aus dem Keller, und hör auf zu fragen.
Und bevor Matis Vater plötzlich die Küche verließ, fügte er noch hinzu: Hör mal, wir treffen jetzt ein Abkommen, du und ich, nämlich dass es dieses Gespräch nie gegeben hat, ja? Dass wir überhaupt nie darüber gesprochen haben, ja?
Die Eltern der anderen Kinder leugneten alles ab oder schwiegen alles tot. Sprachen nicht darüber. Schon gar nicht in Gegenwart der Kinder."

Die Lehrerin, die versucht, den Kindern beizubringen, welche Stimmen die einzelnen Tiere hatten, der Dachdecker Danir, eine Näherin und Almon, der Fischer, sind diejenigen, die sich dem gewaltigen Schweigegebot immer wieder entziehen. Doch sie werden von der Dorfgemeinschaft geschnitten und verspottet:
"Außer Almon, dem Fischer, dem niemand zuhörte, weil ihn alle nicht ernst nahmen, gab es im ganzen Dorf keinen Menschen, der den Kindern beibrachte, dass die Wirklichkeit nicht nur aus dem besteht, was man mit den Augen sehen, mit den Ohren hören oder mit den Fingern fühlen kann, sondern auch aus dem, was Augen und Ohren verborgen bleibt und sich nicht mit Fingern berühren lässt, was sich manchmal, nur für einen Moment, allein dem offenbart, der mit dem geistigen Auge suchen und mit der Seele hören und mit Gedankenfingern fühlen kann."

Die Verweigerung der Erinnerung, der Widerstand der Erwachsenen gegen sie ist immens. Und natürlich kann so das Dorf nicht erlöst werden. Maja und Mati ahnen es, sie spüren es, obwohl ihnen noch nie jemand von jenem Geheimnis erzählt hat, welcher Segen und welche Erlösungskraft in der Erinnerung liegt.

Sie denken nach und machen sich, zitternd und zagend, auf, am verbotenen, tabuisierten Ort, nach den verschwundenen Tieren zu suchen. Sie treffen Nehi, der natürlich kein Teufel ist, und kehren nach einiger Zeit mit der Wahrheit in ihr Dorf zurück.
Doch wird man ihnen glauben, oder sie auch für verrückt erklären?

Amos Oz hat ein schönes Märchen geschrieben über die Kraft der Erinnerung und die schrecklichen Folgen ihrer Unterdrückung.

(Winfried Stanzick; 05/2006)


Amos Oz: "Plötzlich tief im Wald"
(Originaltitel "Pit’om be-omek ha-ja’ar")
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Suhrkamp, 2006. 120 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen