Amos Oz: "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis"

Autorisierte Lesefassung; ausgewählte Kapitel - gelesen von Ulrich Matthes
(Hörbuchrezension)


Bazillen sind wie Antisemiten

Ein heißer Sommertag des Jahres 1933 in der Levante. Man lässt den Blick über die ländlich-dörfliche Idylle schweifen. Man sieht farbenfrohe Stände in von Menschen wimmelnden Gassen. Händler, die mit feilschenden Hausfrauen streiten und mit Hausmädchen flirten. Man hört kreischende Esel, meckernde Ziegen, brüllende Stiere, deren Besitzer lautstark ihre Ware anpreisen. Über dem Ganzen die flirrende Hitze und der Geruch nach frisch gebackenem Brot, gebratenen Fleischstückchen oder von Orangen, Rosen, Minze, Myrte, Salbei und Feigen.

Mitten in der Menge steht Großmutter Schlomid und betrachtet missbilligend den ganzen Trubel. Dann rafft sie energisch ihr Kleid zusammen, gibt sich einen Ruck und sagt zu ihrem Mann: "Die Levante ist voller Mikroben!" Ab diesem Tag badet sie drei Mal täglich in kochend-heißem Wasser, damit die Bazillen keine Chance haben. An dieser Gewohnheit hält sie bis zu ihrem Tod, fast 25 Jahre später, sommers wie winters, eisern fest!

Liebevoll erzählt Amos Oz in seinem Roman "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" über die Schrullen seiner Verwandten und seiner Nachbarn. Doch ist sein Buch auch ein politisches, berichtet es doch aus der Sicht eines Jungen über die Gründung des Staates Israel. Auch schwierigste politische Themen spart der Autor dabei nicht aus, verkleidet sie manchmal wie eine Parabel. Beispielsweise erzählt er leichthin vom Besuch bei einer arabischen Familie. Als er die zwölfjährige Tochter des Hauses erblickt, verliebt er sich auf der Stelle in sie. Um ihr zu imponieren, klettert er auf einen Baum und macht dort Kunststücke wie ein Zirkusclown. Doch die gewünschte Völkerverständigung wird zum Desaster. Er fällt vom Baum und zertrümmert dabei dem Bruder des Mädchens den Fuß. Beschämt muss er mit ansehen, wie das Mädchen für seinen Fehler büßen muss.

Dabei ergreift Amos Oz keine Partei oder weist Schuld zu, sondern überlässt dies dem Hörer. Seine gefühlvolle, klare und zarte Erzählkunst zieht uns schnell in den Bann dieser autobiografisch eingefärbten Geschichte. Und auch Ulrich Matthes trägt seinen Teil zu dieser ruhigen und gelassenen Atmosphäre bei. Auch er erzählt uns eine Geschichte über einen kleinen, einsamen Jungen, einen angepassten Außenseiter, der alles tut, um nicht verlassen zu werden. Und den seine Mutter dann doch verlässt, wofür er sie hasst. Und der seinen Vater hasst, weil er es zugelassen hat. Und der sich hasst, weil er seine Eltern hasst. Einen Jungen, dessen Hand seinen Vater weinen fühlte und dessen Augen ihn euphorisch die Gründung Israels feiern sahen. Er lacht und weint, stockt beim Reden, schweigt, verschweigt und unterbricht. Kurz: Ulrich Matthes liest nicht, sondern ist dieser Junge. Er leidet mit, er liebt mit, er hasst und verzweifelt, durchlebt alle Gefühle des Ich-Erzählers. Aber die Person Ulrich Matthes bleibt im Hintergrund, macht den Ich-Erzähler lebendig und stellt diesen ins Rampenlicht. Diese Bescheidenheit sowie Matthes' stimmliche und schauspielerische Leistungen haben ihn zu Recht, gemeinsam mit wenigen Anderen, an die Spitze der Sprecherriege geführt.

Fazit: Dieses Hörbuch ist sowohl in literarischer Hinsicht als auch hinsichtlich Sprecherwahl und Ausstattung einfach genial. Jedes weitere Wort ist überflüssig.

(Wolfgang Haan; 12/2005)


Amos Oz: "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis"
Der Hörverlag, 2005. 6 CDs, Laufzeit ca. 420 Minuten.
ISBN 3-89940-634-6.
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Buchausgabe:
(Originaltitel "Ssipur al ahava wechoschrech")
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama.
Suhrkamp, 2004. 768 Seiten.
ISBN 3-518-41616-2.
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Amos Oz wurde am 4. Mai 1939 in Jerusalem als Amos Klausner geboren. Er wuchs in einer gebildeten rechts-zionistischen Gelehrtenfamilie auf, die 1917 von Odessa nach Wilna (damals Polen) geflüchtet war und von dort 1933 nach Palästina auswanderte. 1954 trat er - zwei Jahre nach dem Tod seiner Mutter - dem Kibbuz Chulda bei; Abschluss der Schule (religiöse Grundschule, weltliche Oberschule). Dort nahm er den Namen "Oz" (hebräisch "Kraft, Stärke") an. Nach dem Wehrdienst Studium der Literatur und Philosophie an der hebräischen Universität in Jerusalem. Abschluss mit dem B.A., danach Rückkehr in den Kibbuz. 1986 verließ Amos Oz mit seiner Familie den Kibbuz und lebt seitdem in Arad in der Negev-Wüste. Seit 1987 lehrt er Hebräische Literatur an der Ben-Gurion Universität von Negev, Beesheba. Die Werke von Amos Oz wurden in 37 Sprachen übersetzt. Er hat zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten.
Amos Oz starb am 28. Dezember 2018 in Tel Aviv an einem Krebsleiden.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Ein anderer Ort"

Mit den jüdischen Einwanderungswellen nach Palästina und verstärkt durch die Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 ist es zwischen der jüdischen Bevölkerung und deren arabischen Nachbarn zu heftigen Auseinandersetzungen, die in Kriege mündeten, gekommen. Diese Entwicklung prägte und prägt nicht nur die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse des Landes, sondern auch das Verhalten der einzelnen Menschen. Amos Oz ist der erzählende Chronist der realen, geistigen und emotionalen Verhältnisse Israels. Sein Roman Ein anderer Ort zeichnet mit der kleinen Welt des Kibbuz einen Mikrokosmos dieses Landes.
Der Kibbuz liegt an der nördlichen Grenze Israels. Auf den ersten Blick erscheint er, zu Beginn der 1960er Jahre, als ein kleines Paradies auf Erden. Doch wird er zweifach bedroht: von außen, da auf den Bergen über dem Ort feindliche Stellungen lauern. Von innen: Hinter der harmonischen Außenseite tun sich Spannungen auf, verstricken sich die Menschen in verquere Liebesverhältnisse, werden ideologische Differenzen ausgetragen. Amos Oz zeigt in seinem humorvollen, vielstimmigen Roman, der moralische Wertungen vermeidet und auch dem Klatsch die ihm im Kibbuz gebührende Rolle einräumt, die eruptive Gewalt der Leidenschaften und der weltanschaulichen Gegensätze - und die Art und Weise, wie sie, vielleicht, versöhnt werden können.
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"Allein das Meer"

Sieben Israelis erzählen abwechselnd aus ihrer Perspektive in Monologen, Dialogen und imaginären Zwiegesprächen von den Versuchen, ein nach ihren Maßstäben gelungenes Leben zu führen. Zu ihnen gesellt sich, als Gleicher unter Gleichen, der Autor. So artikuliert der neue Roman von Amos Oz vielstimmig die Hoffnungen und Enttäuschungen, die elementare Gewalt von Liebe, Verlangen und Schmerz.
Die aus Bulgarien eingewanderte Nadja Danon ist an Krebs gestorben. Ihr Mann Albert, Steuerberater von Beruf, versucht nach deren Tod, sich vom schweren Gewicht der Trauer zu befreien - vielleicht mit Hilfe seiner ehemaligen Kollegin Bettine Carmel? Denn auf seinen Sohn Enrico kann er nicht zählen: Der hat sich nach Tibet aufgemacht in der Hoffnung, im ganz Fremden sich zu entdecken. Herauszufinden, wie das Leben sich zu leben lohnt, versucht auf ihre Weise seine Freundin, die Drehbuchautorin Ditta. Zwar hat sie einen Liebhaber, Giggy, und auch der Filmemacher Dubi ist hinter ihr her, aber sie muss unbedingt in Alberts Haus einziehen. So bilden sich Dreiecksbeziehungen heraus, die überraschende Änderungen erfahren. Doch sind sie der Ursprung neuer Wendungen, in denen alles Alte abfällt und die Gegenwart um ihrer selbst willen gelebt wird. "Allein das Meer ist noch da, und auch das hat sich gewandelt von blau in grau."
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"Wo die Schakale heulen. Erzählungen" zur Rezension ...

"Sumchi. Eine wahre Geschichte über Liebe und Abenteuer"
Diese Geschichte über "Liebe und Abenteuer" ist Amos Oz' eigene. Sie spielt an einem Sommertag in Jerusalem im Jahr 1947. Alles beginnt damit, dass Sumchi, der elfjährige Held und Ich-Erzähler, ein Fahrrad geschenkt bekommt. "Einmal bekam ich ein Fahrrad geschenkt und tauschte es gegen eine Eisenbahn, für die ich einen Hund bekam, an dessen Stelle ich dann einen Spitzer fand, den ich gegen Liebe hergab. Doch auch das ist nicht die volle Wahrheit, denn die Liebe gab es die ganze Zeit, schon bevor ich meinen Spitzer herschenkte ..." Eine Hans-im-Glück-Geschichte also und eine Liebesgeschichte erzählt Oz, eine Geschichte von der Sehnsucht und vom Erwachsenwerden, von Veränderungen und vom Leben, das weitergeht - auch nach dem Ende der Liebe zwischen Sumchi und Sumchis Klassenkameradin Esthi.
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Leseprobe:

Am Schabbat vormittag, hieß es, würden alle Delegierten der Vollversammlung an einem Ort namens Lake Success zusammenkommen und über unser Schicksal entscheiden: "Wem Leben und wem Untergang beschieden ist!" sagte Herr Abramsky. Frau Tosia Krochmal holte unterdessen die Verlängerungsschnur der elektrischen Nähmaschine aus der Puppenklinik ihres Mannes, damit die Lembergs ihr schweres schwarzes Rundfunkgerät hinaustragen und auf den Balkontisch stellen konnten. (Es war das einzige Radiogerät in der Amos-Straße, wenn nicht das einzige in ganz Kerem Avraham.) Dort, auf dem Balkon der Lembergs, würde man das Gerät auf volle Lautstärke drehen, und wir alle würden uns versammeln - bei den Lembergs, im Hof, auf der Straße, auf dem Balkon der Wohnung über ihnen und den Balkonen gegenüber, und so könnte die ganze Straße die "laufende Sendung" mithören (so nannte man damals auf hebräisch die Direktübertragung), damit wir erführen, wie die Entscheidung ausfiele und was die Zukunft für uns bereithielte ("wenn es nach diesem Schabbat überhaupt noch eine Zukunft gibt").
"Lake Success", sagte Vater, "bedeutet übersetzt 'See des Erfolgs', das heißt, es ist das Gegenteil von dem Tränenmeer, das für Bialik das Schicksal unseres Volkes symbolisiert. Und Eurer Hoheit", fügte er hinzu, "werden wir diesmal entschieden erlauben, an dem Ereignis teilzunehmen, im Rahmen der neuen Position von Eurer Hoheit als Zeitungsleser par excellence und als militärischer und politischer Kommentator."
Mutter sagte: "Ja, aber mit Pullover. Es ist schon kalt."
Doch am Schabbat morgen stellten wir fest, daß die schicksalsentscheidende Beratung, die in Lake Success für nachmittags anberaumt war, bei uns erst am Schabbatausgang beginnen würde, wegen des Zeitunterschieds zwischen New York und Jerusalem. Oder vielleicht auch, weil Jerusalem ein so entlegener Ort war, fernab der großen Welt, hinter den Bergen und in weiter Ferne, so daß alles, was in der großen Welt geschah, zu uns immer nur als schwacher Widerhall drang, als blasses Echo eines Echos, und selbst das immer mit erheblicher Verspätung. Die Abstimmung, so rechnete man bei uns aus, würde nach Jerusalemer Zeit erst sehr spät stattfinden, kurz vor Mitternacht, zu einer Uhrzeit, an der dieser Junge längst im Bett sein müsse, denn auch morgen müsse man ja aufstehen und zur Schule gehen.
Zwischen Vater und Mutter gab es daher einen schnellen Wortwechsel, eine kurze Verhandlung in tschepschenischem Polnisch oder tschanichatschujischem Russisch, an deren Ende Mutter sagte: "Vielleicht solltest du heute abend tatsächlich wie gewohnt schlafen gehen, und Vater und ich setzen uns auf den Hof, nahe an den Zaun, um die Sendung von Familie Lembergs Balkon mitzuhören, und wenn das Ergebnis gut ausfällt, wecken wir dich selbst um Mitternacht und erzählen es dir. Das versprechen wir." (...)

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