Géza Ottlik: "Die Weiterlebenden"
Band 2 der Reihe "Literaturwunderland Ungarn"
Zerstörte Kindheit an einer
Militärschule
Budapest, 1923: Ein elfjähriger Junge, den wir nur
unter seinem Nachnamen Damjáni kennen lernen, wird von seinen Eltern auf eine
Militärschule im Grenzland zu Österreich geschickt. Aus einem Umfeld familiärer
Geborgenheit gelangt er unversehens in eine gänzlich andere Welt. Schon zu
Beginn zeigt sich, dass eine Vierergruppe von älteren Sitzenbleibern die ganze
Klasse unter den wohlwollenden Augen der Vorgesetzten terrorisiert. Die Willkür
kann jeden treffen. Einige begehren zunächst auf. Doch unter dem Druck der
militärischen Disziplin, die keine Rechtfertigung außer dem Recht des Stärkeren
beziehungsweise Ranghöheren zulässt, und des drögen täglichen Einerleis versagen
ihnen die anderen die Unterstützung und passen sich immer mehr den Gegebenheiten
an, indem sie sich stumm und ergeben erniedrigen, berauben und misshandeln
lassen.
Damjáni findet sich mühsam in seine Rolle. Ein Mitschüler erzwingt
sich die Chance, von der Schule abzugehen - und bleibt schließlich doch,
überzeugt, dass er diese Prüfung überstehen könne. Der aufgeweckte Damjáni
beobachtet resigniert und wachsam seine Umgebung, immer von Furcht und Angst
umgetrieben. Ein Privatleben gibt es nicht, Briefe der Mütter fallen der
Viererbande in die Hände und führen zu Spott und Hohn, während der Inhalt
liebevoll zusammengestellter Pakete von der Ton angebenden Clique verzehrt wird.
Teilen gilt als Zeichen von Schwäche. Selbst die wenigen Freundschaften, eher
Zweckgemeinschaften, werden nur zaghaft und scheu gepflegt.
Mit der Zeit
entwickeln die Kinder Strategien zum Weiterleben, jedes eine andere. Sie mauern
sich ein in ihre eigene Welt, aus der sie auch dann nicht mehr entfliehen
können, als der äußere Druck unerwartet von ihnen genommen wird.
Der 1912
geborene Géza Ottlik besuchte selbst ab 1923 eine Militärschule, und sein Roman
"Die Weiterlebenden" trägt so starke autobiografische Züge, dass der Autor ihn
zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichte. Der Autor beschreibt die verstörenden
Eindrücke und Erlebnisse in der Militärschule aus unverstellter Kindersicht, das
Entsetzen und ungläubige Erstaunen darüber, dass die Vorgesetzten die
Übergriffe der Sitzenbleiber-Clique nicht nur dulden, sondern dass jeder Beschwerde- oder
Rechtfertigungsversuch zum Bumerang gerät, und er schildert authentisch den
Übergang von Empörung, Wut und halbherziger
Auflehnung zu Angst und schließlich
Abstumpfung, den schmalen Grat zwischen lebensnotwendiger Anpassung und
Zerstörung des kindlichen Ichs. Die furchtbare zwischenmenschliche Kälte, die
systematische Zerstörung jedes Anflugs von natürlicher Solidarität, das
stumpfsinnige Leben zwischen Exerzierplatz, Schule und Schlafsaal in einer Art
Kokon, der allenfalls in den heiß ersehnten Ferien etwas aufbricht, all das
befremdet und erschüttert den Leser, weil es so gar nicht zu unseren
Vorstellungen von Kindheit passt. Offensichtlich war es dem Autor ein intensives
Anliegen, diese Art von Erziehung zu brandmarken und zu unterbinden. Zugleich
bietet der Roman eine interessante Studie über die Fähigkeit des Menschen,
insbesondere der Kinder, sich auch scheinbar unerträglichen Situationen
anzupassen, kleine Fluchten zu finden und einen sorgsam gehüteten Rest
Selbstachtung zu wahren, freilich zu einem hohen Preis.
Ottliks schlichter
und ungekünstelter, aber ausdrucksstarker Stil blieb in der vorzüglichen
Übersetzung erhalten und vermittelt zusammen mit dem tiefgründigen Inhalt und
der dramatischen Ausgestaltung einen Eindruck vom Potenzial dieses bedeutenden
ungarischen Schriftstellers, der allerdings im Westen kaum bekannt ist. Daher
ist zu begrüßen, dass dieser ungewöhnliche Roman in die Reihe "Literaturwunderland
Ungarn" aufgenommen wurde und der Autor dadurch auch einem deutschsprachigen
Leserkreis zugänglich wird.
(Regina Károlyi; 04/2006)
Géza Ottlik: "Die Weiterlebenden"
Aus dem Ungarischen von Éva Zádor.
Kortina Verlag,
2006. 204 Seiten.
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