Andreas Kossert: "Ostpreußen"

Geschichte und Mythos


Zeitgemäße moderne Darstellung der Geschichte Ostpreußens

Braucht es ein neues weiteres Buch über Ostpreußen? Seit Marion Gräfin Dönhoffs auf persönlichem Schicksal fußenden Klassikern "Kindheit in Ostpreußen" oder "Ritt durch Masuren. Aufgeschrieben 1941" gab es immer wieder Bücher, die sich mit Ostpreußen, Teilen davon oder seiner Hauptstadt Königsberg beschäftigt haben. Einige davon sind Reiseberichte aus der Nachkriegszeit mit dem Blick auf Vergangenes hinter dem Gegenwärtigen wie etwa Christian Graf von Krockows "Begegnung mit Ostpreußen" aus dem Jahre 1994 und Wolfgang Ignées "Masurische Momente" von 1986. Andere versuchen Ostpreußen und Königsberg dem Betrachter bildlich oder lexikalisch näher zu bringen über Fotobände oder ein "Königsberg Lexikon". Dazwischen steht ein "Merian"-Heft aus dem Juli 2004 mit dem Titel "Masuren. Danzig und die Ostseeküste". Eine letzte Kategorie schließlich, wie Andreas Kosserts 2001 erschienenes 448-seitiges und viel gelobtes Werk "Masuren. Ostpreußens vergessener Süden" und Jürgen Mantheys "Königsberg - Geschichte einer Weltbürgerrepublik", erschienen im März 2005, befasst sich geschichtlich und politologisch erheblich umfassender und vielschichtiger mit der Thematik. Hierzu zählt auch Andreas Kosserts im September 2005 erschienenes Buch. Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage lautet in seinem Falle: eindeutig ja.

Den meisten der vorgenannten Werke ist gemein, dass sie aus rein deutschem Sichtwinkel auf diese vormals deutsche Provinz blicken. Hiervon unterscheidet sich Kosserts neues Buch grundlegend; der Autor bezog in seine Betrachtungen auch polnische, litauische und russische Quellen ein. Dabei wird deutlich, dass Ostpreußen auch im kollektiven Gedächtnis dieser Nachbarvölker eine besondere Rolle spielt. Hören Polen und Litauer von Tannenberg - das polnische Grunwald und litauische Žalgiris - so denken sie in erster Linie an den polnisch-litauischen Triumph über den Deutschen Orden im Jahre 1410 und nicht wie die Deutschen an Hindenburgs Sieg in der Schlacht von 1914 gegen die russischen Armeen. Auf allen Seiten überwog eben bis 1989 eine einseitige, nationale Geschichtsschreibung. Nicht erst seit dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Annektionen, Gebietsabtretungen und -verschiebungen lag den Staaten an einer ideologisch motivierten Forschung, die der politischen Legitimation dienen sollte. Das deutsche Dilemma nach dem Krieg war, dass die Deutung ostpreußischer Geschichte vielfach der politischen Rechten überlassen wurde, die viele Aspekte der Vergangenheit verdrängte, während die Linke - wie selbst Günter Grass beklagt - jegliche Beschäftigung mit dem deutschen Osten für potenziell revanchistisch hielt. Hiervon hebt sich Kosserts Darstellung insoweit wohltuend ab, als sie Ostpreußen als wesentlichen Bestandteil deutscher wie auch europäischer Geschichte ansieht. Losgelöst von nationalen Deutungsmustern präsentiert der junge Autor ein vielschichtiges Land, das mit seiner Widersprüchlichkeit und seinem Facettenreichtum fasziniert.

So führt uns der 1970 geborene Historiker, Politologe und Slawist in 15 Kapiteln durch die wechselhafte Geschichte Ostpreußens, angefangen von seiner ersten Besiedelung durch die baltischen Pruzzen, die namengebend für das Land wurden, sich Ende des ersten Jahrtausends zunächst erfolgreich ersten Christianisierungsversuchen durch Adalbert von Prag widersetzten. Erfolgreicher war ab Mitte des 13. Jahrhunderts der vom polnischen Herzog Konrad von Masovien ins Land gerufene Deutsche Orden, dem zahlreiche Siedler folgten, die um die Burgen herum Städte wie Marienwerder und Elbing gründeten. Auch nach der Niederlage von Tannenberg 1410 gegen das polnisch-litauische Heer des litauischen Großfürsten und späteren polnischen König Jagiello war der Deutsche Orden für 300 Jahre die gestaltende Kraft in der Region. Der Dreizehnjährige Krieg, der für den Orden den Anfang vom Ende einläutete, endete 1466 mit dem polnischen Sieg. Im Zweiten Thorner Frieden wurden mit dem Ermland, Elbing und Marienwerder Teile des ostpreußischen Ordenslandes Polen zugesprochen, wodurch das ostmitteleuropäische Großreich Polen-Litauen Zugang zur Ostsee erhielt. In polnischen Romanen verdüsterte sich seit dieser Zeit das Bild vom Orden, den man als Verkörperung des deutschen "Drangs nach Osten" ansah, während der Ordensstaat zum Vorläufer des aggressiven, germanisierenden preußischen Staates wurde. Für die Deutschen dagegen wird der Orden zur ordnenden Größe, zum Bollwerk inmitten der slawischen Anarchie.

Aus dem ehemaligen Herzogtum Preußen (Land des Deutschen Ordens) Hervorgegangen, fiel Ostpreußen 1618 durch Nachfolgerecht an Brandenburg; durch den Frieden von Oliva wurde es aus polnischer Lehenshoheit entbunden. 1701 fand in Königsberg die Krönung des Kurfürsten Friedrich III. von Brandenburg zum König Friedrich I. in Preußen statt, dessen Königtum möglich war, weil Ostpreußen nicht zum Reichsverband gehörte. Anfang des 18. Jahrhunderts stark durch die Pest entvölkert, wurde Ostpreußen 1722-1740 von Friedrich Wilhelm I. durch Kolonisten aus der Schweiz, der Pfalz, Nassau und Salzburg neu besiedelt. Nach der 1. Teilung Polens 1772 wurde das Ermland eingegliedert. Nach dem Siebenjährigen Krieg und der russischen Besetzung Ostpreußens von 1758-62 nahm die ostpreußische Landwirtschaft einen starken Aufschwung. Königsberg wurde mit seiner Universität (Immanuel Kant) ein Mittelpunkt des deutschen Geisteslebens. 1812/13 begann in Ostpreußen unter Yorks Führung der Freiheitskampf gegen Napoleon. 1815 entstand die Provinz Ostpreußen, die 1824-78 mit Westpreußen zur Provinz Preußen vereinigt wurde.

1914/15 litt Ostpreußen durch den Einfall der Russen. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und dem Vertrag von Versailles musste das überwiegend von Polen bewohnte Gebiet um Soldau an Polen, das Memelland an die Alliierten abgetreten werden. Westpreußen östlich der Weichsel und Nogat kam als Regierungsbezirk zu Ostpreußen. Weitere Abtretungen wurden durch Volksabstimmungen vermieden. Da Ostpreußen aufgrund des neu geschaffenen polnischen Korridors vom übrigen Reich abgeschnitten und dadurch isoliert war, musste es mit der Osthilfe wirtschaftlich am Leben gehalten werden. 1939 wurde das Memelgebiet zurückgegliedert. Nach dem Einbruch der Sowjets im Herbst 1944 kam es schließlich zur Katastrophe, weil die Zivilbevölkerung nicht rechtzeitig evakuiert wurde. Sie erlitt hohe Verluste, man spricht von 614.000 Todesopfern. Im Potsdamer Abkommen Anfang August 1945 wurde der nördliche Teil unter sowjetische, der südliche unter polnische Verwaltung gestellt. Mit der Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages (12.9.1990) und seinem Inkrafttreten wurde der von der Potsdamer Konferenz geschaffene Zustand von allen Vertragspartnern als endgültig anerkannt.

Der Autor eröffnet dem bisher Unkundigen auf 395 Seiten einen neuen Blick auf Ostpreußen. So war diese Kulturlandschaft seit der Zeit des Deutschen Ordens Anfang des 13. Jahrhunderts keineswegs ausschließlich deutsch geprägt, sondern vom Süden her immer auch polnisch und - was oft vergessen wird - vom Norden her im Bereich des Memellandes auch litauisch. Das Zusammenleben multilingualer Menschen funktionierte in diesem multiethnischen Ostpreußen zu Zeiten preußischer Liberalität und Toleranz. Erst zur Bismarckzeit nach Gründung des Deutschen Reiches setzte eine Germanisierungspolitik ein, die alle nichtdeutschen Bevölkerungsteile zurückdrängen wollte. Wohin diese und erst recht jene Politik während der nationalsozialistischen Zeit führte sieht man recht gut, wenn man die instruktive Karte im vorderen Buchteil mit jener am Ende des Buches vergleicht.

Kosserts Schreibstil ist trotz aller aus zahlreichen Quellen gründlich recherchierter historischer Fakten und gelegentlicher Wahlstatistiken flüssig. Der Text wird immer wieder aufgelockert durch Zitate aus Gedichten, Briefen und zeitgenössischen Gesangbüchern sowie zahlreiche illustrative Schwarzweißabbildungen von Gemälden, Urkunden, Postkarten und Fotografien. So kann seit 1989 auf dem Theaterplatz der ehrwürdigen Stadt Memel wieder das berühmte "Ännchen von Tharau" bewundert werden, für das Simon Dach aus dem Königsberger Dichterkreis, einem Freundeskreis, den Günter Grass in seinem Roman "Das Treffen in Telgte" verewigte, im 17. Jahrhundert eines der schönsten Liebesgedichte der deutschen Literatur schrieb. An das Gemüt der Menschen, die ihre ostpreußische Heimat verloren haben, geht das ermländische Herz-Jesu- Lied:

Über Ermlands grünen Fluren,
Über unser Heimatland,
Über Samland und Masuren
und den weißen Ostseestrand,
über Haff und grünen Seen
glänzt unendlich mild und rein,
über Niederungen hin und Höhen,
einer Gottesflamme Schein ...

Fazit: Wer sich umfassend über die wechselhafte Geschichte Ostpreußens informieren will, ist mit dem trotz akribischer Recherche gut lesbaren Buch bestens bedient. Entstanden ist ein umfassendes Werk über Ostpreußen, das seinesgleichen sucht. Kossert hat einen Meilenstein gesetzt, an dem kein anderer Autor zukünftig unbeeindruckt vorbeigehen kann. Den positiven Gesamteindruck rundet der geschmackvolle Schutzeinband mit Motiven Königsbergs und der Niddener Düne ab.

(Dr. Matthias Korner; 03/2006)


Andreas Kossert: "Ostpreußen"
Siedler Verlag, 2005. 395 Seiten, 40 Abbildungen.
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Andreas Kossert, geboren 1970, studierte in Deutschland, Schottland und Polen Geschichte, Slawistik und Politik. Der promovierte Historiker arbeitet heute am Deutschen Historischen Institut in Warschau. 2001 erschien bei Siedler sein viel gelobtes Buch "Masuren. Ostpreußens vergessener Süden":

"Masuren. Ostpreußens vergessener Süden"
Früher wurde Masuren als das Land der dunklen Wälder und der kristallenen Seen besungen und vielfach romantisch verklärt, heute erweist sich die Region zunehmend als Touristenmagnet. Ihre Geschichte ist im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit vor allem mit dem Konflikt zwischen Deutschen und Polen, mit Krieg, Vertreibung und Aussiedlung verbunden. Noch 1870 sah der preußische Historiker Max Toeppen in der Geschichte Masurens den "Gegensatz und die Versöhnung" zwischen Deutschen und Polen dokumentiert. Masuren mit seiner spezifischen ethnischen Struktur hätte in der Tat eine Brücke zwischen deutscher und polnischer Kultur bilden können. "Damit fortan keine Nationalität erlösche", so unterband der preußische König Friedrich Wilhelm IV. die ersten Germanisierungsmaßnahmen seiner Behörden in Masuren. Jahrhunderte lang lebten polnischsprachige Masuren unter der Krone des Schwarzen Adlers. Bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein führte die ländliche Bevölkerung von Masuren ein Leben an der Peripherie der großen politischen Ereignisse. Preußen ermöglichte eine sprachliche und kulturelle Vielfalt, die jedoch spätestens mit der Reichsgründung einer auf kompromisslose Assimilierung bedachten Deutschtumspolitik wich. Der Autor beleuchtet den nach 1871 entstandenen Konflikt um die ethnische und nationale Zugehörigkeit der Masuren. Deren regionale Sonderrolle "im Rücken der Geschichte" war sowohl den deutschen als auch den polnischen Nationalisten ein Dorn im Auge. Beide Seiten strebten danach, die Masuren für ihre jeweilige nationale Geschichte zu vereinnahmen. Dieses Buch erzählt vom historischen und kulturellen Erbe einer Grenzlandschaft und ihrer Menschen, von der masurischen Sprache, dem harten Lebensalltag der Bauern, ihrem Los während der zahllosen Kriege.
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Zwei weitere Buchtipps:

Christian Graf von Krockow: "Begegnung mit Ostpreußen"

Nach der "Reise nach Pommern" und den "Fahrten durch die Mark Brandenburg" ist dies der letzte Band der Trilogie über die altpreußischen Kernlande. Graf von Krockow hat Ostpreußen im Sommer und Winter besucht, hat die Schönheiten der Landschaft kennen gelernt, ist den Menschen begegnet, hat hinter dem Gegenwärtigen die Vergangenheit aufgespürt.
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Ulla Lachauer: "Ostpreußische Lebensläufe"
Sie lebten in Memel oder Tilsit, in Masuren oder im Landkreis Gumbinnen und auf der Kurischen Nehrung. Flucht und Vertreibung als Folgen des Zweiten Weltkriegs haben sie in den Westen und Osten Deutschlands gebracht, auf den amerikanischen Kontinent, nach Israel und, als Gefangene, auch in die Lager Stalins. Trauma Vertreibung und die Chance zum Neubeginn: Ulla Lachauer porträtiert behutsam Menschen, die aus ihrer Heimat Ostpreußen fliehen mussten. Neben den sehr persönlichen Schilderungen öffnen diese Biografien zugleich den Blick für das Trauma, die Heimat zu verlieren, und für die Chancen und die Fähigkeit, in der Fremde wieder Fuß zu fassen. (Rowohlt)
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