Albert Ostermaier: "Polar"

Gedichte


Erzählpoeme oder Prosaminiaturen

Der Lyriker und Dramatiker (Jg. 1967) legt hier einen Gedichtband vor, welcher eine Hommage an das französische Kino der 60er und 70er Jahre darstellen soll - den 'film noir', der weniger durch Handlung als durch Atmosphäre zu charakterisieren wäre.
Ostermaier spürt dem nach, "welche Abdrücke sie in unseren Empfindungen hinterlassen" (vgl. Klappentext).

In seinem Nachwort weist Michael Asthen darauf hin, dass der Begriff "Polar" diesen typischen französischen Film bezeichnet, "welcher die Welt in einem bestimmten kalten Licht erscheinen lässt, das den Menschen, Beziehungen und Dingen eisig scharfe Konturen verleiht." Der Band hat im übrigen vier Teile, die Gedichte tragen allesamt französische Titel.

Lange fließende Erzählpoeme wechseln ab mit wenigen (reimlosen) Sonetten - ketzerisch argumentiert könnte man diese Langgedichte genausogut in Prosa umschreiben, ohne den Wortlaut oder die Syntax wesentlich ändern zu müssen - womöglich handelt es sich also um gestreckte Prosaminiaturen. Situationsanklänge wechseln mit Impressionen mit Assoziationen mit Bildern mit Reflexionen. Es kommt uns vor, als charakterisiere der Autor sich selbst in einer Zeile: "sein kopf voller bilder und drinks" - da beobachtet einer und erinnert sich - versucht aus Fragmenten sein Leben zurückzuübersetzen.

Wiederholte Male wird die Liebe beschworen, es ist jemand unterwegs im Auto, oder wir irren durch die Großstadt. Und wenn wir noch die öfter erwähnte Zigarette dazudenken, dann ist die typische französische melancholische Atmosphäre tatsächlich erschaffen: "es gibt keine liebe die einen nicht quält."

Und man merkt, es geht ums Leben, welches selten extrem ist, selten Glück verspricht: "man hat es eilig mit dem leben und der tod zahlt aus in bar." Bei den wenigen sich wiederholenden Leid-Motiven kommt einem eine Formulierung programmatisch vor: "es ist alles nur zufall und / das fallen ist ein echo im kopf / das nicht zurückfindet." Und der Tod gehört so selbstverständlich dazu, dass er überhaupt nicht stört: "es ist ein gewinn über / den tod zu sprechen er ist dein / kapital." Ob es ein Gewinn ist, Ostermaier zu lesen, muss jeder selbst herausfinden - hier schreibt sozusagen ein (deutscher) Dichter (französisch)-existenzialistische (us-amerikanisch-stämmige) Beatlyrik - spannend ist das allemal.

(KS; 09/2006)


Albert Ostermaier: "Polar"
Suhrkamp, 2006. 142 Seiten.
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Albert Ostermaier, geboren 1967, studierte Germanistik und wurde Mitte der 1990er Jahre als Lyriker und Dramatiker bekannt. Er lebt in München.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Autokino. Gedichte"
Autokinos liegen an der Peripherie, wo die Straßen und Geschichten enden, sie sind Grenzstationen, an denen Wirklichkeit und Illusion, Enge und Weite ineinanderfließen. Die Motoren sterben ab, doch die Bilder beginnen zu laufen und verbrennen den Treibstoff der Träume. Menschen sitzen hinter Windschutzscheiben, während vor ihren Augen die Geschichten ablaufen: auf der Leinwand wie im Rückspiegel, dessen Reflexe das eigene Gesicht fremd werden lassen. Und sie ahnen: Die Dinge, die du siehst, sind näher, als du glaubst. Albert Ostermaiers Gedichte erzählen von Momenten, da die Filme reißen, von Orten, wo die Rollen wechseln, von Schnitten ins Bewusstsein und vom Aufblenden der Hoffnungen vor dem Abspann. Sie drehen sich im Wendekreis des Tachos, beschleunigen aus dem Stillstand der Verhältnisse ins Tempo der Veränderung, vom Stau der Gefühle in den Geschwindigkeitsrausch der Sinne: "ein gedicht beginnt in der lobby eines hotels und endet mit der wimper auf einem kotflügel." Und wenn alles gutgeht, die Autos in der nächsten Nacht auf ihre Plätze zurückkehren, die Scheinwerferaugen sich schließen und die Leinwand zu leuchten beginnt, dann ist "das leben ein kleiner billiger film den du nicht mehr nachsynchronisieren mußt". (Suhrkamp)
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"Solarplexus. Gedichte"

Der Solarplexus ist eine Verdichtung von Nervenzellen, ein Geflecht unter der Haut, das über Nervenfasern ankommende Signale aufnimmt, verstärkt und weiterleitet. Ostermaiers Gedichte zielen ins Innerste, ihr Rhythmus folgt dem Druckreflex, der Beschleunigung des Herzens, der Atemnot, wenn das Blut sich in den Gefäßen staut.
Der Ort dieser Gedichte sind die Peripherien, die Wüsten am Rand der Städte, der Blick, der sich in die Netzhaut einbrennt, bevor er sich verliert. Sie erzählen vom Stillstand vor der Verletzung, vom Horizont, der sich mit den Wünschen immer weiter entfernt. Die Menschen in ihnen überfällt immer wieder eine politische Lust zu lieben, den innersten Reflex gegen die äußerste Starre zu setzen.
Ostermaiers Gedichte sind auf der Suche. Eine Suche, die dort anfängt, wo die Nerven blank liegen, bis sie sich als Zeilen erneut verbinden und zu pulsieren beginnen. (Suhrkamp)
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"Schwarze Sonne scheine" zur Rezension ...